Von Harald Jeschke und
Hans-Willi Bütefür
Vor rund 50 Jahren war einiges anders in Neudorf.
Irgendwie logisch. Aber beileibe nicht besser, wie die vielen
Behauptungen „Ach, das waren noch Zeiten!“ glauben machen
sollen. Gute Zeiten? Bessere? Das ist wie immer eine subjektive
Sache. Aber aus der Sicht des Chronisten sah es wie folgt aus in
Neudorf.
Auf dem Sternbuschweg war der Kohlen geschwärzte
Brennstoffhändler Erker mit Kohlen austragen beschäftigt, in den
Wintertagen war die Luft voll vom Rauch aus den Kaminen der
Haushalte. An der Steinbruchstraße donnerte eine Dampflok am mit
einer Schranke versehenen Neudorfer Südzipfel vorbei – rußige
Dampfwolken hinterlassend.
Im Fernsehen – es gab zunächst nur ein Programm -
liefen für den, der das begehrte Objekt schon hatte, Sendungen
wie die Tageschau. Es ging dabei nicht um die Tagesschau mit dem
berühmten Bild oder der Ansage: „Wir schalten um!“ Es ging um
Krimis, die ganze Straßen in Deutschland wohltuend leer fegten.
Und wer am Arbeitsplatz oder im Büro mitreden wollte, musste ein
Gerät haben – oder gute Nachbarn. Oder in der Kneipe nebenan
sich den Gesprächsstoff für den kommenden Tag holen.
Die Tagesschau war ein Muss für den Vater, ein
„ab ins Bett“ für den Heranwachsenden. „Nix da, morgen ist
Schule.“ Da ließen Vater und Mutter nichts anbrennen.
Erstaunlich der Werte-Umkehrschluss, wenn erst
nach der Tagesschau ab 20:15 Uhr Professor Dr. Dr. h. c. Klemens
Maria Pius Bernhard Grzimek mit einem Gepard oder Affen auf den
Bildschirm kam. „Wer hat denn gestern Abend ‚Ein Platz für
Tiere’ gesehen?“, lautete tatsächlich die Frage des
Biologielehrers am nächsten Tag in der Schule. Und prompt war
die Lehrstunde um das Programm des Vortages angesagt, auch wenn
so mancher – wie erwähnt – gar nicht mitreden konnte.
Denn so einfach war das zur damaligen Zeit nicht,
kostete so ein Prunkstück schon einiges. Beispiele gefällig?
Tischgeräte (auf kleinem Tischchen mit
Anschraubbeinen für 15 Mark) wie ein Diplomat (43 cm) war für
695 Mark zu haben, Marke Präsident aber erst ab 955 Mark – aber
dann mit 53 cm.
Die Standardgeräte - quasi ein Möbelstück mit
eingebautem Fernseher (53 cm) gab es ab 998 Mark (Roland), Marke
Souverän erst ab 1125 Mark.
Die Kombinationsgeräte, also mit Rundfunkgerät
und 10er Plattenwechsel für Singles und Langspielplatten (mit
Wechselstab) gab es in der 53-Zentimeter-Variante IMPERATOR für
1698 Mark, die EXQUISIT-Ausgabe erst ab 1925 Mark. Markennamen
wie Graetz, Grundig oder Nordmende hatten schon störungsfreie
Fernseher mit erster FTZ-Prüfnummer der Bundespost.
Diese Möbelprunkstücke waren natürlich zentraler Mittelpunkt in
der guten Stube, vor dem sich abends und vor allem am Wochenende
die ganze Familie – manchmal mit Nachbarn – versammelte.
Dann
wurde Familie Hesselbach, Peter Frankenfeld, Robert Lembkes
„Schweinchenschau“ mit „Was bin ich“, Lou van Burg oder Vico
Torrianis Abendsendungen – ab dem 25. August 1967 in Berlin mit
Willy Brandt sogar die Freischaltung für die ersten
Farbsendungen - gesehen. Aber auch Daktari, Chris Howland
(Mister Pumpernickel) und auf jeden Fall die Sportschau mit
Ernst Huberty. Die Kabarettisten wie die „Stachelschweine“ und
Lach- und Schießgesellschaft mit Sammy Drechsel oder Klaus
Havenstein (auch mit Sport-Spiel-Spannung dabei) waren damalige
Quotenhits. Und: Die ersten Ausstrahlungen des
Halbjahrhundert-Kultstückes „Dinner for one mit Freddy Frinton
waren so mit das Köstlichste der damaligen Zeit.
Für die Jugend war das Vorabendprogramm schon der
Hit, Akrobat Armin Dahl (Foto), Possen von Hyram Holliday, dem Mann mit
dem Schirm. Nicht Emma Peel, die kam erst mit Schirm, Charme und
Melone oder Kookie von „77 sunset strip“ mit der Kieksstimme und
der Pomade im Haar etwas später. An den Wochenenden war so etwas
wie „Am Fuß der blauen Berge“, „Fury“, Lassie, Flipper oder
Rin-Tin-Tin angesagt.
Und in Neudorf hing an der großen Kreuzung
Koloniestraße/Sternbuschweg eine Verkehrsampel. Ja hing. Nicht
wie heute am Straßenrand fest installiert mit den wechselnden,
elektrisch gesteuerten Leuchtfarben.
Nein, eine richtige Ampel
in luftiger Höhe, mittig über der Kreuzung. Mit einem Zeiger für
die jeweilige Richtung bzw. der entsprechenden Farbe. Fiel diese
aus,
stand auch schon einmal der Schutzmann (damals sagte
niemand Bulle) auf der Kreuzung und regelte den noch harmlosen
Verkehr.
Aufregend war in den späteren Jahren der erste
Generationenkonflikt. Samstag lief mit Uschi Nerke der Beatclub
aus Bremen, die Eltern - um es neudeutsch zu formulieren -
flippten aus. „Negermusik“ war noch harmlos wenn sie Mick
Jagger, Keith Richard oder Jimmy Hendrix sahen. Wenn aber der
Filius dem hart arbeitenden Vater erzählte, was diese verrockten
Typen an Geld machen konnten, blieb dem die Luft weg.
Und dann der Kampf um die Glotze, wenn
Deutschland spielte - Fußball natürlich. Dann waren alle Nachbar
da - eben die, die noch kein Gerät von Grundig hatten. Die
ersten Fernsehgeräte konnte man im Schaufenster bei Ketzer &
Frings auf der Koloniestraße bestaunen.
Sonst war nur Hörvergnügen am Radiogerät von Löwe
Opta (mit dem magischen grünen Auge) angesagt mit Kurt Brumme,
der war nach Herbert Zimmermann eine Klasse für sich.
Dr. Schiwago konnte man an der Neudorfer Straße
im UT-Palast sehen. Vier Stunden mit Pause. Spannend, wenn es
nach der „Fox tönenden Wochenschau“ und der Reklame das
Eisangebot gab und es noch einmal hell wurde. Oder doch lieber
ins Rialto Kino auf der Koloniestraße, Rio Bravo, ein Film mit
John Wayne und nach der Vorstellung ein kühles Bier bei Bütefür
nebenan? Dunkelheit im Kino war nicht schlecht. Es hatte ja
nicht jeder eine eigene Bude, wo man seine Freundin schon einmal
mitbringen konnte – wenn die Eltern nebenan im Wohnzimmer saßen
natürlich…
In Neudorf gab es an der Ecke
Grabenstraße/Schemkesweg im Salon Weyhe bei Emmi und Willi den
Bürstenhaarschnitt mit Handgerät für zwei Mark. Auch bei
Spezial-Herren Frisör Textores auf der Koloniestraße tauschten
die alten Neudorfer bei der allmorgendlichen Nassrasur die
neuesten Neudorfer Nachrichten aus.
Pizzerien um die Ecke gab es nicht, Pommesbuden
schon gar nicht. Dafür aber jede Menge Kiosk-Kultur, bei uns
Büdchen oder Trinkhalle genannt. Da war was los nach dem
MSV-Spielen. An der Wildstraße, Ecke Koloniestraße gab es noch
das Meldeamt mit Polizei. Die dort eingesetzten Beamten wachten
übrigens auch penibel auf die Einhaltung der Polizeistunden in
den umliegenden Neudorfer Gasstätten zur Sperrstunde. Ein Auge
wurde nur selten, in ganz besonderen Fällen zugedrückt, wenn z.
B. der Beamte auf einen Wacholder und Bier eingeladen wurde.
Danach erfolgte die strikte Aufforderung: “Wenn ich hier gleich
noch mal vorbeikomme ist aber Feierabend.“
Für die Kleinsten war die sagenhafte Augsburger
Puppenkiste in der Kiste der Hit. Von Jim Knopf über Lukas den
Lokomotivführer, König Alfons, dem „Viertel-vor-zwölften“, dem
Halbdrachen Nepomuk oder einer Meerprinzessin Sursulapitschi war
alles aufregend rund um Lummerland - so wie die Sesamstraße in
späteren Jahren für die Kinder der „Lummerland-Kinder“.
In den 60ern waren die Vinylscheiben – die mit
den 45er Umdrehungen, die 75er waren Langspielplatten -
angesagt. Am liebsten im tragbaren Grammofon von Telefunken oder
Grundig. Die Single rein geschoben, die vielen 1,5
Volt-Batterien ein paar Stunden belastet und man war auf der
Liebesinsel an der Wedau beim Baden der Hit – bei den Mädchen.
Die lasen wie die Jungs dort auch schon Sigurd-Heftchen, noch
lieber aber die dicken Hefte mit Micky Mouse und Donald. Was da
so alles aus Amerika rüber schwappte.
In Neudorf gab es reichlich Metzgereien, den
Konsum Columbia und eben die Lädchen um die Ecke wie auch
Bäckerburschen der Bäckerei Welp, die morgens aus der Backstube
die Brötchen austrugen. Da gab es noch an der Bude bei Jaspers
Ecke Koloniestraße/Sternbuschweg Knöterich oder
Veilchenpastillen – und zwar zwei – für einen Pfennig.
Es fuhren aber auch neben der Knutschkugel Isetta,
Dreiradautos von Tempo mit frischer Milchzapfanlage des
Milchhändlers Wolf vom Sternbuschweg oder mit Fischangeboten von
Tröschel auf der Koloniestraße durch den Stadtteil. Aushelfen
war klasse, gab es doch ein paar Groschen, für die man sich das
Päckchen Liga (vier Zigaretten in der Packung) die man bei Frankenhoff oder Vogel ziehen konnte. Richtig: Ziehen - dieser
Automat hatte Overstolz, Emir, Juno oder Mercedes (alles
Zigarettenmarken) im Angebot. Daneben hing meistens noch ein
Kaugummiautomat, mit Drehgriff übrigens. In den Kneipen wurde
Flipper gespielt und ein Erdnussautomat durfte auch nicht
fehlen.
Ein Leid der Wirte waren die so beliebten Soleier, die in Essig
und Öl eingelegt waren, denn oft verwechselten die Gäste die
Tischdecke mit der Serviette.
Ein Treffpunkt war die Apotheke Ecke
Mülheimer/Neudorfer Straße, da es ein zentraler Haltepunkt der
Straßenbahnen war und der Hauptbahnhof für die nicht
motorisierte Jugend in der Nähe lag. Die Senioren führen zur
Monning zum Tanzen, die Jugend gingen in die umliegenden
Tanzschulen – auch zum Sonntagstanztee.
Aber ein „Was machst du denn hier!“ war das Schrecklichste was
einem männlichen Teenager damals passieren konnte, wenn er aus
dem Tanztee heraus kam und von Freunden „erwischt“ worden war.
Im Rock’n Roll-Zeitalter war damals der Tanztee
wahrlich nicht „in“. Für die Eltern komischerweise schon. Dass
man zur Tanzschule ging, erwähnte man verschämt lieber nicht.
Aber es war spannend in dieser. Die ersten „Gehversuche“ mit dem
anderen Geschlecht beim Foxtrott oder Charleston oder dem
beliebten langsamen Walzer waren mit Schweißausbrüchen
verbunden.
Kriege ich eine nette Partnerin? Ist sie auch
hübsch? Und schaffe ich es, ihr nicht auf die Füße zu treten?
Wie ist das mit der Konversation? Was redet man mit ihr? Und
dann der Mittel- oder Abschlussball im Duisburger Hof oder der
neuen Mercatorhalle unter den Augen der höchst kritischen
Eltern.
Mancher hatte unverschämtes Glück - und eine
ältere Schwester in New York. Wenn die dann einen Patronengurt
mit Colt (alles aus Plastik - unglaublich) zu Weihnachten
schickte, war man Tagesgespräch.
In Neudorf – und anderswo auch – kochten die
Frauen das Gemüse für den Kinder-Brei in einer Kasserolle.
Anders war es, wenn kleine Gläser (die Vorläufer der
Hipp-Gläser) aus den Staaten eintrafen. Dann staunten alle
Mütter, dass man nur das Fertiggericht im Glas aufwärmen musste.
Dann gab es Mais, das aufgewärmt durch die Gegend knallte –
Popcorn genannt. Das war ein Spaß und der schmeckte auch noch.
Aber als die ersten Pampers eintrafen, ging bei
so manchem Babysitter nebst dazugehörender Mutter der Mund vor
Staunen nicht mehr zu.
Im Fernsehen war Clemens Wilmenrod der erste
Küchenmagier mit Kochsendung. Abends schaute Deutschland Heinz Weiss zu, als er lief, so weit ihn seine Füße trugen – aus
russischer Gefangenschaft in Sibirien. Sonntags war Werner Höfer
oder Ohnesorg-Theater oder Millowitsch angesagt. Welch ein Spaß
mit Walter Scherau, Henry Vahl, Heidi Kabel oder dem kölsche
Willi.
Aber was war das gegen die Boxkämpfe von Cassius
Clay – pardon Muhammed Ali. Vor allem gegen den Hessen Karl
Mildenberger. Wer hat sie nicht gesehen. In Neudorf war neben
TuRa natürlich der Gang ins Wedau-Stadion angesagt.
Meistens kam man mit der Straßenbahn (Linie 4)
bis zur Endstation (Kneipe), um den Rest zu Fuß zu gehen. Mit
dem Auto zum MSV fuhr kaum ein Neudorfer. Wer hatte auch schon
eins Anfang und Mitte der 60er.
Heute meinen alle, dass sich die Straßen beliebig
vermehren müssten, hat doch neben dem Haushaltsvorstand sicher
die Dame des Hauses und vielleicht schon der Sohn – was die
Tochter auch schon? - ebenfalls ein Fortbewegungsmittel. Nur
wohin damit?
DKW
1000S
Und wie kam man damals an ein Auto oder zunächst
an ein Rad? Für einen damaligen Teenager war an ein Auto wie
einem simplen Zweitakter DKW 1000 S mit Lenkradschaltung, den
ganz kleinen von Fiat (Jagst), einen Opel Kadett gar nicht zu
denken und von einem Coupé von Borgward (Isabella) konnten wir
nur träumen. Aber für ein Rad oder später ein motorisiertes
Gefährt wie die Kreidler, Hercules oder eine Vespa konnte man
dank Ferienjob schon sparen und
den gab es tatsächlich. So an der Pappenstraße
bei einer kleinen Firma, die für die Bahn Bremsklötze herstellte
– heute steht dort das Technologiezentrum.
Zitat in
Duisburger Platt
aus dem Buch: Ut old Duisburger Tid (erschienen
1911 im Verlag Georg Böllert)
Die Alte Großmutter erzählt;-
die Kinder sitzen und spitzen die Ohren.
Sie erzählt von der Zeit, da die Welt anders war
und die Menschen noch allemal besser waren. -
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