| Kommissionsvorschlag geht in 
							die richtige Richtung, aber entscheidend ist 
							konkrete Ausgestaltung 
							
 
  
 Düsseldorf/Duisburg, 
							05. Januar 2023 - Die 
							EU-Fiskalregeln sollen 2023 reformiert werden. Ein 
							Vorschlag der Europäischen Kommission dafür liegt 
							auf dem Tisch. Der Europäische Rat und das 
							Europäische Parlament werden dazu demnächst Stellung 
							beziehen. Kernpunkte des Vorschlags: Der ehemals 
							zentrale Referenzwert für die Staatsverschuldung von 
							60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verliert 
							an Bedeutung, stattdessen soll die Konsolidierung in 
							hochverschuldeten Ländern über mit der Kommission 
							verhandelte „mittelfristige Haushaltsstrukturpläne“ 
							organisiert werden.
 
 Der Kommissionsvorschlag bleibt zwar an manchen 
							Stellen hinter den Möglichkeiten zurück, er geht 
							aber in die richtige Richtung, ergibt eine neue 
							Analyse des Instituts für Makroökonomie und 
							Konjunkturforschung (IMK) der 
							Hans-Böckler-Stiftung.* Denn er lässt mehr 
							Spielräume, um trotz Konsolidierungskurs bessere 
							Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum und 
							für Investitionen zu schaffen, die insbesondere im 
							Rahmen der sozial-ökologischen Transformation 
							dringend nötig sind. Ob das wirklich gelingt, hängt 
							allerdings von der weiteren konkreten Ausgestaltung 
							der Pläne ab: Es wird entscheidend darauf ankommen, 
							dass durch die von der Kommission vorgegebenen Pfade 
							keine überschnelle Konsolidierung erzwungen wird, so 
							die Ökonomen des IMK.
 
 Die bestehenden Fiskalregeln zum 
							„Stabilitäts- und Wachstumspakt“ standen lange aus 
							verschiedenen Gründen in der Kritik: zu 
							ambitionierte Abbaupfade, unrealistische und nicht 
							zu beobachtende Zielgrößen, prozyklische 
							Auswirkungen, vernachlässigte öffentliche 
							Investitionen und unter dem Strich Erfolglosigkeit 
							darin, Stabilität und Wachstum zu gewährleisten. Da 
							die derzeit ausgesetzten Regeln ab 2024 wieder 
							gelten sollen, hat die Kommission Ergebnisse aus 
							einem zweijährigen Konsultationsprozess aufgegriffen 
							und weitreichende Vorschläge zur Vereinfachung der 
							Fiskalregeln gemacht. Zentrale Punkte sind: Die 
							Einführung einer Ausgabenregel: Künftig soll die 
							Entwicklung der nationalen Netto-Primärausgaben 
							(also die Staatsaugaben ohne Zinszahlungen, 
							Zahlungen von Arbeitslosengeld und durch 
							Steuererhöhungen gedeckte Mehrausgaben) als einziger 
							Indikator genutzt werden, um die Einhaltung des 
							Defizit- und Schuldenkriteriums zu bewerten.
 
 Maastricht-Kriterien:
 Die Kommission rührt die Verträge zwar 
							nicht an, daher bleiben 60 Prozent als Referenzwert 
							für die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP 
							offiziell bestehen. Konkrete Zeitrahmen zur Rückkehr 
							zur 60-Prozent-Marke gibt es aber nicht. Vielmehr 
							soll es darum gehen, auf einen sinkenden Pfad oder 
							ein dauerhaft niedriges Niveau der Schuldenquote zu 
							kommen. Die Defizitregel hingegen, nach der das 
							jährliche Defizit drei Prozent des BIP nicht 
							überschreiten darf, soll künftig wieder strikter 
							eingehalten und Nicht-Einhaltung sanktioniert 
							werden.
 
 Nationale mittelfristige 
							Haushaltsstrukturpläne
 Bei einer Verschuldung oberhalb von 60 Prozent soll 
							der Ausgabenpfad, den ein Mitgliedsland mit seinem 
							Staatshaushalt verfolgen kann, künftig nach einer 
							Analyse der Schuldentragfähigkeit von der Kommission 
							vorgegeben werden. Demnach haben Staaten 
							standardmäßig vier Jahre Zeit, um auf einen 
							sinkenden Pfad der Schuldenquote zu kommen. 
							Mitgliedsstaaten sollen nach der Festlegung des 
							Pfades Pläne einreichen, in denen sie darlegen, mit 
							welchen Maßnahmen dieser Pfad erreicht werden soll. 
							Anschließend wird der Plan durch Kommission und Rat 
							gebilligt und während des vorgegebenen Zeitraums 
							jährlich die Einhaltung geprüft.
 
 Legen Mitgliedsstaaten Reform- und Investitionspläne 
							vor, die das BIP glaubwürdig und ausreichend 
							steigern, kann der Zeitraum des Plans um drei Jahre 
							verlängert werden. Der Abbaupfad soll dabei 
							vollständig die bisher geltende 1/20-Regel ersetzen, 
							die besagt, dass Staaten jedes Jahr 1/20 des Anteils 
							der Schuldenquote abbauen müssen, der über der 
							60-Prozent-Marke liegt. Diese strikte Vorgabe war 
							stark kritisiert worden und erwies sich in der 
							Praxis als absolut unrealistisch.
 
 „In Summe sind die Vorschläge der Kommission ein 
							großer Schritt in die richtige Richtung“, schreiben 
							die IMK-Experten Christoph Paetz, Dr. Andrew Watt, 
							Hendrik Becker und PD Dr. Sebastian Watzka in ihrer 
							Analyse. Es zeige sich eine spürbare Verlagerung, 
							weg von einem „Fokus auf das kurzfristige Erreichen 
							fiskalischer Zielmarken hin zu einer 
							wachstumsfreundlicheren fiskalischen Ausrichtung“. 
							Die nationalen Pfade und Pläne erlaubten eine 
							länderspezifische Herangehensweise sowie 
							verschiedene Geschwindigkeiten bei der 
							Konsolidierung. Das ist besonders wichtig, da 
							pauschale und zu schnelle Ausgabenkürzungen negative 
							Folgen auf das Wirtschaftswachstum haben, betonen 
							die Forscher.
 
 Positiv bewerten die Ökonomen auch die explizite 
							Berücksichtigung von öffentlichen Investitionen im 
							Kommissionsvorschlag. Die mögliche Verlängerung der 
							Haushaltspläne auf sieben Jahre zeige, dass 
							Mitgliedstaaten hier bald mehr Möglichkeiten haben 
							könnten, den massiven öffentlichen 
							Investitionsbedarf zu decken. In welchem Ausmaß 
							Investitionen dann tatsächlich möglich sein werden, 
							sei allerdings unklar. Denn der Vorschlag bleibe bei 
							den weiteren Kriterien eher vage, er enthält keine 
							„goldene Regel“, die vorsieht, dass 
							kreditfinanzierte öffentliche Netto-Investitionen 
							grundsätzlich erlaubt sind. Unter anderem das IMK 
							hatte eine derartige klare Regelung gefordert. 
							Immerhin, so die Wissenschaftler, ließen Aussagen 
							von EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni hoffen, 
							„dass über die vorgeschlagene Regel in den 
							nationalen Plänen ähnlich viele Investitionen 
							möglich sein werden.“
 
 Neben dem Schutz von öffentlichen Investitionen ist 
							es für den Erfolg von Konsolidierungsprozessen 
							zentral, dass die Ausgabenpfade keine zu rabiaten 
							Kürzungen enthalten, die die Konjunktur im Land 
							abwürgen. Dies unterstreichen Simulationsrechnungen 
							mit dem weit verbreiteten makroökonomischen Modell 
							NiGEM, in denen die Wissenschaftler untersucht 
							haben, wie sich strengere oder weniger strenge 
							Ausgabenpfade bis 2032 auf Wirtschaftsentwicklung 
							und Schuldenstände im Euroraum auswirken.
 
 Die Effekte sind eindeutig: Mit allen untersuchten 
							Pfaden lässt sich ein spürbarer und kontinuierlicher 
							Rückgang von Schuldenquoten und Defiziten erreichen. 
							Allerdings unterscheiden sich die genauen 
							Wirkungszusammenhänge deutlich: Strengere Regeln 
							führen zwar zu einer etwas schnelleren 
							Konsolidierung, weil kurzfristig weniger ausgegeben 
							wird. Sie wirken sich aber negativ auf die 
							Ausgabenmöglichkeiten des Staates und das BIP aus, 
							kosten also spürbar Wohlstand. Der Umstieg auf eine 
							Ausgabenregel verbessert somit laut der IMK-Analyse 
							die Voraussetzungen für nachhaltige und erfolgreiche 
							Konsolidierungsschritte bei gleichzeitig wachsendem 
							Wohlstand, er ist aber kein Selbstläufer.
 
 Bei den weiteren Verhandlungen über den Vorschlag 
							der EU-Kommission sollten alle Institutionen „im 
							Blick behalten, dass ein Drängen auf zu schnelle 
							Konsolidierung Wachstum und Stabilität im Euroraum 
							wieder gefährden könnte“, schreiben die Forscher. 
							Zudem wäre es angesichts des großen 
							Investitionsbedarfs in der EU wichtig, dass die 
							künftig von der Kommission vorgegebenen nationalen 
							Anpassungspfade geeignet seien, um die Weichen für 
							öffentliche Investitionen in wichtigen Bereichen wie 
							etwa dem Klimaschutz zu stellen.
 
 *Hendrik Becker, Christoph Paetz, Andrew Watt, 
							Sebastian Watzka Reform der EU-Fiskalregeln: 
							Kommissionsvorschlag erster Schritt in die richtige 
							Richtung. IMK Kommentar Nr. 10, Januar 2023
							
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