Kunst in der Mercatorhalle

Jiří Tichý - Jean Lurçat

 

Kunst in der Mercatorhalle

Duisburg, April 2007 - Seit Jahrhunderten sind öffentliche Kulturbauten mit künstlerischen Programmen verbunden. Die Künste übernahmen die Aufgaben, durch Einzelwerke oder Zyklen auf die spezifischen Funktionen der Bauten hinzuweisen, die repräsentative Wirkung der Architektur zu unterstützen und zu überhöhen bzw. einen Dialog zwischen Kunst und Architektur erlebbar zu machen.

 

Die abendländische Kunstgeschichte kennt als monumentale, auf die Architektur bezogene Künste: seit der Antike die Freskomalerei, seit dem Mittelalter auch die Bildteppiche oder Tapisserien. Diese Monumentalkünste gelangen insbesondere bei anspruchsvollen Kulturbauten zum Tragen. In Bildprogrammen und Zyklen übernehmen sie nicht nur dekorative und repräsentative Funktionen, sondern leisten auch inhaltliche Bezüge.

 

Seit dem Beginn der Moderne im frühen 20. Jahrhundert begegnen uns zwei verschiedene Formen der monumentalen Künste im Verhältnis zur Architektur: das autonome und das ortspezifische, für eine bestimmte Architektur konzipierte und ausgeführte Kunstwerk. Beide Verfahren gelangen beim Kunstprogramm in der Mercatorhalle zum Tragen.

 

Dieses Kunstprogramm folgt einem in sich schlüssigen Konzept. Aus der alten Mercatorhalle wurden die beiden Tapisserien des Franzosen Jean Lurçat (1892 – 1966), die er 1960 und 1961 geschaffen hatte, in den zum König – Heinrich – Platz geöffneten Seitenraum des Konzertsaalfoyers transferiert. Als wären diese beiden dialogisch aufeinander bezogenen Tapisserien für diesen Raum geschaffen, wirken sie zwischen Decke und Boden als Wand-Vorhang.

 

Während Jean Lurçat die Tapisserie aus ihren historischen ästhetischen Gesetzmäßigkeiten des Mittelalters und des Jugendstils erneuerte, konnte der Tscheche Jiří Tichý (geb. 1924) als einer der Väter der Neuen Textilkunst der 1960er / 1970er Jahre auf den strukturellen Errungenschaften des Informel aufbauen. Wie Lurçat gehört Tichý zu den großen Farbkünstlern dieser Monumentalkunst, beide begegneten sich noch auf der Biennale Internationale de la Tapisserie in Lausanne, Jahrzehnte lang das weltweite Zentrum zeitgenössischer Textilkunst.

 

Heute flankieren zwei Tapisserien von Jiří Tichý aus den Jahren 1969 und 1995 die Seitenwände vor dem Eingang zum Konzertsaalfoyer. Das Architektenbüro Busmann & Haberer hat die beiden Wände speziell für das vorgesehene Hoch- und Querformat der Tapisserien geplant, damit auch diese Tapisserien eine Einheit mit der Architektur bilden können.

 

Die leuchtend strahlende Farbkomposition von Sol LeWitt (1928 – 2007) ist vom Künstler am Computer in detailgenauer Kenntnis der zweigeschossigen Foyer-Wand entwickelt worden. Es sollte der letzte öffentliche Auftrag im Leben dieses großen amerikanischen Konzept- und Minimalkünstlers werden. Ausgeführt hat seinen Entwurf eine Gruppe von Künstlern unter der Leitung von Nicolai Angelov, dem aus Bulgarien stammenden und in Berlin lebenden Maler, der seit gut zehn Jahren Wandmalereien und Wandzeichnungen von Sol LeWitt in Europa realisiert hat. Diese zweigeschossige, 50m breite Acrylmalerei, die siebenfach auf gespachtelten Gipsgrund aufgetragen wurde, verspannt beide Foyer-Ebenen durch schwarze Diagonalbänder und vertikal miteinander korrespondierenden Farbfeldern. Gleichzeitig unterbrechen schmale weiße Streifen hinter den Säulen den Farbfeldrhythmus von Rot, Gelb, Blau, Orange, Violett und Grün, so dass jedes Farbfeld zugleich eine eigenständige Bildkomposition darstellt. Der Besucher, der das Foyer entlang geht, erlebt zugleich „bewegte Bilder“, da sich die weißen Architektursäulen optisch in die Farbfelder schieben, Vorsprünge der Architektur an den Zugängen zum Konzertsaal ebenfalls die Wahrnehmung der Malerei verändern.

 

So ergibt sich insgesamt beim Kunstprogramm der Mercatorhalle ein Dreiklang von rhythmisierten und strukturierten Farbkompositionen aus den Monumentalkünsten Tapisserie und Wandmalerei, entworfen von drei herausragenden internationalen Künstlern des 20. Jahrhunderts.

 

Christoph Brockhaus

 

Jiří Tichý

 

České Velenice 1924, lebt in České Budĕjovice (Budweis)

 

Geschichten von einigen Tüten, 1969

Tapisserie, 520 x 390 x 15 cm

Konzert, genannt babylonisch, 1995

Tapisserie, 160 x 257 x 5 cm

Entwurf und Ausführung: Jiří Tichý

Stadt Duisburg

 

„Geschichten von einigen Tüten“ schuf der tschechische Maler, Bildhauer, Textilkünstler, Zeichner und Grafiker Jiří Tichý für die Weltausstellung „Biennale internationale de la Tapisserie“ in Lausanne 1969; zugleich gehört sie zum 7-teiligen Hauptwerk des Künstlers, dem „Lebenszyklus“, der zuletzt 2004 im Wilhelm Lehmbruck Museum ausgestellt wurde.

 

„Konzert, genannt babylonisch“ ist Teil eines Werkzyklus der 1990er Jahre, der sich in der kompositionellen Anlage einer abstrakten Landschaft speziell mit musikalischen Prinzipien wie Linie, Rhythmus, Farbklaster, Raumklängen und Struktur beschäftigt.

 

So unterschiedlich diese beiden Tapisserien von ihrer Entstehungszeit, Konzeption und Farbigkeit hier sind, so verbinden sie dennoch eine Vielzahl von einzelnen Elementen: die Ausführung beider Werke stammt vom Künstler selber, improvisiert nach kleinformatigen Skizzen; eine geringe Anzahl von Farbfäden wird in vielfältigster Weise strukturiert und kombiniert, so dass sich ein lebendiges Oberflächenrelief ergibt; beide Tapisserien lösen sich vom rechtwinkligen Format und entwickeln bizarre Umrissformen; die Kette (einmal schwarz, einmal weiß), Fäden und Seile bilden grafische Ausdruckspotentiale.

 

Auch Jiří Tichý errang Weltgeltung (trotz Einschränkungen während der kommunistischen Diktatur). Seine Werke befinden sich in öffentlichen und privaten Sammlungen in Europa, Japan, Indien und den USA.

 

Christoph Brockhaus

 

Jean Lurçat

 

Bruyères 1892 – 1966 Saint-Paul-de-Vence

 

Der Baum und der Mensch, 1960

Tapisserie, 300 x 700 cm

Die Sonne und das Meer, 1961

Tapisserie, 290 x 390 cm

Entwürfe: Jean Lurçat

Ausführung: Webmanufaktur Aubusson

Stadt Duisburg

 

Jean Lurçat (1892 – 1966) galt schon zwischen den Weltkriegen als angesehener französischer Maler und Grafiker. Wichtiger noch wurde er international in den beiden ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit als Erneuerer der Tapisserie in der Verbindung von moderner Formensprache und Rückbesinnung auf die mittelalterlichen räumlichen Qualitäten dieser Kunstgattung. Indem er die Tapisserien wieder als Wand-Vorhang begriff, verzichtete er auf perspektivisch angelegte Bildkompositionen. Indem er in der Tapisserie ein Bildmedium sui geneneris erkannte, überwand er die Übertragung der Kartonmalerei in gewebte Bilder: Er reduzierte die Farbpalette auf fünf Töne pro Farbe, verwendete höchstens sieben bis acht Farben, benutzte lichtbeständige, erprobte Farbstoffe und grobes Gewebe. „Wandteppiche sind in erster Linie der Architektur zugeordnet“, schreibt Lurçat, und fährt fort: „Eine Tapisserie ist ein Gegenstand und ihrem Wesen nach ein Stoff, dessen Bestimmung in der Verkleidung einer Wand besteht, die ohne diesen Schmuck einer gewissen lebendigen Hülle, eines Hauches von Leidenschaftlichkeit entbehren würde... Um zu bezaubern, stimmt der Mensch einen Gesang an. Jedes Gedicht ist in Wahrheit ein Gesang; und jeder Mensch, der ein Gedicht schafft und es mit wohltönender Stimme singt, erschüttert und überzeugt seine Zuhörer.“

 

Einen poetischen Gesang stimmen diese beiden mythisch-kosmischen Tapisserie-Kompositionen an. Genesis und Paradies bilden hier einen Dialog in einer figurativ-oramentalen Zeichensprache.

 

Wandteppiche von Jean Lurçat hängen in zahlreichen berühmten Gebäuden der Welt, u. a. im UNO-Gebäude in New York. Jahrzehntelang hat sich Lurçat für die künstleriscshe Erneuerung der Tapisserie eingesetzt. 1962 gründete er das „Internationale Zentrum für alte und neue Wandteppiche“; daraus entstand im selben Jahr die „Internationale Biennale der Tapisserie in Lausanne“, bis in die 1990er Jahre hinein das weltweit wichtigste Zentrum der Neuen Textilkunst.

 

Christoph Brockhaus