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					Düsseldorf/Duisburg, 
					09. Januar 2023 - Studie analysiert u.a. Einfluss von 
					EuGH-Rechtsprechung Neues Rechtsgutachten: Arbeitsrechtliche 
					Privilegien für Kirchen nicht mehr haltbar – Grundrechte von 
					Beschäftigten gestärkt Die Kirchen konnten in 
					arbeitsrechtlichen Angelegenheiten lange auf weitgehende 
					Sonderregelungen pochen. 
  Tatsächlich ist die Ungleichbehandlung von Beschäftigten 
					aber nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt. Das zeigt ein 
					neues Rechtsgutachten, das das Hugo-Sinzheimer-Institut 
					(HSI) der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat.*
 
 Die Vorstellung, dass sich der Arbeitgeber in ihr 
					Privatleben einmischen oder ihnen eine bestimmte 
					Weltanschauung vorschreiben könnte, dürfte den meisten 
					Beschäftigten befremdlich erscheinen. Kirchliche 
					Beschäftigte sind daran gewöhnt: Etliche von ihnen haben in 
					der Vergangenheit ihre Stelle verloren, weil sie sich 
					beispielsweise für eine zweite Ehe oder eine 
					gleichgeschlechtliche Partnerschaft entschieden haben.
 
 Deutsche Arbeitsgerichte haben dem Gebaren der Kirchen 
					regelmäßig ihren Segen erteilt – mit Verweis auf deren 
					Selbstbestimmungsrecht. Wie weit dieses Recht reicht, hat 
					der ehemalige Arbeitsrichter Peter Stein in einem Gutachten 
					für das HSI erörtert. Die Grenzen sind demnach enger 
					gesteckt, als es die Rechtsprechung hierzulande über 
					Jahrzehnte vorgegeben hat: Das kirchliche 
					„Nebenarbeitsrecht“ sei spätestens nach mehreren Urteilen 
					des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht mehr haltbar, 
					schreibt Stein, der an einem der Verfahren vor dem EuGH als 
					Anwalt beteiligt war.
 
 Vorgaben, die in die private Lebensführung eingreifen und 
					auf eine Ungleichbehandlung von Beschäftigten hinauslaufen, 
					seien allenfalls bei „verkündigungsnahen“ Tätigkeiten 
					rechtmäßig. Ob das im Einzelfall zutrifft, hätten nicht die 
					Kirchen selbst, sondern staatliche Gerichte zu entscheiden. 
					Die Stellung der Kirchen im Staat sei im Grundgesetz in 
					Artikeln geregelt, die aus der Weimarer Reichsverfassung 
					übernommen wurden, erklärt der Jurist. Darin finde sich 
					unter anderem ein „Recht der Glaubensgemeinschaften auf 
					Selbstverwaltung innerhalb der Schranken des für alle 
					geltenden Rechts“.
 
 Die Verfassung habe in erster Linie klarstellen wollen, dass
					für die Kirchen die gleichen Rechte wie für alle 
					gelten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe 
					den Artikel dagegen zu einer Schutznorm der Kirchen gegen 
					den Staat umgedeutet und das kirchliche 
					Selbstverwaltungsrecht hin zu einem Selbstbestimmungsrecht 
					extrem ausgeweitet, insbesondere im Arbeitsrecht. Um 
					Streitigkeiten zu entscheiden, bei denen es um Verstöße von 
					Beschäftigten gegen „Loyalitätspflichten“ geht, müssen die 
					Arbeitsgerichte laut BVerfG das Selbstverständnis der 
					Kirchen als Maßstab zugrunde legen. Stein hält das für wenig 
					überzeugend: Ein bloßer Nachvollzug des Selbstverständnisses 
					von Glaubensgemeinschaften habe mit eigenständiger Kontrolle 
					durch die Rechtspflege nichts zu tun.
 
 Mit der Maxime „Plausibel ist, was die Kirche für plausibel 
					hält“ hätten die Karlsruher Richter einen „kontrollimmunen 
					Interpretationsprimat“ der Kirchen installiert und „die 
					christliche Wertemoral in exzessivem Umfang gegenüber dem 
					staatlichen Arbeitsrecht“ privilegiert. Vernachlässigt 
					hätten sie dagegen die Grundrechte der Beschäftigten, gegen 
					die das Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften 
					abgewogen werden müsse.
 
 Dass die „Überbetonung kirchlicher Sichtweisen“ ein Irrweg 
					ist, hat dem Gutachten zufolge 2018 auch der EuGH bestätigt. 
					Die EU-Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie enthalte zwar 
					Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot, die sich durch 
					berufliche Anforderungen rechtfertigen lassen und auf die 
					sich Kirchen berufen können, wenn sie zum Beispiel die 
					Konfession als Einstellungskriterium verwenden. Allerdings 
					seien diese Ausnahmen eng auszulegen: Der Aufgabenbereich, 
					der ohne eine bestimmte Religion nicht ausgeübt werden kann, 
					müsse „quantitativ einen erheblichen Teil des gesamten 
					Aufgabenfeldes ausmachen“.
 
 Zudem müsse die Diskriminierung „geeignet“ und sachlich 
					notwendig sein. Bei verkündigungsnahen Tätigkeiten, 
					beispielsweise als Pfarrer, Rabbi oder Imam, sei regelmäßig 
					davon auszugehen, dass das der Fall ist. Auch bei 
					Religionslehrerinnen erscheine das plausibel. Nicht dagegen, 
					wenn es um Sportlehrer oder Ärztinnen an konfessionellen 
					Schulen oder Krankenhäusern geht. In solchen Fällen sei das 
					legitime Interesse der Kirchen durch „loyales und 
					aufrichtiges Verhalten“ gewahrt. Nötig sei Rücksichtnahme 
					auf die Werte des Arbeitgebers, nicht Übernahme. Die 
					Ungleichbehandlung dürfe sich zudem nur auf die Religion 
					oder Weltanschauung beziehen, nicht dagegen auf die sexuelle 
					Orientierung.
 
 Die Beweislast dafür, dass im Einzelfall Gefahr für ihr 
					Ethos oder ihr Recht auf Autonomie besteht, liege vor 
					Gericht bei den Kirchen. Um für Klarstellungen im deutschen 
					Recht zu sorgen und es in Einklang mit Unionsrecht zu 
					bringen, empfiehlt der Autor Anpassungen im Allgemeinen 
					Gleichbehandlungsgesetz. Ob eine gerechtfertigte berufliche 
					Anforderung vorliegt, dürfe sich nicht nach dem kirchlichen 
					Selbstbestimmungsrecht bestimmen, sondern allein nach der 
					Art der Tätigkeit.
 
 Zudem sollte der Geltungsbereich des 
					Betriebsverfassungsgesetzes auf kirchliche Einrichtungen 
					ausgedehnt werden, wird doch über die kirchliche 
					Mitarbeitervertretung neben den Interessen der Beschäftigten 
					zugleich auch ein kirchliches Amt vertreten. Das Recht zu 
					streiken steht kirchlichen Beschäftigten nach Steins 
					Einschätzung bereits jetzt zu, weil ohne dieses Recht keine 
					Lohnverhandlungen auf Augenhöhe möglich sind.
 
 *Peter Stein Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im 
					Arbeitsrecht und seine Grenzen, HSI-Schriftenreihe Band 47, 
					Januar 2023
					
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