Neue
Befragungsergebnisse
Duisburg,
20. Dezember 2022 - Knapp zehn
Monate nach Beginn des Kriegs in der Ukraine sind
die finanziellen Belastungen, die Erwerbstätige und
Arbeitsuchende in Deutschland verzeichnen, höher als
zu jedem Zeitpunkt während der Corona-Pandemie. Das
zeigt die neueste Welle der
Erwerbspersonenbefragung, die die
Hans-Böckler-Stiftung seit Frühjahr 2020 durchführt.
So ist der Anteil der Erwerbspersonen, die ihre
aktuelle finanzielle Situation als stark oder
äußerst belastend einstufen, groß und auf zuletzt 27
Prozent der Befragten noch weiter angewachsen
In allen Einkommensschichten lässt sich hier ein
Zuwachs beobachten – außer bei den
Einkommensreichsten mit monatlichen
Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen oberhalb von 5.000
Euro. Gleichwohl unterscheiden sich die
wahrgenommenen finanziellen Belastungen nach
Einkommen erheblich: Während unter den
Einkommensärmsten (weniger als 1.500 Euro monatlich
netto im Haushalt) teilweise rund die Hälfte starke
und äußerste finanzielle Belastungen berichtet, sind
es unter Befragten mit mittleren Einkommen (2.000
bis 3.500 Euro) rund ein Viertel, bei den
Einkommensreichsten lediglich 8 Prozent.
Zudem zeigen sich bei den neuesten Ergebnissen
erhebliche Differenzen bei der finanziellen
Belastung zwischen den Geschlechtern: So berichten
Frauen deutlich häufiger große oder äußerste
finanzielle Belastungen als Männer (31 vs. 23
Prozent). Für die neue, mittlerweile neunte, Welle
der Erwerbspersonenbefragung wurden im November
5.136 Erwerbstätige und Arbeitsuchende online zu
ihrer Lebenssituation befragt (mehr Informationen
zur Methode am Ende der PM). Die Bundesregierung hat
mehrere Entlastungspakete geschnürt.
Dabei finden vor allem zwei kürzlich beschlossene
Maßnahmen durchaus Anklang bei den Befragten:
Jeweils gut die Hälfte von ihnen ist mit den Gas-
und Strompreisbremsen oder dem 49-Euro-Ticket eher
zufrieden oder sehr zufrieden, während die
Ausweitungen beim Wohngeld bei gut einem Drittel auf
Zustimmung treffen. Durch die bisherigen
Hilfsmaßnahmen fühlen sich 26 Prozent etwas
entlastet, ein Prozent sehr entlastet, weitere 42
Prozent stellen eine geringfügige Entlastung fest.
Dabei unterscheiden sich die unterschiedlichen
Einkommensklassen hinsichtlich der Einschätzung, ob
sie sich von den bisherigen oder auch zukünftigen
Hilfsmaßnahmen entlastet sehen, kaum – lediglich die
Haushalte mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger
als 1.500 Euro fühlen sich weniger entlastet als
andere Einkommen und nehmen auch häufiger an, von
den künftigen Maßnahmen „gar nicht entlastet“ zu
werden.
Gleichzeitig sinkt das
Vertrauen in die Bundesregierung bei den Befragten
weiter. Ende November 2022 gaben noch 15 Prozent der
befragten Erwerbstätigen und Arbeitslosen an, sie
hätten hohes oder sehr hohes Vertrauen in die
Regierung. Bei der Befragungswelle vom April 2022
betrug der Wert hier 17 Prozent, davor im November
2021 noch 22 Prozent. Das Vertrauen in andere
Institutionen – wie die Polizei, die Gerichte und
die Bundeswehr – ist hingegen seit April wieder
gestiegen. Einen besonders starken Vertrauensgewinn
haben dabei mit einem Zuwachs von 8 Prozentpunkten
die Gewerkschaften zu verzeichnen.
„Trotz des aktuell niedrigen
Vertrauens in die Bundesregierung beobachten wir
keine generelle Abkehr von staatlichen oder
gesellschaftlichen Institutionen“, sagt Prof. Dr.
Bettina Kohlrausch. „Zudem sehen wir trotz der
niedrigen Vertrauenswerte, dass Menschen, die sich
von den Maßnahmen der Bundesregierung entlastet
fühlen, häufiger über einen Zuwachs des Vertrauens
in die Bundesregierung berichten“, erklärt die
Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung. Sie wertet zusammen mit den
WSI-Forschern Dr. Helge Emmler und Dr. Andreas
Hövermann die Befragung aus.
Entsprechend der Befunde zu den Belastungen,
dominieren auch bei den Sorgen der befragten
Erwerbspersonen wirtschaftliche Themen. So äußern 56
Prozent große Sorgen wegen der steigenden Preise und
47 Prozent große Sorgen um die allgemeine
wirtschaftliche Entwicklung – beide Werte sind im
Vergleich zur letzten Erhebung im April nochmals
angestiegen. Weiterhin steigend sind zudem die
Sorgen um eher gesellschaftliche Themen: Sowohl der
Anteil der Befragten, die sich große Sorgen um den
sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft als auch der
Befragten, die sich große Sorgen um die Entwicklung
der sozialen Ungleichheit machen, ist mit jeweils
rund 45 Prozent nochmals deutlich angestiegen auf
Rekordwerte seit Pandemiebeginn.
Gleichzeitig berichten weiterhin jedoch relativ
wenige Befragte von beruflichen Zukunftssorgen oder
Sorgen um ihre Arbeitsplatzsicherheit (11 Prozent).
„Wir haben sowohl während der Pandemie als auch des
Ukraine-Kriegs sehr niedrige Sorgen um die
Arbeitsplatzsicherheit beobachtet. Hier scheint sich
ein Mix aus staatlichen Maßnahmen, wie dem
Kurzarbeitergeld, und betrieblichen und tariflichen
Instrumenten positiv auf das Sicherheitsgefühl der
Beschäftigten auszuwirken“, sagt WSI-Direktorin
Kohlrausch.
Verteilung der Sorgearbeit
zwischen Männern und Frauen auf Vorkrisen-Niveau,
stärkste Belastungen bei Müttern, Homeoffice-Quote
rückläufig Bei einem anderen wichtigen Thema
deuteten die Daten auf ein fortbestehendes Problem
mit polarisierender Wirkung hin, so WSI-Direktorin
Kohlrausch: Mütter sind deutlich stärker belastet
als der Rest der Bevölkerung. Sie berichten im
Hinblick auf die familiäre, finanzielle und
Arbeitssituation sowie die Gesamtsituation am
häufigsten, äußerst oder stark belastet zu sein.
Belastungen durch die finanzielle Situation und die
Gesamtsituation sind bei Müttern zuletzt sogar noch
einmal gestiegen, während sie für den Rest der
Bevölkerung (auch Väter) rückläufig waren.
So klagten 40 Prozent der Mütter gegenüber 27
Prozent der Väter über starke oder äußerste
finanzielle Belastungen (siehe Abbildung 2). „Kitas
und Schulen sind zwar seit langem wieder geöffnet.
Aber offenbar sind die Betreuungsausfälle, etwa
durch häufige Erkrankungen, so groß, dass die
Erwerbstätigkeit mit Kind deutlich beeinträchtigt
ist. Und weiterhin fällt das Problem ganz
überwiegend auf die Mütter zurück“, deutet
Kohlrausch die Zahlen.
Während 22 Prozent
der Väter berichten, durch die Gesamtsituation
äußerst oder stark belastet zu sein, taten dies
Mütter deutlich häufiger (30 Prozent): „Wir konnten
bereits während früherer Phasen der Pandemie sehen,
wie stark insbesondere Mütter in verschiedenen
Bereichen besonders hohe Belastungen tragen mussten.
Jetzt wird auch in dieser Phase der Energiekrise
ersichtlich, dass es erneut die Mütter sind, die von
besonders hohen Belastungen berichten“, so Andreas
Hövermann.
Aktuell zeigt sich zudem, dass
sich die Verteilung der Sorgearbeit zwischen Müttern
und Vätern in etwa wieder auf dem Niveau vor Beginn
der Corona-Pandemie einpendelt. 63 Prozent der
Mütter gaben an, den überwiegenden Teil der
Kinderbetreuung zu leisten, während es bei den
Vätern 6 Prozent waren. „Hier lässt sich also eine
Verstetigung der schon vor der Krise sehr ungleichen
Verteilung der Sorgearbeit feststellen. Damit wird
deutlich, dass die von einigen Wissenschaftler*innen
vermutete Egalisierung der Geschlechterverhältnisse
während der Pandemie nicht stattgefunden hat.
Im Gegenteil sehen wir eine
Verschärfung der Ungleichheit, wenn wir uns die
Verteilung der Belastungen zwischen Müttern und
Vätern ansehen. Die Aufgabe, die unzuverlässige
Betreuung durch Kitas und Schulen zu kompensieren
und die psycho-sozialen Folgen der Pandemie
aufzufangen, bleibt überwiegend an den Müttern
hängen,” so Kohlrausch. Eine Rolle dabei könnte auch
spielen, dass die Homeoffice-Quote auf dem
niedrigsten Stand seit Beginn der Befragung ist. Im
November gaben 11,5 Prozent der Befragten an,
überwiegend oder ausschließlich zu Hause zu arbeiten
– weniger als halb so viele wie auf dem Höhepunkt
der Pandemie. Zwar ist der Anteil weiterhin deutlich
höher als in Vor-Corona-Zeiten, aber „der oft
beschworene Paradigmenwechsel weg von der
Präsenzkultur im Job lässt sich an diesen Zahlen
nicht ablesen“, sagt WSI-Forscher Helge Emmler.
|