I. Sachverhalt
9. Februar 2010 - 1. Das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen
am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (sog. „Hartz IV-Gesetz“)
führte mit Wirkung vom 1. Januar 2005 die bisherige
Arbeitslosenhilfe und die bisherige
Sozialhilfe im neu geschaffenen Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB
II) in Form einer einheitlichen, bedürftigkeitsabhängigen
Grundsicherung für Erwerbsfähige und die mit ihnen in einer
Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zusammen. Danach erhalten
erwerbsfähige Hilfebedürftige Arbeitslosengeld II und die mit ihnen
in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden, nicht erwerbsfähigen
Angehörigen, insbesondere Kinder vor Vollendung des 15.
Lebensjahres, Sozialgeld. Diese Leistungen setzen
sich im Wesentlichen aus der in den §§ 20 und 28 SGB II bestimmten
Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts und Leistungen für
Unterkunft und Heizung zusammen. Sie werden nur gewährt, wenn
ausreichende eigene Mittel, insbesondere Einkommen oder Vermögen,
nicht vorhanden sind. Die Regelleistung für Alleinstehende legte das
SGB II zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens für die alten Länder
einschließlich Berlin (Ost) auf 345 Euro fest. Die Regelleistung für
die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft bestimmt es als
prozentuale Anteile
davon. Danach ergaben sich zum 1. Januar 2005 für Ehegatten,
Lebenspartner und Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft ein Betrag
von gerundet 311 Euro (90%), für Kinder bis zur Vollendung des 14.
Lebensjahres ein Betrag von 207 Euro (60%) und für Kinder ab Beginn
des 15. Lebensjahres ein Betrag von 276 Euro (80%).
Im Vergleich zu den Regelungen nach dem früheren
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) wird die Regelleistung nach dem SGB
II weitgehend pauschaliert; eine Erhöhung für den Alltagsbedarf ist
ausgeschlossen. Einmalige Beihilfen werden nur noch in
Ausnahmefällen für einen besonderen Bedarf gewährt. Zur Deckung
unregelmäßig wiederkehrenden Bedarfs ist die Regelleistung erhöht
worden, damit Leistungsempfänger entsprechende Mittel ansparen
können.
2. a) Bei der Festsetzung der Regelleistung hat sich der Gesetzgeber
an das Sozialhilferecht, das seit dem 1. Januar 2005 im
Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) geregelt wird, angelehnt.
Nach dem SGB XII und der vom zuständigen Bundesministerium
erlassenen Regelsatzverordnung erfolgt die Bemessung der
sozialhilferechtlichen Regelsätze nach einem Statistikmodell, das
bereits in ähnlicher Form unter der Geltung des
Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) entwickelt worden war. Grundlage
für die Bemessung der Regelsätze ist eine Sonderauswertung der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die vom Statistischen
Bundesamt alle fünf Jahre erhoben wird. Für die Bestimmung des
Eckregelsatzes, der auch für Alleinstehende gilt, sind die in den
einzelnen Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
erfassten Ausgaben der untersten 20% der nach ihrem Nettoeinkommen
geschichteten Einpersonenhaushalte (unterstes Quintil) nach
Herausnahme der Empfänger von Sozialhilfe maßgeblich. Diese Ausgaben
gehen allerdings nicht vollständig, sondern
als regelsatzrelevanter Verbrauch nur zu bestimmten Prozentanteilen
in die Bemessung des Eckregelsatzes ein.
Die seit dem 1. Januar 2005 geltende Regelsatzverordnung fußt auf
der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahre 1998. Bei der
Bestimmung des regelsatzrelevanten Verbrauchs in § 2 Abs. 2
Regelsatzverordnung wurde die Abteilung 10 der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe (Bildungswesen) nicht berücksichtigt. Weiterhin
erfolgten Abschläge unter anderem in der Abteilung 03 (Bekleidung
und Schuhe) zum Beispiel für Pelze und Maßkleidung, in der Abteilung
04 (Wohnung etc.) bei der Ausgabenposition „Strom“, in der Abteilung
07 (Verkehr) wegen der Kosten für Kraftfahrzeuge und in der
Abteilung 09 (Freizeit, Unterhaltung und Kultur) zum Beispiel für
Segelflugzeuge. Der für das Jahr 1998 errechnete Betrag wurde nach
den Regelungen, die für die jährliche Anpassung der Regelleistung
nach dem SGB II und der Regelsätze nach dem SGB XII gelten,
entsprechend der Entwicklung des aktuellen Rentenwertes in der
gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. § 68 SGB VI) auf den 1. Januar
2005 hochgerechnet.
b) Bei der Festsetzung der Regelleistung für Kinder wich der
Gesetzgeber von den Prozentsätzen, die unter dem BSHG galten, ab und
bildete nunmehr nur noch zwei Altersgruppen (0 bis 14 Jahre und 14
bis 18 Jahre). Eine Untersuchung des Ausgabeverhaltens von Ehepaaren
mit einem Kind, wie sie unter dem BSHG erfolgt war, unterblieb
zunächst.
3. Die Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus
dem Jahre 2003 führte zwar zum 1. Januar 2007 zu Änderungen beim
regelsatzrelevanten Verbrauch gemäß § 2 Abs. 2 Regelsatzverordnung,
jedoch nicht zu einer Erhöhung des Eckregelsatzes und der
Regelleistung für Alleinstehende. Eine erneute Sonderauswertung
bezogen auf das Ausgabeverhalten von Ehepaaren mit einem Kind
veranlasste den Gesetzgeber zur Einführung einer dritten Alterstufe
von haushaltsangehörigen Kindern im Alter von 6 Jahren bis zur
Vollendung
des 14. Lebensjahres. Diese erhalten ab dem 1. Juli 2009 nach § 74
SGB II 70% der Regelleistung eines Alleinstehenden. Seit dem 1.
August 2009 erhalten schulpflichtige Kinder nach Maßgabe von § 24a
SGB II zudem zusätzliche Leistungen für die Schule in Höhe von 100
Euro pro Schuljahr.
4. Über eine Vorlage des Hessischen Landessozialgerichts (1 BvL
1/09) und über zwei Vorlagen des Bundessozialgerichts (1 BvL 3/09
und 1 BvL 4/09) zu der Frage, ob die Höhe der Regelleistung zur
Sicherung des Lebensunterhalts für Erwachsene und Kinder bis zur
Vollendung des 14. Lebensjahres im Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis
zum 30. Juni 2005 nach § 20 Abs. 1 bis 3 und nach § 28 Abs. 1 Satz 3
Nr. 1 Alt. 1 SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar ist, hat der Erste
Senat des
Bundesverfassungsgerichts am 20. Oktober 2009 verhandelt.
II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass
die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene
und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1
Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen. Die
Vorschriften bleiben bis zur Neuregelung, die der Gesetzgeber bis
zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, weiter anwendbar. Der
Gesetzgeber hat bei der Neuregelung auch einen Anspruch auf
Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht
nur einmaligen, besonderen Bedarfs für die nach § 7 SGB II
Leistungsberechtigten vorzusehen, der bisher nicht
von den Leistungen nach §§ 20 ff. SGB II erfasst wird, zur
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch
zwingend zu decken ist. Bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber
wird angeordnet, dass dieser Anspruch nach Maßgabe der Urteilsgründe
unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG
zu Lasten des Bundes geltend gemacht werden kann.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu
Grunde:
1. a) Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem
Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für
seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am
gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich
sind. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als
Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG
neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf
Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung.
Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf
aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den
Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen
Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden
Lebensbedingungen auszurichten hat. Der Umfang des
verfassungsrechtlichen Leistungsanspruchs kann im Hinblick auf die
Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel nicht
unmittelbar aus der Verfassung
abgeleitet werden. Die Konkretisierung obliegt dem Gesetzgeber, dem
hierbei ein Gestaltungsspielraum zukommt.
Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle
existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten
und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also
realitätsgerecht, zu bemessen.
b) Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des
Existenzminimums entspricht eine zurückhaltende Kontrolle der
einfachgesetzlichen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht. Da
das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs
erlaubt, beschränkt sich bezogen auf das Ergebnis die materielle
Kontrolle darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind.
Innerhalb der materiellen Bandbreite, welche diese Evidenzkontrolle
belässt, kann das Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen
Existenzminimums keine quantifizierbaren Vorgaben liefern. Es
erfordert aber eine
Kontrolle der Grundlagen und der Methode der Leistungsbemessung
daraufhin, ob sie dem Ziel des Grundrechts gerecht werden. Um eine
der Bedeutung des Grundrechts angemessene Nachvollziehbarkeit des
Umfangs der gesetzlichen Hilfeleistungen sowie deren gerichtliche
Kontrolle zu gewährleisten, müssen die Festsetzungen der Leistungen
auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger
Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein.
Das Bundesverfassungsgericht prüft deshalb, ob der Gesetzgeber das
Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1
GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise
erfasst und umschrieben hat, ob er im Rahmen seines
Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im
Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die
erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend
ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten
mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten
Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren
bewegt hat. Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen
Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur
Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren
eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen
zu legen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung
des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel
nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG
in Einklang.
2. Die in den Ausgangsverfahren geltenden Regelleistungen von 345,
311 und 207 Euro können zur Sicherstellung eines menschenwürdigen
Existenzminimums nicht als evident unzureichend angesehen werden.
Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro kann eine evidente
Unterschreitung nicht festgestellt werden, weil sie zur Sicherung
der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und
der
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des
Existenzminimums besonders weit ist. Dies gilt auch für den Betrag
von 311 Euro für erwachsene Partner einer Bedarfsgemeinschaft. Der
Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass durch das gemeinsame
Wirtschaften Aufwendungen gespart werden und deshalb zwei
zusammenlebende Partner einen finanziellen Mindestbedarf haben, der
geringer als das Doppelte des Bedarfs eines Alleinlebenden ist.
Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der für Kinder bis
zur Vollendung des 14. Lebensjahres einheitlich geltende Betrag von
207 Euro zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums
offensichtlich unzureichend ist. Es ist insbesondere nicht
ersichtlich, dass dieser Betrag nicht ausreicht, um das physische
Existenzminimum, insbesondere den Ernährungsbedarf von Kindern im
Alter von 7 bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres zu decken.
3. Das Statistikmodell, das für die Bemessung der
sozialhilferechtlichen Regelsätze gilt und nach dem Willen des
Gesetzgebers auch die Grundlage für die Bestimmung der Regelleistung
bildet, ist eine verfassungsrechtlich zulässige, weil vertretbare
Methode zur realitätsnahen Bestimmung des Existenzminimums für eine
alleinstehende Person. Es stützt sich auch auf geeignete empirische
Daten. Die
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe bildet in statistisch
zuverlässiger Weise das Verbrauchsverhalten der Bevölkerung ab. Die
Auswahl der untersten 20 % der nach ihrem Nettoeinkommen
geschichteten Einpersonenhaushalte nach Herausnahme der Empfänger
von Sozialhilfe als Referenzgruppe für die Ermittlung der
Regelleistung für einen Alleinstehenden ist verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden. Der Gesetzgeber konnte auch vertretbar davon
ausgehen, dass die bei der Auswertung der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe 1998 zugrunde
gelegte Referenzgruppe statistisch zuverlässig über der
Sozialhilfeschwelle lag.
Es ist verfassungsrechtlich ebenfalls nicht zu beanstanden, dass die
in den einzelnen Abteilungen der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe erfassten Ausgaben des untersten Quintils nicht
vollständig, sondern als regelleistungsrelevanter Verbrauch nur zu
einem bestimmten Prozentsatz in die Bemessung der Regelleistung
einfließen. Der Gesetzgeber hat aber die wertende Entscheidung,
welche Ausgaben zum Existenzminimum zählen, sachgerecht und
vertretbar zu treffen. Kürzungen von Ausgabepositionen in den
Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe bedürfen zu
ihrer Rechtfertigung einer empirischen Grundlage. Der Gesetzgeber
darf Ausgaben, welche die Referenzgruppe tätigt, nur dann als nicht
relevant einstufen, wenn feststeht, dass sie anderweitig gedeckt
werden oder zur Sicherung des Existenzminimums nicht notwendig sind.
Hinsichtlich der Höhe der Kürzungen ist auch eine Schätzung auf
fundierter empirischer Grundlage nicht ausgeschlossen; Schätzungen
„ins Blaue hinein“ stellen jedoch keine realitätsgerechte Ermittlung
dar.
4. Die Regelleistung von 345 Euro ist nicht in verfassungsgemäßer
Weise ermittelt worden, weil von den Strukturprinzipien des
Statistikmodells ohne sachliche Rechtfertigung abgewichen worden
ist.
a) Der in § 2 Abs. 2 Regelsatzverordnung 2005 festgesetzte
regelsatz-
und damit zugleich regelleistungsrelevante Verbrauch beruht nicht
auf einer tragfähigen Auswertung der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe 1998. Denn bei einzelnen Ausgabepositionen
wurden prozentuale Abschläge für nicht regelleistungsrelevante Güter
und Dienstleistungen (zum Beispiel Pelze, Maßkleidung und
Segelflugzeuge) vorgenommen, ohne dass feststand, ob die
Vergleichsgruppe (unterstes Quintil) überhaupt solche Ausgaben
getätigt hat. Bei anderen Ausgabepositionen wurden Kürzungen
vorgenommen, die dem Grunde nach vertretbar, in der Höhe jedoch
empirisch nicht belegt waren (zum Beispiel Kürzung um 15% bei der
Position Strom). Andere Ausgabepositionen, zum Beispiel die
Abteilung 10 (Bildungswesen), blieben völlig unberücksichtigt, ohne
dass dies
begründet worden wäre.
b) Zudem stellt die Hochrechnung der für 1998 ermittelten Beträge
auf das Jahr 2005 anhand der Entwicklung des aktuellen Rentenwerts
einen sachwidrigen Maßstabswechsel dar. Während die statistische
Ermittlungsmethode auf Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und
Lebenshaltungskosten abstellt, knüpft die Fortschreibung nach dem
aktuellen Rentenwert an die Entwicklung der Bruttolöhne und
-gehälter, den Beitragssatz zur allgemeinen Rentenversicherung und
an einen Nachhaltigkeitsfaktor an. Diese Faktoren weisen aber keinen
Bezug zum Existenzminimum auf.
5. Die Ermittlung der Regelleistung in Höhe von 311 Euro für in
Bedarfsgemeinschaft zusammenlebende Partner genügt nicht den
verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil sich die Mängel bei der
Ermittlung der Regelleistung für Alleinstehende hier fortsetzen,
denn sie wurde auf der Basis jener Regelleistung ermittelt.
Allerdings beruht die Annahme, dass für die Sicherung des
Existenzminimums von zwei Partnern ein Betrag in Höhe von 180 % des
entsprechenden Bedarfs eines Alleinstehenden ausreicht, auf einer
ausreichenden empirischen Grundlage.
6. Das Sozialgeld für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres
von 207 Euro genügt nicht den verfassungsrechtlichen Vorgaben, weil
es von der bereits beanstandeten Regelleistung in Höhe von 345 Euro
abgeleitet ist. Darüber hinaus beruht die Festlegung auf keiner
vertretbaren Methode zur Bestimmung des Existenzminimums eines
Kindes im Alter bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres. Der
Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines
Kindes, der sich im Unterschied zum Bedarf eines Erwachsenen an
kindlichen
Entwicklungsphasen und einer kindgerechten Persönlichkeitsentfaltung
auszurichten hat, unterlassen. Sein vorgenommener Abschlag von 40 %
gegenüber der Regelleistung für einen Alleinstehenden beruht auf
einer freihändigen Setzung ohne empirische und methodische
Fundierung. Insbesondere blieben die notwendigen Aufwendungen für
Schulbücher, Schulhefte, Taschenrechner etc. unberücksichtigt, die
zum existentiellen Bedarf eines Kindes gehören. Denn ohne Deckung
dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von
Lebenschancen. Auch fehlt eine differenzierte Untersuchung des
Bedarfs von kleineren und größeren
Kindern.
7. Diese Verfassungsverstöße sind weder durch die Auswertung der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003 und die Neubestimmung des
regelsatzrelevanten Verbrauchs zum 1. Januar 2007 noch durch die
Mitte 2009 in Kraft getretenen §§ 74 und 24a SGB II beseitigt
worden.
a) Die zum 1. Januar 2007 in Kraft getretene Änderung der
Regelsatzverordnung hat wesentliche Mängel, wie zum Beispiel die
Nichtberücksichtigung der in der Abteilung 10 (Bildungswesen) der
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erfassten Ausgaben oder die
Hochrechnung der für 2003 ermittelten Beträge entsprechend der
Entwicklung des aktuellen Rentenwertes, nicht beseitigt.
b) Das durch § 74 SGB II eingeführte Sozialgeld für Kinder ab Beginn
des 7. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres in Höhe von 70 % der
Regelleistung für einen Alleinstehenden genügt den
verfassungsrechtlichen Anforderungen bereits deshalb nicht, weil es
sich von dieser fehlerhaft ermittelten Regelleistung ableitet. Zwar
dürfte der Gesetzgeber mit der Einführung einer dritten Altersstufe
und der § 74 SGB II zugrunde liegenden Bemessungsmethode einer
realitätsgerechten Ermittlung der notwendigen Leistungen für Kinder
im schulpflichtigen Alter näher gekommen sein. Den Anforderungen an
die Ermittlung des kinderspezifischen Bedarfs ist er dennoch nicht
gerecht geworden, weil die gesetzliche Regelung weiterhin an den
Verbrauch für einen erwachsenen Alleinstehenden anknüpft.
c) Die Regelung des § 24a SGB II, die eine einmalige Zahlung von 100
Euro vorsieht, fügt sich methodisch nicht in das Bedarfssystem des
SGB II ein. Zudem hat der Gesetzgeber den notwendigen Schulbedarf
eines Kindes bei Erlass des § 24a SGB II nicht empirisch ermittelt.
Der Betrag von 100 Euro pro Schuljahr wurde offensichtlich
freihändig geschätzt.
8. Es ist mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG
zudem unvereinbar, dass im SGB II eine Regelung fehlt, die einen
Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung des
menschenwürdigen Existenzminimums unabweisbaren, laufenden, nicht
nur einmaligen, besonderen Bedarfs vorsieht. Ein solcher ist für
denjenigen Bedarf erforderlich, der deswegen nicht schon von den §§
20 ff. SGB II abgedeckt wird, weil die Einkommens- und
Verbrauchsstatistik, auf der
die Regelleistung beruht, allein den Durchschnittsbedarf in üblichen
Bedarfssituationen widerspiegelt, nicht aber einen darüber
hinausgehenden, besonderen Bedarf aufgrund atypischer Bedarfslagen.
Die Gewährung einer Regelleistung als Festbetrag ist grundsätzlich
zulässig. Wenn das Statistikmodell entsprechend den
verfassungsrechtlichen Vorgaben angewandt und der Pauschalbetrag
insbesondere so bestimmt worden ist, dass ein Ausgleich zwischen
verschiedenen Bedarfspositionen möglich ist, kann der
Hilfebedürftige in
der Regel sein individuelles Verbrauchsverhalten so gestalten, dass
er mit dem Festbetrag auskommt; vor allem hat er bei besonderem
Bedarf zuerst auf das Ansparpotential zurückzugreifen, das in der
Regelleistung enthalten ist.
Da ein pauschaler Regelleistungsbetrag jedoch nach seiner Konzeption
nur den durchschnittlichen Bedarf decken kann, wird ein in
Sonderfällen auftretender Bedarf von der Statistik nicht
aussagekräftig ausgewiesen. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art.
20 Abs. 1 GG gebietet allerdings, auch diesen unabweisbaren,
laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf zu decken, wenn
es im Einzelfall für ein
menschenwürdiges Existenzminimum erforderlich ist. Dieser ist im SGB
II bisher nicht ausnahmslos erfasst.
Der Gesetzgeber hat wegen
dieser Lücke in der Deckung des lebensnotwendigen Existenzminimums
eine Härtefallregelung in Form eines Anspruchs auf Hilfeleistungen
zur Deckung dieses besonderen Bedarfs für die nach § 7 SGB II
Leistungsberechtigten vorzugeben. Dieser Anspruch entsteht
allerdings
erst, wenn der Bedarf so erheblich ist, dass die Gesamtsumme der dem
Hilfebedürftigen gewährten Leistungen - einschließlich der
Leistungen Dritter und unter Berücksichtigung von
Einsparmöglichkeiten des Hilfebedürftigen - das menschenwürdige
Existenzminimum nicht mehr gewährleistet. Er dürfte angesichts
seiner engen und strikten Tatbestandsvoraussetzungen nur in seltenen
Fällen in Betracht kommen.
9. Die verfassungswidrigen Normen bleiben bis zu einer Neuregelung,
die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat,
weiterhin anwendbar. Wegen des gesetzgeberischen
Gestaltungsspielraums ist das Bundesverfassungsgericht nicht befugt,
aufgrund eigener Einschätzungen und Wertungen gestaltend selbst
einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen. Da nicht festgestellt
werden kann, dass die gesetzlich festgesetzten Regelleistungsbeträge
evident unzureichend sind, ist der Gesetzgeber nicht unmittelbar von
Verfassungs wegen verpflichtet, höhere Leistungen festzusetzen. Er
muss vielmehr ein Verfahren zur realitäts- und bedarfsgerechten
Ermittlung der zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums
notwendigen Leistungen entsprechend den aufgezeigten
verfassungsrechtlichen Vorgaben durchführen und dessen Ergebnis im
Gesetz als Leistungsanspruch verankern.
Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet
den Gesetzgeber nicht dazu, die Leistungen rückwirkend neu
festzusetzen. Sollte der Gesetzgeber allerdings seiner Pflicht zur
Neuregelung bis zum 31. Dezember 2010 nicht nachgekommen sein, wäre
ein pflichtwidrig später erlassenes Gesetz schon zum 1. Januar 2011
in Geltung zu setzen.
Der Gesetzgeber ist ferner verpflichtet, bis spätestens zum 31.
Dezember 2010 eine Regelung im SGB II zu schaffen, die sicherstellt,
dass ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer
Bedarf gedeckt wird. Die nach § 7 SGB II Leistungsberechtigten, bei
denen ein derartiger Bedarf vorliegt, müssen aber auch vor der
Neuregelung die erforderlichen Sach- oder Geldleistungen erhalten.
Um die Gefahr einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 1 GG in
der Übergangszeit bis zur Einführung einer entsprechenden
Härtefallklausel zu vermeiden, muss die verfassungswidrige Lücke für
die Zeit ab der Verkündung des Urteils durch eine entsprechende
Anordnung des Bundesverfassungsgerichts geschlossen werden. |