Internationaler
Mindestlohnbericht des WSI
Düsseldorf/Duisburg, 10. März 2023 - In
lediglich etwa der Hälfte der 22 EU-Länder mit
gesetzlichen Mindestlöhnen war 2022 die Anhebung der
Lohnuntergrenze stark genug, um die hohe Inflation
mindestens auszugleichen. In zehn Ländern erlitten
zum Mindestlohn Beschäftigte hingegen zum Teil
deutliche reale Kaufkraftverluste. Vergleichsweise
gut fiel die Entwicklung in Deutschland durch die
Mindestlohnanhebung auf 12 Euro aus: Zwischen Anfang
2022 und Anfang 2023 stiegen die Stundenlöhne von
Mindestlohnbezieherinnen und -beziehern
inflationsbereinigt um 12,4 Prozent – ein spürbarer
Beitrag, um in der durch den Ukraine-Krieg
ausgelösten Krise Nachfrage und
Wirtschaftsentwicklung zu stützen.
Das
zeigt der neue internationale Mindestlohnbericht des
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
(WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.* Allerdings handele
es sich dabei um eine Momentaufnahme, betonen die
Studienautoren Dr. Malte Lübker und Prof. Dr.
Thorsten Schulten: Da die nächste
Mindestlohnanpassung erst zum Januar 2024 vorgesehen
ist, werde ein Teil des Zuwachses durch die
weiterhin hohe Inflation in diesem Jahr aufgezehrt –
anders als etwa in Frankreich, den Niederlanden oder
Belgien, wo die Mindestlöhne 2023 auch unterjährig
erhöht werden.
Deshalb ist es nach Analyse der Forscher auch
wahrscheinlich, dass Deutschland bei der absoluten
Höhe des Mindestlohns in den nächsten Monaten von
mehreren dieser Länder überholt wird und den
aktuellen Platz zwei in der EU wieder verliert.
Zudem zeigt die Forschung, dass Haushalte mit
niedrigen Einkommen überdurchschnittlich stark von
der Teuerung betroffen sind, weil sie ihr Geld vor
allem für Lebensmittel und Energie ausgeben, die
aktuell stärksten Preistreiber. Auch in Deutschland
stelle sich daher beim Mindestlohn
„Kaufkraftsicherung als zentrale Aufgabe in Zeiten
hoher Inflation“, betonen die WSI-Forscher in ihrer
neuen Untersuchung.
18 EU-Staaten haben ihre Mindestlöhne zum
Jahreswechsel 2023 erhöht, mehrere zudem auch
während des Jahres 2022. Der mittlere Zuwachs
(Medianwert) in der Europäischen Union betrug
gegenüber dem 1. Januar 2022 nominal 12 Prozent. Das
ist der mit Abstand höchste Wert seit dem Jahr 2000.
Durch den sprunghaften Anstieg der Verbraucherpreise
lag die inflationsbereinigte Steigerung im EU-Mittel
aber nur bei 0,6 Prozent. Dabei fällt die Spreizung
zwischen vielen Mitgliedsländern sehr groß aus: Sie
reicht von einem realen Zuwachs von 12,4 Prozent
beim Spitzenreiter Deutschland bis zu einem Verlust
von 6,7 Prozent beim Schlusslicht Estland.
Aktuelle Mindestlöhne in der EU
Mit einem Mindestlohn von
aktuell 12 Euro steht Deutschland zum Jahresbeginn
2023 unter den EU-Ländern an Position zwei, nachdem
die Bundesrepublik im Vorjahr wie durchgängig seit
Einführung des deutschen Mindestlohns noch an
sechster und letzter Stelle unter den
westeuropäischen EU-Mitgliedern gelegen hatte. Ein
deutlich höherer Mindestlohn gilt derzeit nur in
Luxemburg (13,80 Euro). Mit geringem Abstand auf
Deutschland folgen die Nachbarländer Belgien (11,85
Euro) und die Niederlande (11,75 Euro).
In Irland müssen mindestens 11,30 Euro pro Stunde
gezahlt werden, in Frankreich 11,27 Euro (siehe auch
die Abbildung in der pdf-Version dieser PM; Link
unten). Belgien, die Niederlande und möglicherweise
auch Frankreich dürften in diesem Jahr aber wieder
an Deutschland vorbeiziehen, weil hier die
Lohnuntergrenzen bis Jahresende voraussichtlich
erneut erhöht werden. In Belgien und Frankreich ist
beispielsweise gesetzlich geregelt, dass der
Mindestlohn zeitnah mindestens die Preissteigerung
ausgleichen muss.
Außerhalb der EU haben aktuell mehrere
US-Bundesstaaten, Australien, Neuseeland und
Großbritannien ein ähnliches Niveau wie Westeuropa
oder sogar höhere Mindestlöhne (Details siehe
unten). Kein gesetzlicher Mindestlohn existiert in
Österreich, den nordischen Ländern und Italien. In
diesen Staaten besteht aber eine sehr hohe
Tarifbindung, die auch vom Staat stark unterstützt
wird. Faktisch ziehen dort also Tarifverträge eine
allgemeine Untergrenze, sodass der Niedriglohnsektor
dort meist kleiner als in Deutschland ist.
Die Mindestlöhne in den südeuropäischen EU-Staaten
reichen mit Stand 1. Januar 2023 von 4,12 Euro in
Griechenland und 4,50 Euro in Portugal bis zu 6,55
Euro in Spanien. Etwas darüber liegt mit 6,96 Euro
Slowenien. In den meisten anderen mittel- und
osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne
niedriger. Allerdings haben Litauen und Polen mit
Lohnuntergrenzen von 5,14 bzw. umgerechnet 4,87 Euro
mittlerweile mehrere „alte“ südeuropäische
Mitgliedsstaaten überholt. In der Tschechischen
Republik müssen aktuell umgerechnet mindestens 4,23
Euro pro Stunde gezahlt werden, in Kroatien 4,05
Euro und in der Slowakei 4,02 Euro. Die EU-weit
niedrigsten Mindestlöhne gelten in Rumänien mit
umgerechnet 3,64 Euro, Ungarn mit 3,41 Euro und
Bulgarien mit 2,41 Euro.
Die Niveauunterschiede spiegeln zum Teil
unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt
man Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert
sich der Abstand zwischen den EU-Ländern mit
niedriger und relativ hoher Untergrenze spürbar
(siehe Abbildung 2 im Mindestlohnbericht; Link
unten). Polen (in KKS knapp 8 Euro), Slowenien, aber
auch Rumänien liegen bei dieser Betrachtungsweise
beispielsweise vor (fast) allen südeuropäischen
Mitgliedsstaaten. Das Preisniveau in Deutschland
liegt über dem europäischen Durchschnitt, so dass
der Mindestlohn in KKS etwas niedriger ausfällt und
10,55 Euro beträgt. Bei den westeuropäischen
Nachbarn ist der Effekt noch größer.
Mindestlöhne außerhalb der EU
Auch außerhalb der EU sind
Mindestlöhne weit verbreitet. Exemplarisch
betrachtet das WSI die Mindestlöhne in 16
Nicht-EU-Ländern mit ganz unterschiedlichen
Mindestlohnhöhen. Sie reichen von umgerechnet 1,09
Euro in Brasilien, 1,30 Euro landesweit in Russland
über 6,96 Euro in Japan bis zu umgerechnet 10,90
Euro in Kanada, 11,14 Euro in Großbritannien, 12,78
Euro in Neuseeland und 14,10 Euro in Australien.
„Praktisch obsolet“ ist der landesweite Mindestlohn
nach Einschätzung der WSI-Experten in den USA, weil
er seit 2009 nicht mehr erhöht wurde und mit
umgerechnet 6,89 Euro nicht zum Überleben reicht.
Daher gibt es neben der sehr niedrigen nationalen in
mittlerweile 27 US Bundesstaaten und Washington DC
höhere regionale Untergrenzen. So beträgt der
Mindestlohn in Kalifornien umgerechnet 14,72 Euro
und in New York 13,49 Euro.
Wichtige Maßstäbe durch EU-Mindestlohnrichtlinie
Trotz einer leichten
Abschwächung des Preisdrucks bleibt die hohe
Inflation mindestens auch in diesem Jahr eine große
Herausforderung für die Mindestlohnpolitik in Europa
und auch Deutschland, konstatieren die WSI-Experten
Lübker und Schulten. Wichtige Orientierungssignale
für den Umgang damit setze die im Oktober 2022
verabschiedete Europäische Mindestlohnrichtlinie,
indem sie die „Kaufkraft der gesetzlichen
Mindestlöhne unter Berücksichtigung der
Lebenshaltungskosten“ als eines von mehreren
Kriterien für angemessene Mindestlöhne verbindlich
vorschreibt.
Auch die deutsche Mindestlohnkommission sollte
deshalb die Reallohnsicherung im Blick haben, wenn
sie über die nächste Anpassung des Mindestlohns zum
1. Januar 2024 berät, schreiben die Forscher.
Nennenswerter zusätzlicher Inflationsdruck sei auch
bei spürbaren Erhöhungen der europäischen
Mindestlöhne nicht zu befürchten. Das zeigen unter
anderem Studien der Europäischen Zentralbank und der
Bundesbank, die die WSI-Experten zitieren.
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