Karlsruhe/Duisburg,
5. Juli
2023 -
Mit Beschluss vom heutigen Tage hat der Zweite
Senat des Bundesverfassungsgerichts dem Deutschen
Bundestag aufgegeben, die zweite und dritte Lesung
zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur „Änderung
des Gebäudeenergiegesetzes und zur Änderung der
Kehr- und Überprüfungsordnung“ (im Folgenden:
Gebäudeenergiegesetz) nicht innerhalb der laufenden
Sitzungswoche durchzuführen. Der Antragsteller, ein
Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen
Bundestag, sieht sich durch das
Gesetzgebungsverfahren in seinen Rechten als
Mitglied des Deutschen Bundestages verletzt.
Sein Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung hat in der Sache Erfolg. Der
Hauptsacheantrag im Organstreitverfahren erscheint
jedenfalls mit Blick auf das Recht des
Antragstellers auf gleichberechtigte Teilhabe an der
parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1
Satz 2 des Grundgesetzes (GG) weder von vornherein
unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die
demgemäß vom Bundesverfassungsgericht vorzunehmende
Folgenabwägung führt zu dem Ergebnis, dass die für
den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden
Gründe überwiegen. Unter den besonderen Umständen
des Einzelfalls überwiegt das Interesse an der
Vermeidung einer irreversiblen Verletzung der
Beteiligungsrechte des Antragstellers aus Art. 38
Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber dem Eingriff in die
Verfahrensautonomie des Deutschen Bundestages, der
die Umsetzung des Gesetzgebungsverfahrens lediglich
verzögert. Die Entscheidung ist mit 5:2 Stimmen
ergangen.
Wesentliche
Erwägungen der Kammer: Der Antrag auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32
BVerfGG hat überwiegend Erfolg. I. Der Antrag auf
Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.
Durch eine einstweilige Anordnung darf die
Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen
werden. Eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache
ist anzunehmen, wenn der beantragte Inhalt der
einstweiligen Anordnung und das Rechtsschutzziel in
der Hauptsache, wenn nicht deckungsgleich, so doch
zumindest vergleichbar sind. Hieran gemessen begehrt
der Antragsteller mit dem Eilantrag keine
unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache.
Der
Erlass der einstweiligen Anordnung hat zwar zur
Folge, dass der Entwurf des Gebäudeenergiegesetzes
in der laufenden Sitzungswoche nicht in zweiter und
dritter Lesung beraten und beschlossen werden kann.
Damit wird aber nicht zugleich über den
weitergehenden Feststellungsantrag in der Hauptsache
entschieden und insbesondere keine erst dort zu
prüfende Verletzung der Abgeordnetenrechte des
Antragstellers festgestellt.
II. Der Antrag
auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch
begründet. 1. Der Antrag im Organstreit erscheint
zum derzeitigen Zeitpunkt jedenfalls mit Blick auf
das Recht des Antragstellers auf gleichberechtigte
Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung aus
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG weder von vornherein
unzulässig noch offensichtlich unbegründet. a)
Insbesondere kann nicht ausgeschlossen werden, dass
die Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens
einschließlich der Terminierung der zweiten und
dritten Lesung des Gesetzentwurfs im Deutschen
Bundestag einen statthaften Antragsgegenstand
bildet. Dass die Ausgestaltung eines
Gesetzgebungsverfahrens in seiner Gesamtheit
möglicherweise die Beteiligungsrechte des einzelnen
Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzen
und damit tauglicher Gegenstand eines Organstreits
sein kann, liegt ungeachtet der Frage, ob einzelne
Akte in diesem Verfahren nur vorbereitenden
Charakter haben, auf der Hand. b) Der Antrag im
Organstreit ist zum derzeitigen Zeitpunkt nicht
offensichtlich unbegründet. aa) Art. 38 Abs. 1
Satz 2 GG garantiert den Status der Gleichheit der
Abgeordneten in einem formellen und umfassenden
Sinn. Danach sind alle Abgeordneten berufen,
gleichermaßen an der parlamentarischen
Willensbildung mitzuwirken. Den Abgeordneten steht
nicht nur das Recht zu, im Deutschen Bundestag
abzustimmen, sondern auch das Recht zu beraten. Dies
setzt eine hinreichende Information über den
Beratungsgegenstand voraus. Die Abgeordneten müssen
dabei Informationen nicht nur erlangen, sondern
diese auch verarbeiten können. Welche Bindungen sich
aus dem Grundsatz der gleichberechtigten Teilhabe
der Abgeordneten an der parlamentarischen
Willensbildung für die Ausgestaltung von
Gesetzgebungsverfahren ergeben, hat der Senat bisher
nicht entschieden. Zwar ist es der
Parlamentsmehrheit (Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG)
grundsätzlich vorbehalten, die Prioritäten und
Abläufe bei der Bearbeitung von
Gesetzgebungsverfahren zu bestimmen. Auch wenn ihr
dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht,
spricht einiges dafür, dass die Verfahrensautonomie
die Parlamentsmehrheit nicht von der Beachtung des
durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG garantierten Status
der Gleichheit der Abgeordneten entbindet und das
Abgeordnetenrecht verletzt wird, wenn es bei der
Gestaltung von Gesetzgebungsverfahren ohne
sachlichen Grund gänzlich oder in substantiellem
Umfang missachtet wird. bb) Hieran gemessen ist
der Antrag auf Feststellung einer Verletzung der
Beteiligungsrechte des Antragstellers aus Art. 38
Abs. 1 Satz 2 GG nicht offensichtlich unbegründet.
Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens erscheint
offen. Aufgrund der besonderen Umstände bei der
Durchführung des streitgegenständlichen
Gesetzgebungsverfahrens bedarf die Frage, ob die
Wahrnehmung der Verfahrensautonomie der
Parlamentsmehrheit vorliegend in ausreichendem
Umfang den verfassungsrechtlich garantierten
Beteiligungsrechten des Antragstellers Rechnung
getragen hat, eingehender Prüfung.
Der
Antragsgegner selbst räumt eine erhebliche
Verdichtung der zeitlichen Abläufe und eine „nicht
geringe Komplexität“ des Beratungsgegenstandes ein.
Auch wenn der Parlamentsmehrheit bei der Gestaltung
der Verfahrungsabläufe ein verfassungsrechtlich
garantierter weiter Gestaltungsspielraum zukommt und
bei dem dargestellten Geschehensablauf die Fristen,
die die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
für die zweite Beratung eines Gesetzentwurfs
vorsieht (§ 81 Abs. 1 Satz 2 GO-BT), gewahrt worden
sein dürften, bedarf es näherer, im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren nicht leistbarer Prüfung, ob
die Beteiligungsrechte des Antragstellers vorliegend
ohne ausreichenden sachlichen Grund in
substantiellem Umfang beeinträchtigt wurden und sich
die durch die Parlamentsmehrheit gewählte
Verfahrensgestaltung als eine rechtsmissbräuchliche
Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens
darstellt. 2. Entgegen der Auffassung des
Antragsgegners ist vorliegend für eine summarische
Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache kein
Raum. Kann nicht festgestellt werden, dass sich der
in der Hauptsache gestellte Antrag von vornherein
als unzulässig oder offensichtlich unbegründet
erweist, oder kann das Bundesverfassungsgericht die
Hauptsache nicht so rechtzeitig entscheiden, dass
hierdurch die absehbaren schweren Nachteile
vermieden werden, kann die einstweilige Anordnung
gerade – wie hier – deshalb nötig werden, weil dem
Gericht die erforderliche Zeit für eine
gewissenhafte (wenn auch nur summarische) Prüfung
der Rechtsfragen fehlt, die für die Entscheidung der
Hauptsache erheblich sind. 3. Die demgemäß vom
Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Entscheidung
nach § 32 Abs. 1 BVerfGG vorzunehmende
Folgenabwägung führt zu dem Ergebnis, dass die für
den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden
Gründe überwiegen. a) Erginge die einstweilige
Anordnung und bliebe dem Antrag in der Hauptsache
der Erfolg versagt, käme es zu einem erheblichen
Eingriff in die Autonomie des Parlaments
beziehungsweise der Parlamentsmehrheit und damit in
die originäre Zuständigkeit eines anderen obersten
Verfassungsorgans. Von einem solchen Eingriff ist im
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
grundsätzlich abzusehen. In der vorliegenden
Konstellation ist allerdings zu berücksichtigen,
dass die Verabschiedung des Gebäudeenergiegesetzes
zu einem sein Inkrafttreten ab dem 1. Januar 2024
nicht berührenden Zeitpunkt ohne Weiteres möglich
bliebe. Insoweit weist der Antragsteller darauf hin,
dass der Antragsgegner noch für den laufenden
Kalendermonat eine Sondersitzung des Deutschen
Bundestages anberaumen könnte. Soweit der
Antragsgegner darauf abstellt, dass bei einer
Absetzung der Lesungen von der Tagesordnung in
dieser Sitzungswoche eine Verabschiedung durch den
Bundesrat und damit ein Abschluss des
Gesetzgebungsverfahrens erst anlässlich der nächsten
regulären Sitzung des Bundesrates Ende September
möglich sei, übergeht er, dass der Präsident des
Bundesrats zu dessen Einberufung verpflichtet ist,
wenn die Bundesregierung dies verlangt. b)
Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätte
der Antrag in der Hauptsache (jedenfalls)
hinsichtlich des geltend gemachten Rechts auf
gleichberechtigte Teilhabe des Antragstellers an der
parlamentarischen Willensbildung Erfolg, käme es zu
einer irreversiblen, substantiellen Verletzung
dieses Rechts. Dem Antragsteller wäre
unwiederbringlich die Möglichkeit genommen, bei den
Beratungen und der Beschlussfassung über das
Gebäudeenergiegesetz seine Mitwirkungsrechte in dem
verfassungsrechtlich garantierten Umfang
wahrzunehmen. Die irreversible und substantielle
Verletzung seiner Beteiligungsrechte wirkt sich im
Verhältnis zwischen den Verfassungsorganen zu Lasten
des Parlaments und seiner Autonomie aus. Etwas
Anderes folgt entgegen der Auffassung des
Antragsgegners auch nicht aus dem Umstand, dass ein
Erfolg in der Hauptsache möglicherweise positive
Auswirkungen auf die Ausgestaltung künftiger
Gesetzgebungsverfahren hätte. c) Der Senat weicht
mit der einstweiligen Anordnung von dem Antrag des
Antragstellers ab, um die nach der Folgenabwägung
betroffenen Rechte zu einem angemessenen Ausgleich
zu bringen. Hierbei berücksichtigt der Senat
insbesondere, dass der Eingriff in die Autonomie des
Parlaments über die Bestimmung seiner
Verfahrensabläufe so gering wie möglich zu halten
ist und der Antragsgegner die weitere Terminierung
der Verfahrensschritte des vorliegend in Streit
stehenden Gesetzgebungsverfahrens unter Beachtung
der hier in die Folgenabwägung eingestellten Rechte
vornehmen wird.
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