Chronik
von Neudorf
Herausgegeben aus Anlaß des
50-jährigen Bestehens des „Neudorfer Bürgervereins von 1908 .
V.“
Die
Geschichte des Stadtteils Neudorf
Für die heutigen Neudorfer
erzählt von Franz Bültjes

Im Jahre 1970 kann Neudorf auf
ein zweihundertjähriges Bestehen zurückblicken. Neudorf ist also
erheblich jünger, als der benachbarte Stadtteil Duissern, der
überhaupt der älteste Teil der Stadt Duisburg ist, von ihm aus
ist die Stadt Duisburg erst geworden.
Und doch hat unser Stadtteil
Neudorf eine reiche Geschichte.
Noch vor
zweihundert Jahren lag hier innerhalb der Landwehr ein großes
Wald- und Heidegebiet. Die Landwehr zog sich ungefähr vom
Hochfelder Bahnhof über den Musfeldhof und den Grunewald, an der
Ostseite der Grabenstraße bis zur Mülheimer Straße hin. Das
Kuhtor war von Neudorf aus der Zugang in das Stadtinnere, das
von Stadtmauern umgeben war. Von der Mülheimer Straße lief die
Landwehr die Schweizer Straße entlang am Schnabelhuck vorbei zur
Ruhr.
Die Landwehr hatte den Zweck,
die im Wald lebenden wilden Tiere, namentlich auch die wilden
Pferde, aus der Feldmark fernzuhalten. So war auch die obere
Aue, in der der Kolkmanns- und Monningshof lagen, durch eine
Landwehr vom Walde abgetrennt.
In früheren Zeiten zog sich
zwischen dem Dickelsbach und dem Rhein durch Hochfeld eine
Landwehr hin, die nicht weit vom Musfeldhof beginnend bis in die
Gegend der jetzigen Rheinfront lag, um auch dort das mit Wald
bedeckte Rheinufer von dem Ackerland zu trennen.
Dieser Wald war so reich mit
Bäumen bewachsen, daß die Franzosen im siebenjährigen Krieg
daraus einige tausend Eichenbäume nach Düsseldorf holten. Diese
Eichen lieferten aber auch die Mast für 3000 bis 4000 Schweine.
Nach dem siebenjährigen Kriege
war Preußen fast an den Rand des Ruins. Der Krieg hatte in
Preußen unheilvolle Spuren hinterlassen, und Friedrich der Große
ging nun daran, seinem Land wieder Ruhe und Frieden zu schaffen!
„Die Ruhe des Friedens“, so schrieb der große König nach
Beendigung des siebenjährigen Krieges selbst, „war für Preußen
nötiger als für die übrigen kriegführenden Staaten, weil es fast
allein die Last des Krieges getragen. Es glich einem Menschen,
der von Wunden zerrissen, von Blutverlust erschöpft und in
Gefahr war, unter dem Druck seiner Leiden zu erliegen, der Staat
bedurfte einer Leitung, die ihm Erholung gab, stärkender Mittel,
um ihm eine Spannkraft wiederzugeben, Balsam, um seine Wunden zu
heilen. Der Adel war erschöpft, die kleinen Leute ruiniert, eine
Menge von Ortschaften verbrannt, viele Städte zerstört, eine
vollkommene Anarchie hatte die Ordnung der Polizei und Regierung
umgeworfen, die Finanzen waren in größter Verwirrung, mit einem
Worte: die allgemeine Verwüstung was groß.“

Plan Neudorf 1850
Was der große König hier ganz
offen schreibt, schildert mit wenigen Worten die allgemeine
Situation im alten Preußenland. Dabei hatte das platte Land am
meisten unter der Geißel des Krieges gelitten. Da der König sich
gezwungen sah, die Lücken in seinem Heer durch Knaben von 14 und
15 Jahren aufzufüllen, fehlte es an Arbeitskräften. Auf dem
Lande betrieben nur noch Frauen und Greise den Feld- und
Ackerbau. Mit 2½ Millionen Einwohnern hatte Friedrich seine
Regierung angetreten, ½ Million, also 1/5 davon, hatte der
siebenjährige Krieg verschlungen. Darum war es die größte Sorge
des Königs, sein Land wieder zu bevölkern.
Im Archiv der Stadt Duisburg
befinden sich viele Urkunden, die Auskunft darüber geben, wie
Kolonisten nach Duisburg kamen. Bei der Durchsicht dieser
Urkunden fanden wir ein Reskript vom 24. Dezember 1767, in dem
der Magistrat der Stadt Duisburg von der Königlichen Kriegs- und
Domänenkammer in Kleve daran erinnert wird, Unternehmen
ausfindig zu machen, wie das Gebiet von ca. 60 Morgen Land auf
der Duisburger Heide urbar gemacht werden kann.
Unter dem 21. August 1769 wird
ein eingehender Bericht darüber angefordert, wie das Unternehmen
ausgeführt werden kann. Es sollten Unternehmer gesucht werden,
die das Unternehmen durchführen könnten.
„Bei weiterer
Widerspenstigkeit (der Waldbeerbten) solle höheren Orts
Bestrafung beantragt werden. Es solle unverzüglich an die
Kolonisierung herangetreten werden.“
Unter dem 5. Oktober wird
angekündigt, daß vom Oberrhein die Kolonisten kommen würden. In
Duissern hatten sich um die gleiche Zeit der Schmied Heinrich
Portmann und der Böhme Peter Eter angesiedelt. In einer späteren
Schrift wird dann aber erklärt, daß Eter nicht aus Böhmen
stamme, sondern aus Bayern.
Im Stadtarchiv
befindet sich eine Urkunde, datiert.
Berlin, 26. Febr. 1770, und
vom König Friedrich II. selbst unterzeichnet, in der es u.a.
heißt:
„So haben höchstderselbe Sr.
Königl. Majestät zu vörderst versichert, der Deputation, die
sich in hiesige Lande begeben wolle . . . ihnen höchst dieselbe
ihren insgesamt dieserhalben dero Huld und Königlichen Schutzes
mit dem Beyfügen, daß sie als getreue Unterthanen gut
aufgenommen werden und in allen billigen Dingen Hülfe und
Unterstützung finden sollen.“
Es hat aber der
nachdrücklichen Belehrung und Aufforderung der Königl. Kriegs-
und Domänen-Kammer in Kleve bedurft, um den Magistrat auf den
ernsten Willen des Königs aufmerksam zu machen, daß man die
Kolonisten gut aufnehmen und sie weitgehend unterstützen müsse.
So wird der Magistrat der Stadt Duisburg unter dem 15. April
1770 darauf hingewiesen, daß man solche Kolonisten nicht gut
behandelt und den Königlichen Willen nicht respektiert habe. Der
Magistrat wird daher angewiesen, die Kolonisten sofort in Arbeit
zu setzen, damit sie etwas verdienen. Es waren nämlich drei
Kolonisten nach kurzem Aufenthalt in Duisburg wieder abgereist.
Der damalige Bürgermeister Wintgens bemerkt auf diesem
Schreiben, daß den drei abgegangenen Kolonisten es nicht an
Arbeit gefehlt habe. Man wolle künftig es aber an nichts
ermangeln lassen, um die Kolonisten in Duisburg zu behalten.
Am 30. Mai des Jahres 1770
kamen dann 14 Darmstädtische Familien in Duisburg an. Es wird
hierbei bemerkt, daß einer derselben, Johs. Roth, gleich
gestorben sei.
Die Kolonisten wurden
vorläufig im Ratsdorf Duissern untergebracht, einige in der
Stadt selbst. Die „Mietsherren“ erhielten das Schlafgeld von dem
Magistrat erstattet. Sie wurden sogleich angewiesen, die Heide
in Neudorf urbar zu machen, mussten sich ein Haus bauen (wozu
ihnen Holz aus dem Duisburger Walde zur Verfügung gestellt
wurde), sie mussten ihr Alter nachweisen und ihre
Vermögensverhältnisse klarlegen. Es wird dann noch vermerkt, daß
66 Personen vom 1. Juni 1770 bis Jakobi 1771 (d. i. 1. Mai)
täglich 2 ggr. oder 5 stbr. Jahresgeld bzw. Baugeld erhalten
sollen. „Den Fleißigen wird Geld zu einer Kuh gegeben.“
Die Kolonisten mußten einen
guten Leumund haben. Müßiggänger und Trunkenbolde wurden
abgewiesen.
Als im Jahre 1770 die
Kolonisten sich „op de Heid“ ansiedelten, war Duisburg
noch eine kleine Stadt mit noch nicht 4000 Einwohnern, die
vorwiegend Ackerbau betrieben. Daneben versprach die
Börtschiffahrt einen bescheidenen Wohlstand für die Stadt.
Aus den im Stadtarchiv
befindlichen Urkunden ergibt sich, daß es nicht leicht war, die
Kolonisten nach dem Willen des Königs auf der Heide in Duisburg
anzusiedeln. Es gab erhebliche Widerstände zu überwinden
gegenüber den Protesten der Waldbeerbten, die durch die
Kolonisierung sich in ihren alterworbenen Rechten geschmälert
fühlten. Aber von Wesel aus ergingen immer wieder die bestimmten
Anordnungen an den Magistrat der Stadt, und dieser tat dann das,
was ihm sehr klar befohlen wurde. Wie sich die Sache dann
entwickelte, das schildert in seiner Chronik „Versuch einer
Chronik der Stadt Duisburg am Rhein“ der Verfasser, Dr. August
Christian Vorheck, seines Amtes „ordentlicher Professor der
Geschichte und Beredsamkeit bei der Duisburger Universität“ im
Jahre 1800:
„Die Heide, die vor Duisburg
bisher wüste gelegen hatte, wurde ums Jahr 1770 durch eine
Kolonie urbar gemacht, welche die Königl. Kriegs- und
Domänen-Kammer auf königlichen Befehl darauf anlegen ließ. Die
Anbauer kamen aus dem Reiche, erhielten eine gewisse Morgenzahl
Land angewiesen und fünfzehn Freijahre, die nach ihrem Ablaufe
erst auf fünf, dann noch auf drei verlängert wurden. Zwölf
Kolonistenfamilien (die Urkunden selbst sprechen von 14
Kolonisten) wohnen seitdem (1800!) noch auf dieser Heide in dem
Dörfchen Neudorf, die ihre Äcker noch zehntfrei besitzen, und
seit Ablauf aller Freijahre nur ein geringes Tobaks- und
Werbegeld und eine kleine Abgabe von ihrem Acker an die Stadt
entrichten.“
35 Stüber je Morgen waren halb
an die Stadt, halb an die Waldkasse zu zahlen.
Wer waren nun diese
Kolonistenfamilien, die im Jahre 1770 nach Neudorf kamen? und
woher kamen sie?
Die Kolonisten kamen aus
Hessen und der Pfalz. Nach Professor Averdunk hatten mehrere von
ihnen als Lutheraner wegen ihrer Religions-Ausübung die
bisherige Heimat verlassen müssen. (Aus den Unterlagen im Archiv
ergibt sich aber, daß einige auch katholisch waren.) Das klingt
auch aus den Versen heraus, die der damalige Kandidat der
Theologie, J. H. E. Nonne (übrigens auch der Dichter des Liedes
„Flamme empor“), in seinen poetischen „Wanderungen durch
Duisburgs Fluren“, die im Jahre 1808 erschienen sind,
niederschrieb:
„Da glänzt ein
friedlich Dach; hier wieder eins.
Ich eil hinzu und
sieh ein kleines Dorf
Begrüßet mich. Hier
siedelte sich einst
Ein kleines Häuflein
guter Menschen an.
Vertrieben aus der
heimatlichen Flur
Fand hier ihr Herz
ein zweites Vaterland.
(Des Rheinlands)
Himmel lächelt ihnen zu
Und tröstet sie,
wenn die Erinnerung
Ans Vaterland, den
heimatlichen Herd,
Und alle Freuden
ihrer Jugendzeit
Vor ihre Seele
zaubert, wenn ihr Herz
In der Vergangenheit
Gefilde blickt,
Und eine Träne in
dem Auge bebt.
Gerührt nahm
Preußens großer Friedrich
Sie unter seinem
mächtigen Zepter auf,
Hier fanden sie den
väterlichen Herd
Die süße Heimat
wieder und die Flur,
Auf der sie einst
der Kindheit Traum geträumt.
Sie siedelten sich
an und nannten dann
Den kleinen Weiler,
den sie sich erbaut,
Dem großen Mann zu
Ehren Friedrichsdorf.
Das war also die Gründung von
Friedrichsdorf, wie der Stadtteil Neudorf zuerst genannt wurde.
Und wie hießen die ersten Kolonisten? Auch ihre Namen sind uns
erhalten geblieben, die am 30. Mai 1770 sich auf der Heide
ansiedelten. Es waren:
Valentin
Fischer, Philipp Langen, Niklas und Peter Kautzmann, Hermann
Friedrichs, Johann Müller, Johann Becker, Barthel Ochs,
Peter Träger (oder Dräger), Joh. Georg Tilemann
(Tillmann?), Christoph Schneider und Philipp Delp.
Im Jahre
1778 kam aus der Grafschaft Moers ein Kolonist mit Namen Bütefür
hinzu, der den Anteil des Kolonisten Träger übernommen hatte.
54 holländische
Morgen Heidegut wurden den Kolonisten zugewiesen (1 holl. Morgen
gleich 600 holl. Ruten oder 625 rheinische Ruten. Ein Morgen
umfaßte ursprünglich soviel Ackerland, wie man mit einem Gespann
an einem Morgen umzupflügen vermochte), die sie unter sich
verteilten, so daß 6 je ungefähr 6 Morgen, 6 je drei Morgen
erhielten. Jeder Kolonist mußte auf seinem Land nun ein Haus
erbauen, den Acker mußte er urbar machen und der wilden Pferde
wegen mit Wall und Graben umgeben.
Die Kolonisten „op de Heid“
erwiesen sich als fleißige und tüchtige Menschen, die der
gesamten Stadt zur Ehre gereichten. Schon nach drei Jahren
hatten die Ansiedler 4 Pferde, 4 Ochsen, 25 Kühe und 16 Rinder.
58 Morgen waren schon in Ackerland verwandelt und mit Roggen,
Kartoffeln und Buchweizen bestellt. Da auch später sich
Einheimische zu den fremden Siedlern gesellten, zählte die
Siedlung im Jahre 1798 schon 146 Seelen. Im Jahre 1799 erhielt
sie den Namen Neudorf.
Mit dem Wachsen der Stadt
Duisburg wuchs auch der Stadtteil Neudorf immer mit. Aus den
4.000 Einwohnern der Stadt Duisburg im Jahre 1770 wurden im
Jahre 1828 schon über 7.000, 1863 waren es schon 20.150, 1870
bereits 28.685. Als in diesem Jahre die Kolonie Neudorf ihr
hundertjähriges Bestehen feierte – genau vier Wochen vor
Ausbruch des deutsch-französischen Krieges – da feierte die
ganze Stadt Duisburg mit. Solch hohes Ansehen hatten sich die
Ansiedler „Op de Heid“ bereits in der ganzen Stadt erworben.
Das ehemalige Bauerndorf
Neudorf wuchs immer mehr und immer näher an die Stadt Duisburg
heran. Heute ist es mit rund 44.000 Einwohnern fast ein reines
Wohngebiet der Gesamtstadt Duisburg und diesseits der Ruhr der
größte Stadtteil mit bedeutsamen Bauten und nunmehr auch mit
einem attraktiven Gesicht an seiner meistbegangenen Stelle: der
alten Neudorfer Straße. |