Duisburg, Juni 2015 - Als Gernot
Regenhöfer, der Leiter des städtischen Amts für
Rechnungswesen und Steuern, den Telefonhörer aufnahm, wäre
ihm fast das Trommelfell zersprungen. »Ja sind Sie denn
ganz von Gott verlassen, mein lieber Regenhöfer«, drang die
Stimme seines Vorgesetzten, des Oberstadtdirektors, mit
Urgewalt an sein Gehör. »Was haben Sie sich denn dabei
gedacht? Meiner Schwiegermutter einen derartig bescheuerten,
wenn auch vorläufigen Steuerbescheid über, ich wage gar
nicht, es auszusprechen, eine Sex-Steuer – ich zitiere
wörtlich: ›eine Vergnügungssteuer für das
Angebot sexueller Handlungen gegen Entgelt‹ – ins Haus
zu schicken. Die gute Frau ist dreiundachtzig Jahre alt, sie
wohnt bei mir und meiner Frau mit im Haushalt, seit ihr
Mann, mein Schwiegervater, vor einem Jahr das Zeitliche
gesegnet hat. Verdammt noch mal, die Dame hat fast einen
Herzstillstand erlitten, als sie diesen Steuerbescheid sah –
und meine Frau ebenfalls. Sie können sich gar nicht
vorstellen, was seitdem hier los ist! Was hat Sie denn bloß
geritten, uns so etwas ins Haus zu schicken, pfui Teufel
noch mal?«
Gernot Regenhöfer wurde
leichenblass. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Das kann
doch gar nicht möglich sein, dachte er verzweifelt, ich soll
einen solchen Steuerbescheid losgeschickt haben, über
Sexsteuer, ausgerechnet an die Schwiegermutter des
Oberstadtdirektors, eine dreiundachtzig Jahre alte Dame?
Gernot erinnerte sich, dass er in
der letzten Zeit, seitdem die neue Verfügung über diese
Spezialsteuer in Kraft getreten war, zwar mehr
vorläufige Steuerbescheide unterzeichnet hatte als sonst,
aber einen Bescheid für die Mutter der Frau des
Oberstadtdirektors, um Himmelswillen, nein! Das konnte nur
ein Missverständnis sein. Er rang nach Luft. Wie sollte er
das jedoch dem Chef erklären? Er hatte ja selbst keine
Ahnung, wie so etwas überhaupt hatte passieren können.
Schon vernahm er wieder die
Stimme des Oberstadtdirektors, eine Spur schneidender. »Ich höre, Regenhöfer, das heißt,
ich höre gar nichts, von Ihnen. Was sagen Sie zu Ihrer
Verteidigung? Der Steuerbescheid trägt Ihre Unterschrift,
auch wenn er von einem Ihrer Sachbearbeiter, einem gewissen
Heinz Munschog, ausgestellt wurde. Doch Sie als Leiter
dieser Behörde müssen doch eine Erklärung haben für diese
Unverschämtheit oder wissen Sie gar nicht mehr, was in Ihrem
Laden los ist?« »Herr Oberstadtdirektor, ich
bitte vielmals um Entschuldigung«, antwortete Gernot
stotternd, »ich kann mir beim besten Willen nicht erklären,
wie ein solcher Steuerbescheid an Ihre Frau Schwiegermutter
gelangen konnte. Das muss ein großer Irrtum sein. Vielleicht
hat sich mein Sachbearbeiter im Namen geirrt oder in der
Adresse. Anders kann ich mir keinen Reim darauf machen, so
aus dem Stand heraus.« »Soso, so aus dem Stand heraus«,
brüllte der Chef, »können Sie sich keinen Reim darauf
machen. Muss ich Ihnen vielleicht erst noch auf die Sprünge
helfen? Ihr Sachbearbeiter hat sich nicht im Namen und schon
gar nicht in der Adresse geirrt, leider; wie schon gesagt,
meine Schwiegermutter wohnt hier bei mir im Hause. Nur in
der Hauptsache, in dieser verfluchten Steuer, hat er sich
geirrt. Also bitte, Regenhöfer, wie können Sie es daher
wagen, eine ehrbare ältere Dame mit einer solch unsittlichen
Steuer zu belästigen? Ich erwarte von Ihnen eine umgehende
Rücknahme dieses Bescheides, das ist das Mindeste, was ich
verlange, und darüber hinaus eine schriftliche
Entschuldigung. Ist das klar, Regenhöfer?« »Selbstverständlich, Herr
Oberstadtdirektor, selbstverständlich.« »Gut! Das wäre dann geklärt, ich
kann mich also darauf verlassen«, bestätigte der Chef.
»Einen Augenblick mal, Regenhöfer, bleiben Sie dran.
Gerlinde, Mutter«, hörte Gernot seinen Chef rufen, »die
Sache ist aus der Welt, ein für alle Mal. Ihr habt's ja
gehört, ich habe soeben mit dem Leiter unserer Steuerbehörde
gesprochen. Macht euch doch jetzt mal ein paar schöne
Stunden, in der Stadt, und vergesst diese unselige
Angelegenheit. Mein Fahrer wartet draußen.«
»Hast du ihm ordentlich Bescheid
gegeben, Waldemar, diesem Lümmel?«, hakte eine keifende
Altweiberstimme nach. »Habe ich, Mutter, habe ich. Der
rührt sich drei Tage nicht vom Fleck. Tschüss, bis später.
Sind Sie noch dran, Herr Regenhöfer?«, rief der
Oberstadtdirektor, um in vollständig verändertem, nahezu
verschwörerischem Tonfall fortzufahren: »Das haben Sie gut
gemacht, sehr gut. Sie haben mir einen sehr großen Dienst
erwiesen.«
Gernot Regenhöfer wusste nicht,
wie ihm geschah. Soeben noch von seinem Chef zur Sau
gemacht, sah es so aus, als solle er plötzlich dessen
Komplize werden. »Ich verstehe nicht ganz, Herr
Oberstadtdirektor.« »Passen Sie auf, Herr Regenhöfer,
ich musste Sie so anschnauzen. Die Alte, meine
Schwiegermutter, stand direkt neben mir und meine Frau auch.
Was den Steuerbescheid betrifft«, fuhr er fort, »da habe ich
schon recherchiert. Sie trifft da gar keine Schuld, im
Gegenteil, Sie haben mir eine diebische Freude bereitet.« Gernot war perplex; ein
Oberstadtdirektor, der eine diebische Freude daran hatte,
dass man seiner dreiundachtzigjährigen Schwiegermutter einen
Steuerbescheid über Sexsteuer zugestellt hatte! »Wie Sie sich doch bestimmt noch
erinnern können«, fuhr der Chef fort, »haben wir, die
Stadtverwaltung, als wir vor kurzem diese spezielle Steuer
eingeführt haben, um unsere Kassen zu entlasten,
händeringend danach gesucht, unter welchem amtlichen Begriff
wir diese Steuer führen sollten, wir mussten dem Kind ja
einen Namen geben. Wir konnten sie ja schlecht Hurensteuer
nennen.« Gernot erinnerte sich nur zu gut,
welchen Staub dieser von den Medien ins Spiel gebrachte
Schimpfname aufgewirbelt hatte. Gott sei Dank war man
seitens der Verwaltung schnell auf eine andere Bezeichnung
gekommen, um das Problem aus der Welt zu schaffen.
»Hostessen-Steuer! Natürlich«,
brachte der Verwaltungschef es auf den Punkt. »Aber wem sage
ich das? Einfach köstlich, dieser Name, Herr Regenhöfer.
Darauf muss man erst mal kommen.« »In der Tat, Herr
Oberstadtdirektor, eine sehr außergewöhnliche Bezeichnung.
Aber ich verstehe immer noch nicht, wie Ihre Frau
Schwiegermutter ...« »Ganz einfach, mein Lieber. Unter
dem Sammelbegriff ›Hostessen-Steuer‹ haben wir alle
Menschen, die man in irgendeiner Weise diesem Personenkreis
zuordnen kann, zusammengefasst. Das gilt für Studentenjobs
auf Mode- und sonstigen Messen bis hin zu, na ja, bis
zu den Vertreterinnen des ältesten Gewerbes der Welt. So ist
das nun mal.« »Ich weiß, Herr
Oberstadtdirektor, ich habe ja täglich damit zu tun. Aber
wollen Sie damit sagen«, druckste Gernot, »wie soll ich es
formulieren, dass Ihre verehrte Frau Schwiegermutter zu dem
letztgenannten Personenkreis gezählt werden könnte? Ich
meine, natürlich nicht aktiv; mein Gott, ich weiß gar nicht,
was ich sagen soll. Das gibt's doch gar nicht!« Der Oberstadtdirektor bog sich
vor Lachen. »Da kann ich Sie beruhigen, Herr
Regenhöfer, eine Puffmutter ist sie nicht, wenn Sie das
sagen wollten.« »Um Gottes Willen, Herr
Oberstadtdirektor, Sie haben mich vollkommen
missverstanden.« »Na, bleiben Sie ganz locker,
lieber Regenhöfer. Nein, die Sache verhält sich anders. Als
meine Schwiegermutter von dem Ausdruck ›Hostessen-Steuer‹
erfuhr, war sie einerseits ganz aus dem Häuschen,
schimpfte aber sofort los: ›Ich bin auch eine Hostess, schon
seit ewigen Zeiten, und all meine Kolleginnen ebenfalls, nur
nennt man uns nicht so. Überall werden wir nur mit diesem
antiquierten, völlig unpassenden Namen bezeichnet. Das
wollen wir aber nicht mehr, wir haben schon lange die
Schnauze voll, und es ist höchste Zeit, dass wir auf die
Barrikaden gehen für eine neue zeitgemäße Bezeichnung
unserer Tätigkeit. Hostess, ja, das wäre genau der richtige
Name für unseren Dienst am Menschen.‹«
Gernot verstand immer noch nicht
so recht. »Darf ich fragen, was Ihre werte
Frau Schwiegermutter für einen Dienst am Menschen
verrichtet, Herr Oberstadtdirektor?« »Dienst am Menschen ist gut. Bei
mir verrichtet sie den nicht, meine werte Frau
Schwiegermutter, mir gegenüber verhält sie sich wie ein
richtiger Drachen, seit sie hier bei uns wohnt. Wenn meine
Frau nicht drauf bestanden hätte, wäre sie hier nie
eingezogen. Na, lassen wir das. Sie wollen wissen, was sie
tut? Eine ›grüne Dame‹ ist sie, meine werte Frau
Schwiegermutter, und das schon seit Urzeiten. Wissen Sie,
eine von diesen altjüngferlichen Gestalten mit
Sauerbiergesicht, die in den Krankenhäusern herumlungern und
den Kranken den Rest geben. Und nun, weil diese grünen
Weiber nicht locker gelassen und sich die Bezeichnung
Hostessen regelrecht erkämpft haben, sogar per
Gerichtsbeschluss, hat sich der Herzenswunsch meiner
Schwiegermutter doch noch erfüllt. Sie darf sich jetzt
offiziell Hostess nennen, der alte Drachen, und rennt
seitdem mit stolzgeschwellter Brust bei mir durch die Bude.
Was glauben Sie, mein lieber Herr Regenhöfer, wie ich mich
da über Ihren Steuerbescheid gefreut habe?«
Gernot Regenhöfer wusste nicht,
was er sagen sollte. Er kannte seinen höchsten Chef nicht
wieder. Eine solch ungestüme Freude hatte dieser im Dienst
noch nie versprüht. »Jetzt verstehe ich, Herr
Oberstadtdirektor. Darf ich in diesem Fall dann davon
ausgehen, dass dieser unglückselige Bescheid keine weiteren
Konsequenzen hat, für meinen Kollegen Heinz Munschog wie
auch für mich selbst?« »Und ob der Konsequenzen haben
wird«, lachte der Chef, »für Sie und Ihren Kollegen. Sie
werden beide befördert, in ganz kurzer Zeit. Wenn es nach
mir ginge, würde ich Ihnen beiden sogar Orden verleihen.«
Gernot fasste sich ein Herz;
diese Chance durfte er nicht ungenutzt verstreichen lassen. »Eine Frage hätte ich da noch,
Herr Oberstadtdirektor.« »Schießen Sie los, lieber Mann.« »Ich habe da auch so einen
Drachen; sie wohnt zwar nicht bei mir im Hause, aber in
dieser Stadt. Meine Schwiegermutter ist ebenfalls grüne
Dame, und ich würde ihr am liebsten auch so einen
Steuerbescheid schicken, nicht nur einen vorläufigen,
sondern direkt einen endgültigen, aber nicht mit meiner
Unterschrift, das kann ich mir wirklich nicht erlauben.«
»Mein lieber Herr Regenhöfer«,
unterbrach ihn der Chef, »das macht nichts, absolut nichts;
den kriegt sie von mir, mit meiner Unterschrift, und zwar
einen so endgültigen, endgültiger geht's nicht, wenn Sie
verstehen, was ich meine; wozu sind wir schließlich Kollegen
...«
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