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Februar 2025 |
Unwirksamkeit von Klauseln zu
Verwahrentgelten ("Negativzinsen") in Verträgen über Giro-,
Tagesgeld- und Sparkonten und von Klauseln zu Entgelten für
eine Ersatz-BankCard und eine Ersatz-PIN
Karlsruhe, Urteile vom 4. Februar 2025 - XI ZR 61/23, XI ZR
65/23, XI ZR 161/23 und XI ZR 183/23 Der u.a. für das
Bank- und Börsenrecht zuständige XI. Zivilsenat des
Bundesgerichtshofs hat mit vier Urteilen vom 4.
Februar 2025 entschieden, dass die von verschiedenen Banken
und einer Sparkasse gegenüber Verbrauchern verwendeten
Klausen zu Entgelten für die Verwahrung von Einlagen auf
Giro-, Tagesgeld- und Sparkonten unwirksam sind. Er hat in
dem Verfahren XI ZR 161/23 außerdem entschieden, dass die von
einer Bank gegenüber Verbrauchern verwendeten Klauseln zu
Entgelten für die Ausstellung einer Ersatz-BankCard und einer
Ersatz-PIN unwirksam sind.
Sachverhalt und
bisheriger Prozessverlauf: Die Kläger in den
vier Verfahren sind seit über vier Jahren als qualifizierte
Einrichtungen in die Liste nach § 4 UKlaG eingetragene
Verbraucherschutzverbände.
Die in dem Verfahren XI ZR
61/23 beklagte Sparkasse verwendete im Zeitraum vom 1. bis
zum 13. Februar 2020 auf ihrer Internetseite im Zusammenhang
mit von ihr angebotenen Giroverträgen folgende Klausel:
"Verzinsung Zinssatz für Guthaben (täglich fällige
Gelder) 0,00 % Verwahrentgelt für Guthaben ab 5.000,01 €
(Freibetrag 5.000 €)*- 0,70 % p.a. *Das Verwahrentgelt
auf allen Privatgirokonten, die ab dem 01.02.2020 neu
eröffnet werden, beträgt ab einer Einlagenhöhe von 5.000,01 €
0,70 % p.a. (Freibetrag 5.000,00 €). Die gleiche Regelung
gilt für Kontomodellwechsel ab dem 01.02.2020."
Die
in dem Verfahren XI ZR 65/23 beklagte Bank verwendet in ihrem
Preis- und Leistungsverzeichnis folgende Klausel:
"Privatkonten […] Entgelt für die Verwahrung von
Einlagen über 10.000 EURpro Jahr 0,50 % p.a. Freibetrag¹4
¹4 Vom Kunden zu zahlendes Verwahrentgelt bei
Neuanlage/Neuvereinbarung ab 01.04.2020 für Einlagen über
10.000 EUR Freibetrag auf das auf dem Konto verwahrte
Guthaben, das den aktuellen Freibetrag übersteigt."
Die in dem Verfahren XI ZR 161/23 beklagte Bank verwendet in
ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis für die von ihr
angebotenen Girokonten folgende Klausel: "3.2Entgelt für
die Verwahrung von Einlagen Girokonten […] – Verträge ab
01.08.2020¹6 Einlagen bis 25.000,00 EUR0,00 % p.a.
Einlagen über¹7 25.000,00 EUR0,50 % p.a. […] Die
Berechnung erfolgt taggenau. Die Belastung der Gebühr erfolgt
monatlich nachträglich zulasten des jeweiligen Kontos.
[…] ¹6 Für Verträge mit Abschlussdatum vor dem 01.08.2020
erfolgt die Bepreisung ab Unterzeichnung der individuellen
Zusatzvereinbarung. ¹7 Bepreisung erfolgt auf den
übersteigenden Betrag."
Sie bietet Verbrauchern unter
der Bezeichnung "SpardaCash" und "SpardaCash Online"
außerdem Tagesgeldkonten an. In ihrem Preis- und
Leistungsverzeichnis heißt es hierzu wie folgt:
"SpardaCash – Verträge ab 01.08.2020¹6 Ein SpardaCash¹8
Einlagen bis50.000,00 EUR0,00 % p.a. Einlagen über¹7
50.000,00 EUR0,50 % p.a. Jedes weitere SpardaCash¹8
Einlagen über¹7 0,00 EUR0,50 % p.a. SpardaCash Online –
Verträge ab 01.08.2020¹6 Ein SpardaCash Online¹8
Einlagen bis50.000,00 EUR0,00 % p.a. Einlagen über¹7
50.000,00 EUR0,50 % p.a. Jedes weitere SpardaCash
Online¹8 Einlagen über¹7 0,00 EUR0,50 % p.a.
Die
Berechnung erfolgt taggenau. Die Belastung der Gebühr erfolgt
monatlich nachträglich zulasten des jeweiligen Kontos.
[…] ¹6 Für Verträge mit Abschlussdatum vor dem 01.08.2020
erfolgt die Bepreisung ab Unterzeichnung der individuellen
Zusatzvereinbarung. ¹7 Bepreisung erfolgt auf den
übersteigenden Betrag. ¹8 Erstes bestehendes Konto gemäß
Eröffnungsdatum je Kundenstamm; bei gleichem Eröffnungsdatum
ist die niedrigere Kontonummer entscheidend."
In dem
Kapitel über die Erbringung von Zahlungsdiensten für
Privatkunden ihres Preis- und Leistungsverzeichnisses
verwendet die Beklagte außerdem folgende Klauseln:
"4.4Kartengestützter Zahlungsverkehr 4.4.1Debitkarten
4.4.1.1BankCard […] - Ersatzkarte²8 12,00 EUR -
Ersatz-PIN²8 auf Wunsch des Kunden 5,00 EUR […] ²8
Wird nur berechnet, wenn der Kunde die Umstände, die zum
Ersatz der Karte/PIN geführt haben, zu vertreten hat und die
Bank nicht zur Ausstellung einer Ersatzkarte/Ersatz-PIN
verpflichtet ist."
Die in dem Verfahren XI ZR 183/23
beklagte Bank verwendete in den Jahren 2020 bis 2022 in ihrem
Preis- und Leistungsverzeichnis im Kapitel über den
Geschäftsverkehr mit Verbrauchern unter den Überschriften
"Sichteinlagen" und "Spareinlagen" jeweils folgende Klausel:
"Verwahrung von Einlagen oberhalb des Freibetrags für
alle Einlagen- & Girokonten Verwahrentgelt 0,5 % p.a."
In einer Fußnote verwies die Klausel auf das Kapitel
über die Verwahrung von Einlagen für alle Kunden, in dem für
verschiedene Zeiträume Freibeträge in Höhe von 50.000 €,
100.000 € und 250.000 € genannt waren.
Der
Preisaushang der Beklagten, in dem die Konditionen für Spar-,
Tagesgeld- und Girokonten wiedergegeben sind,
enthielt folgende Klauseln: "Verwahrentgelt für
die Verwahrung von Einlagen auf allen Einlagen- & Girokonten
- für ab dem 01.07.2020 bis einschließlich 30.09.2020
neu eingerichtete Kundennummern oberhalb Freibetrag von
250.000,00 € 0,5 % p.a. - für ab dem 01.10.2020 bis
einschließlich 09.05.2021 neu eingerichtete Kundennummern
oberhalb Freibetrag von 100.000,00 € 0,5 % p.a. - für ab
dem 10.05.2021 neu eingerichtete Kundennummern oberhalb
Freibetrag von 50.000,00 € 0,5 % p.a."
Mit
Bestandskunden vereinbarte die Beklagte ab Anfang des Jahres
2021 die Zahlung eines "Guthabenentgelts" für auf Euro
lautende Einlagen. In diesen Vereinbarungen hieß es u.a. wie
folgt:
"1. Die [Bank] erhebt ab dem […] für die auf
Euro lautenden Einlagen (inklusive Spareinlagen) auf den
Konten des Kunden, die unter seiner Kundennummer […]
gegenwärtig und zukünftig geführt werden (im folgenden
"Kundenkonten") ein monatliches Guthabenentgelt.
[…]
3. […] Dieser Kostensatz entspricht dem von der
Europäischen Zentralbank (EZB) für die Einlagenfazilität im
jeweiligen Berechnungsmonat festgelegten Zinssatz (aktuell
0,50 % p.a.)."
Die Kläger in den vier Verfahren
halten die vorbezeichneten Klauseln für unwirksam, da sie die
Verbraucher entgegen den Geboten von Treu und Glauben
unangemessen benachteiligten. Sie nehmen die Beklagten
jeweils darauf in Anspruch, es zu unterlassen, diese oder
inhaltsgleiche Klauseln gegenüber Verbrauchern zu verwenden.
Die Kläger in den Verfahren XI ZR 65/23 und XI ZR
161/23 begehren darüber hinaus von der jeweiligen Beklagten
als Folgenbeseitigung die Rückzahlung der auf der Grundlage
der Verwahrentgeltklauseln vereinnahmten Entgelte an die
betroffenen Verbraucher und Auskunft über deren Vornamen,
Zunamen und Anschriften. Der Kläger in dem Verfahren XI ZR
183/23 begehrt als Folgenbeseitigung ebenfalls Auskunft über
die betroffenen Verbraucher und die Versendung eines von ihm
formulierten Berichtigungsschreibens durch die Beklagte an
diese Verbraucher.
Die Berufungsgerichte in den
Verfahren XI ZR 61/23 und XI ZR 65/23 haben die Klage jeweils
abgewiesen, weil die Klauseln über das Verwahrentgelt eine
von der Beklagten erbrachte Hauptleistung aus dem Girovertrag
bepreisten und daher keiner AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle
unterlägen.
Auch das Berufungsgericht in dem
Verfahren XI ZR 161/23 hat die Klage betreffend die Klauseln
über das Verwahrentgelt mit der Begründung abgewiesen, mit
den Klauseln werde eine von der Beklagten erbrachte
Hauptleistung aus dem Girovertrag bzw. aus dem Vertrag über
das Tagesgeldkonto bepreist, so dass die Klauseln keiner
AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterlägen. Die Klauseln,
mit denen die Bank für die Ausstellung einer Ersatz-BankCard
bzw. einer Ersatz-PIN ein Entgelt verlange, seien
demgegenüber unwirksam, weil sie gegen das Transparenzgebot
verstießen.
Das Berufungsgericht in dem Verfahren XI
ZR 183/23 hat die Klage ebenfalls abgewiesen. Bei der
Vereinbarung über das von Neukunden auf Spareinlagen zu
entrichtende Verwahrentgelt handele es sich um eine die
Hauptleistung betreffende Preisabrede, die keiner
AGB-rechtlichen Kontrolle unterliege. Die Regelungen über das
Verwahrentgelt im Preis- und Leistungsverzeichnis sowie im
Preisaushang hätten nur für Neukunden, nicht hingegen für
Bestandskunden gegolten.
Das mit Bestandskunden
vereinbarte "Guthabenentgelt" stelle ebenfalls eine
Preishaupt-abrede dar und unterliege nicht der
Inhaltskontrolle. Es handele sich um ein Entgelt für die
einseitige Verpflichtung der Bank, das Sparguthaben sicher zu
verwahren und dem Sparer den gleichen Betrag
zurückzugewähren.
Die Kläger in den Verfahren XI ZR
61/23, XI ZR 65/23 und XI ZR 183/23 verfolgen mit ihrer
jeweils vom Berufungsgericht zugelassenen Revision ihre
Klageanträge weiter. In dem Verfahren XI ZR 161/23 verfolgt
der Kläger mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision
seine Klageanträge weiter, soweit das Berufungsgericht die
Klage abgewiesen hat. Die Beklagte verfolgt mit der Revision
ihren Klageabweisungs-antrag weiter.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der XI.
Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in den Verfahren XI ZR
61/23, XI ZR 65/23 und XI ZR 161/23 entschieden, dass mit dem
Verwahrentgelt eine Hauptleistung aus dem Girovertrag
bepreist wird und die in Giroverträgen vereinbarten Klauseln
über Verwahrentgelte damit zwar keiner AGB-rechtlichen
Inhaltskontrolle unterliegen, die Klauseln aber gegen das
sich gemäß § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB auch auf das
Hauptleistungsversprechen erstreckende Transparenzgebot des §
307 Abs. 1 Satz 2 BGB verstoßen und damit gegenüber
Verbrauchern unwirksam sind.
Giroverträge
sind typengemischte Verträge, bei denen die von der Bank
erbrachten Leistungen Elemente des Zahlungsdiensterechts, des
Darlehnsrechts und der unregelmäßigen Verwahrung aufweisen
können. Eine unregelmäßige Verwahrung nach § 700 Abs. 1 Satz
1 BGB i.V.m. §§ 488 ff. BGB liegt vor, wenn auf dem Girokonto
ein Guthaben vorhanden ist.
Die Verwahrung von
Guthaben auf Girokonten stellt neben der Erbringung von
Zahlungsdiensten eine den Girovertrag prägende Leistung und
damit eine Hauptleistung aus dem Girovertrag dar. Wie die in
der Vergangenheit nicht unübliche Vertragspraxis der Banken,
auf Girokonten bestehende Guthaben geringfügig zu verzinsen,
belegt, dient das Guthaben auf Girokonten nach dem
übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien zudem nicht
ausschließlich der Teilnahme am Zahlungsverkehr.
Die
Kreditwirtschaft kann mit dem sogenannten "Bodensatz" der
Guthaben wirtschaften, die sie auf Girokonten verwahrt. 10%
dieser Guthaben können von der Bankwirtschaft nach dem
Aufsichtsrecht für die Unterlegung von Risiken im
Aktivgeschäft verwendet werden. Die Kunden haben ebenfalls
ein Interesse an der Nutzung der Girokonten als
"Verwahrstelle" für ihr Geld. Sie können ihr Bargeld mithilfe
des Girokontos sicher aufbewahren und Guthaben auf Girokonten
belassen, ohne sich um eine Weiterverwendung kümmern zu
müssen.
Darüber hinaus sind Gutschriften auf
Girokonten als Sichteinlagen durch die gesetzlichen
Einlagensicherungssysteme geschützt und für Kunden jederzeit
verfügbar. Diese Gesichtspunkte rechtfertigen es bei einer
Gesamtschau, die Verwahrung von Guthaben auf Girokonten als
von der Bank im Rahmen des Girovertrags erbrachte
Hauptleistung anzusehen. Aus den Regelungen der § 700 Abs. 1
Satz 1 i.V.m. § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB ergibt sich weiter,
dass ein Verwahrentgelt keine gesetzlich nicht vorgesehene
Gegenleistung des Kunden darstellt.
Die
Verwahrentgeltklauseln in Giroverträgen in den Verfahren XI
ZR 61/23, XI ZR 65/23 und XI ZR 161/23 sind allerdings
intransparent und aus diesem Grund unwirksam. Sie sind
hinsichtlich der Höhe des Verwahrentgelts nicht bestimmt
genug, so dass Verbraucher ihre mit den Klauseln verbundenen
wirtschaftlichen Belastungen nicht hinreichend erkennen
können.
Die Klauseln informieren nicht hinreichend
genau darüber, auf welches Guthaben sich das Verwahrentgelt
in Höhe von 0,7% p.a. (so im Verfahren XI ZR 61/23) bzw. in
Höhe von 0,5% p.a. (so in den Verfahren XI ZR 65/23 und XI ZR
161/23) bezieht. Die auf Girokonten bestehenden Guthaben
können sich infolge der Verbuchung von Gutschriften und
Belastungen innerhalb eines Tages mehrfach ändern.
Die in den Klauseln verwendeten Formulierungen lassen
allerdings offen, welcher konkrete Guthabenstand auf den
Girokonten für die Berechnung des Verwahrentgelts jeweils
maßgebend sein soll. Unklar ist dabei vor allem, ob die
Berechnung des Verwahrentgelts taggenau erfolgen soll und bis
zu welchem Zeitpunkt Tagesumsätze auf den Girokonten bei der
Berechnung des maßgebenden Guthabensaldos berücksichtigt
werden sollen.
Die Klauseln über Verwahrentgelte für
Einlagen auf Tagesgeldkonten (XI ZR 161/23) und für
Spareinlagen (XI ZR 183/23) unterliegen demgegenüber einer
AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle, weil sie die von der Bank
geschuldete Hauptleistung abweichend von der nach Treu und
Glauben geschuldeten Leistung verändern.
Sie halten
der Inhaltskontrolle nicht stand, weil sie von wesentlichen
Grundgedanken der gesetzlichen Regelung abweichen und die
Verbraucher entgegen den Geboten von Treu und Glauben
unangemessen benachteiligen (§ 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr.
1 BGB). Einlagen auf Tagesgeldkonten und Sparkonten dienen
nicht nur der sicheren Verwahrung von Geldern, sondern
darüber hinaus auch Anlage- und Sparzwecken.
Gelder
auf Tagesgeldkonten werden in der Regel in Höhe der
Marktzinsen am Geldmarkt variabel verzinst. Dementsprechend
hat die Beklagte in dem Verfahren XI ZR 161/23 die von ihr
angebotenen Tagesgeldkonten unter der Rubrik "Anlegen und
Sparen" damit beworben, dass täglich über die Gelder verfügt
werden könne und diese mit einer "attraktiven" Rendite
angelegt würden.
Mit der Erhebung eines
laufzeitabhängigen Verwahrentgelts in Höhe von 0,5% p.a.
verlieren die Tagesgeldkonten allerdings gänzlich ihren Spar-
und Anlagezweck. Denn bei einer gleichzeitigen Verzinsung der
Einlage mit 0,001% p.a. reduziert sich das auf den
Tagesgeldkonten eingelegte Kapital täglich, bis die Einlage
den in den Klauseln genannten Freibetrag von 50.000 €
erreicht. Hierdurch wird der Charakter des Vertrags über ein
Tagesgeldkonto nach Treu und Glauben verändert.
Zweck
von Spareinlagen ist es, das Vermögen von natürlichen
Personen mittel- bis langfristig aufzubauen und durch Zinsen
vor Inflation zu schützen. Dieser Charakter des Sparvertrags
wird durch die Erhebung eines Verwahr- oder eines
Guthabenentgelts entgegen den Geboten von Treu und Glauben
verändert, da das laufzeitabhängige Verwahr- oder
Guthabenentgelt mit dem den Sparvertrag kennzeichnenden
Kapitalerhalt nicht zu vereinbaren ist.
Denn auch das
Verwahr- bzw. Guthabenentgelt in dem Verfahren XI ZR 183/23
führt dazu, dass die Höhe der Spareinlagen fortlaufend bis zu
dem vereinbarten Freibetrag sinkt. Die Erhebung des
Verwahrentgelts reduziert die auf die Sparverträge
eingezahlten Spareinlagen, was von dem Vertragszweck
"Kapitalerhalt und Sparen" abweicht, nach dem das eingezahlte
Kapital mindestens zu erhalten ist.
Diese Abweichung
stellt eine unangemessene Benachteiligung der Verbraucher
dar. Soweit Kreditinstitute im Euroraum im Zeitraum vom 11.
Juni 2014 bis 26. Juli 2022 auf bestimmte Einlagen, die sie
bei ihrer nationalen Zentralbank unterhielten, "negative
Zinsen" zu zahlen hatten, rechtfertigt dies nicht, die
vertraglich berechtigten Erwartungen von Verbrauchern, ihre
auf Tagesgeld- und auf Sparkonten verbuchten Einlagen
mindestens zu erhalten, durch die Einführung eines Verwahr-
oder Guthabenentgelts zu enttäuschen, das die Einlage bis zu
einem Freibetrag fortlaufend reduziert.
Soweit die
klagenden Verbraucherschutzverbände in den Verfahren XI ZR
65/23 und XI ZR 161/23 von der jeweiligen Beklagten als
Folgenbeseitigung die Rückzahlung der auf der Grundlage der
unwirksamen Verwahrentgeltklauseln vereinnahmten Entgelte an
die betroffenen Verbraucher und Auskunft über deren Vornamen,
Zunamen und Anschriften verlangen, hat der XI. Zivilsenat des
Bundesgerichtshofs die Klage abgewiesen.
Wie der I.
Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mit Urteil vom 11.
September 2024 (I ZR 168/23) bereits entschieden hat, ist
eine solche Klage hinsichtlich des Zahlungsbegehrens bereits
unzulässig, weil der Kläger mit seinem Antrag die Kunden der
Beklagten nicht individualisiert, an die die Rückzahlung
erfolgen soll, so dass es an der nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO
erforderlichen Bestimmtheit des Klageantrags fehlt.
Die begehrte Auskunft können die Kläger nicht beanspruchen,
weil einem Verbraucherschutzverband im Rahmen eines
Klageverfahrens nach dem Unterlassungsklagengesetz kein
Beseitigungsanspruch auf Rückzahlung rechtsgrundlos
vereinnahmter Entgelte an die betroffenen Verbraucher gemäß §
8 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UWG unter dem Gesichtspunkt des
Rechtsbruchs gemäß §§ 3, 3a UWG i.V.m. § 307 Abs. 1 Satz 1
BGB zusteht, so dass auch der insoweit als Hilfsanspruch
anzusehende Auskunftsanspruch nicht besteht.
Soweit
der Kläger in dem Verfahren XI ZR 183/23 als
Folgenbeseitigung Auskunft über die betroffenen Verbraucher
und die Versendung eines von ihm formulierten
Berichtigungsschreibens durch die Beklagte an die betroffenen
Verbraucher verlangt, hat der XI. Zivilsenat die Sache zur
neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht
zurückverwiesen.
In dem Verfahren XI ZR 161/23 hat
der XI. Zivilsenat schließlich entschieden, dass die Klauseln
zu einem Entgelt für die Ausstellung einer Ersatz-BankCard
bzw. einer Ersatz-PIN unwirksam sind, da sie gegen das
Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verstoßen. Der
Verbraucher kann nicht hinreichend erkennen, in welchen
Fällen die Beklagte zur Ausstellung einer Ersatzkarte bzw.
einer Ersatz-PIN verpflichtet ist, und damit nicht, ob er das
Entgelt von 12 € bzw. 5 € tatsächlich zahlen muss.
Der durchschnittliche, rechtlich nicht gebildete, verständige
Verbraucher erkennt zwar, dass er nach den Klauseln nur dann
zur Zahlung verpflichtet sein soll, wenn weder eine
gesetzliche noch eine vertragliche Verpflichtung der Bank zur
Ausstellung einer Ersatzkarte bzw. einer Ersatz-PIN besteht.
In den Klauseln fehlt aber jegliche Konkretisierung,
wann eine solche Verpflichtung der Bank besteht. Ausführungen
über die typischen Fälle, in denen der Verbraucher eine
Ersatzkarte bzw. eine Ersatz-PIN benötigt (Verlust, Diebstahl
und Missbrauch), enthalten die Klauseln nicht. Die
Entgeltklauseln versetzen den Verbraucher damit nicht in die
Lage, die Reichweite der beabsichtigten Entgeltpflicht in
seinem praktischen Geltungsbereich zu bestimmen.
Vorinstanzen: XI ZR 61/23 Landgericht Leipzig -
Urteil vom 8 Juli 2021 - 5 O 640/20 Oberlandesgericht
Dresden - Urteil vom 30. März 2023 - 8 U 1389/21 und XI
ZR 65/23 Landgericht Düsseldorf - Urteil vom 22. Dezember
2021 - 12 O 34/21 Oberlandesgericht Düsseldorf - Urteil
vom 30. März 2023 - 20 U 16/22 und XI ZR 161/23
Landgericht Berlin - Urteil vom 28. Oktober 2021 - 16 O 43/21
Kammergericht Berlin - Urteil vom 9. August 2023 - 26 U
129/21 und XI ZR 183/23 Landgericht Frankfurt am Main
- Urteil vom 18. November 2022 - 2-25 O 228/21
Oberlandesgericht Frankfurt am Main - Urteil vom 5. Oktober
2023 - 3 U 286/22 Die maßgeblichen Vorschriften lauten:
§ 307 BGB (1) Bestimmungen in Allgemeinen
Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den
Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu
und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene
Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die
Bestimmung nicht klar und verständlich ist.
(2) Eine
unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn
eine Bestimmung 1. mit wesentlichen Grundgedanken der
gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu
vereinbaren ist oder […] (3) Die Absätze 1 und 2
sowie die §§ 308 und 309 gelten nur für Bestimmungen in
Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von
Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende
Regelungen vereinbart werden. Andere Bestimmungen können nach
Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 unwirksam
sein.
§ 488 Abs. 1 Satz 2 BGB (1) […]. Der
Darlehensnehmer ist verpflichtet, einen geschuldeten Zins zu
zahlen und bei Fälligkeit das zur Verfügung gestellte
Darlehen zurückzuzahlen.
§ 700 Abs. 1 Satz 1 BGB
(1) Werden vertretbare Sachen in der Art hinterlegt, dass das
Eigentum auf den Verwahrer übergehen und dieser verpflichtet
sein soll, Sachen von gleicher Art, Güte und Menge
zurückzugewähren, so finden bei Geld die Vorschriften über
den Darlehensvertrag, bei anderen Sachen die Vorschriften
über den Sachdarlehensvertrag Anwendung. Gestattet der
Hinterleger dem Verwahrer, hinterlegte vertretbare Sachen zu
verbrauchen, so finden bei Geld die Vorschriften über den
Darlehensvertrag, bei anderen Sachen die Vorschriften über
den Sachdarlehensvertrag von dem Zeitpunkt an Anwendung, in
welchem der Verwahrer sich die Sachen aneignet. […].
§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO (2) Die Klageschrift muss
enthalten: 1. […] 2. die bestimmte Angabe des
Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs, sowie
einen bestimmten Antrag. § 3 UWG (1) Unlautere
geschäftliche Handlungen sind unzulässig.
(2)
Geschäftliche Handlungen, die sich an Verbraucher richten
oder diese erreichen, sind unlauter, wenn sie nicht der
unternehmerischen Sorgfalt entsprechen und dazu geeignet
sind, das wirtschaftliche Verhalten des Verbrauchers
wesentlich zu beeinflussen.
(3) Die im Anhang dieses
Gesetzes aufgeführten geschäftlichen Handlungen gegenüber
Verbrauchern sind stets unzulässig.
(4) Bei der
Beurteilung von geschäftlichen Handlungen gegenüber
Verbrauchern ist auf den durchschnittlichen Verbraucher oder,
wenn sich die geschäftliche Handlung an eine bestimmte Gruppe
von Verbrauchern wendet, auf ein durchschnittliches Mitglied
dieser Gruppe abzustellen. Geschäftliche Handlungen, die für
den Unternehmer vorhersehbar das wirtschaftliche Verhalten
nur einer eindeutig identifizierbaren Gruppe von Verbrauchern
wesentlich beeinflussen, die auf Grund von geistigen oder
körperlichen Beeinträchtigungen, Alter oder Leichtgläubigkeit
im Hinblick auf diese geschäftlichen Handlungen oder die
diesen zugrunde liegenden Waren oder Dienstleistungen
besonders schutzbedürftig sind, sind aus der Sicht eines
durchschnittlichen Mitglieds dieser Gruppe zu beurteilen.
§ 3a UWG Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen
Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im
Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln,
und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von
Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern
spürbar zu beeinträchtigen.
§ 8 Abs. 1 Satz 1 Fall 1
UWG Wer eine nach § 3 oder § 7 unzulässige geschäftliche
Handlung vornimmt, kann auf Beseitigung […] in Anspruch
genommen werden.
Fünftes Organstreitverfahren wegen
Änderung des Kommunalwahlgesetzes eingegangen
Münster, 4. Februar 2025 - Verfassungsgerichtshof: Die Partei
für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und
basisdemokratische Initiative, Landesverband
Nordrhein-Westfalen e.V., hat am 30. Januar 2025 ein
Organstreitverfahren gegen den Landtag Nordrhein-Westfalen
wegen der Änderung des Kommunalwahlgesetzes hinsichtlich des
Sitzverteilungsverfahrens eingeleitet.
Die Ersetzung
des bisher bei Kommunalwahlen angewendeten
Sitzungsverteilungsverfahrens nach Sainte-Laguë durch ein
Quotenverfahren mit prozentualem Restausgleich verletze sie
in ihren Rechten auf Chancengleichheit als politische Partei
und auf Gleichheit der Wahl. VerfGH 7/25
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Januar 2025 |
Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen Abkühlungsphase beim
Abschluss von Restschuldversicherungen zu
Allgemein-Verbraucherdarlehen Karlsruhe,
29. Januar 2025 -
Beschluss vom 20. Dezember 2024 - 1 BvR 1779/24
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des
Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine
Verfassungsbeschwerde von 22 Unternehmen der
Versicherungswirtschaft nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Beschwerdeführerinnen wenden sich mit ihrer
Verfassungsbeschwerde gegen eine Änderung von § 7a Abs. 5 des
Versicherungsvertragsgesetzes (VVG), mit der beim Abschluss
von Restschuldversicherungen zu Allgemein-Verbraucherdarlehen
eine sogenannte Abkühlungsphase eingeführt wird.
Die
Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da sie unter anderem
den Grundsatz der Subsidiarität nicht wahrt. Die
Beschwerdeführerinnen hätten zunächst den Rechtsweg vor den
Fachgerichten beschreiten müssen.
Sachverhalt: Die
22 Beschwerdeführerinnen, die als Versicherer oder
Versicherungsnehmer Restschuldversicherungen als Einzel- oder
Gruppenversicherungen abschließen oder diese vermitteln,
wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen
den zum 1. Januar 2025 in Kraft getretenen Art. 32 Nr. 2 des
Gesetzes zur Finanzierung von zukunftssichernden
Investitionen (Zukunftsfinanzierungsgesetz – ZuFinG).
Dieser ändert § 7a Abs. 5 VVG dahin, dass der Abschluss
von Restschuldversicherungsverträgen zu
Allgemein-Verbraucherdarlehen erst eine Woche nach Abschluss
des Verbraucherdarlehensvertrags zulässig ist
(Abkühlungsphase).
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung
anzunehmen, da sie unzulässig ist.
I. Die
Verfassungsbeschwerde der in- und ausländischen
Versicherungsunternehmen wahrt nicht den Grundsatz der
Subsidiarität.
1. Es ist den beschwerdeführenden
Versicherungsunternehmen zuzumuten, eine verbindliche
Auskunft in Gestalt einer Weisung der Aufsichtsbehörde
darüber einzuholen, ob sie § 7a Abs. 5 VVG n.F. ab dem 1.
Januar 2025 anzuwenden haben und ob die Vorschrift auch über
den 20. November 2026 hinaus anzuwenden ist. Die
Beschwerdeführerinnen haben nicht dargelegt, dass das Anrufen
der Aufsichtsbehörde und gegebenenfalls der Fachgerichte
erkennbar aussichtslos wäre.
Sie rügen, § 7a Abs. 5
VVG n.F. sei nicht anwendbar, weil die Vorschrift gegen
sekundäres Unionsrecht verstoße. Zur Klärung dieser Frage
hätte zunächst eine aufsichtliche Weisung eingeholt und bei
Bejahung der Anwendbarkeit der fachgerichtliche Rechtsweg
beschritten werden müssen. Denn es ist vornehmlich Aufgabe
der Fachgerichte, entscheidungserhebliche unionsrechtliche
Fragen aufzuarbeiten und zu prüfen, ob eine Normenkollision
mit unionsrechtlichem Fachrecht besteht. Es ist noch nicht
geklärt, ob die nach Art. 14 der ab 20. November 2026
anzuwendenden Richtlinie (EU) 2023/2225 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 18. Oktober 2023 über
Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie
2008/48/EG eröffnete Zulässigkeit von Bündelungsgeschäften
und die Möglichkeit des Verzichts auf Einhaltung der
unionsrechtlich vorgesehenen Abkühlungsphase von „mindestens
drei Tagen“ der in § 7a Abs. 5 VVG n.F.geregelten
Abkühlungsphase entgegensteht. Auch bei der Auslegung des §
7a Abs. 5 VVG n.F. stellen sich fachrechtliche
Auslegungsfragen.
2. Eine Unzumutbarkeit kann sich
auch nicht (mehr) daraus ergeben, dass die Normadressaten zu
später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen gezwungen
sind. Die Beschwerdeführerinnen haben nach ihrem Vorbringen
bereits seit Anfang 2024 umfangreiche Vorbereitungen
getroffen, um die angegriffene Vorschrift ab 1. Januar 2025
einzuhalten. Soweit sie eine erneute Umstellung ihrer
Vertragsabschlusspraxis ab Ablauf der Umsetzungsfrist am 20.
November 2026 besorgen, tragen sie selbst vor, dass ihre
bisherigen Dispositionen umkehrbar sind und folglich in
Zukunft korrigiert werden können.
II. Die
Verfassungsbeschwerde ist auch im Hinblick auf die
Beschwerdeführerinnen unzulässig, die als
Versicherungsnehmerin von Gruppenversicherungsverträgen
(„Gruppenspitze“) beziehungsweise als Vermittlerin von
Beitritten zu diesen Gruppenversicherungsverträgen nicht der
Versicherungsaufsicht unterliegen.
1. Sie haben nicht
dargelegt, dass ihnen die vorherige Anrufung der Fachgerichte
unzumutbar wäre und ihre Verfassungsbeschwerde dem
Subsidiaritätsgrundsatz genügt. Mit der Möglichkeit einer
negativen Feststellungsklage vor den Verwaltungsgerichten
nach § 43 der Verwaltungsgerichtsordnung setzen sie sich
nicht auseinander. Auf Grundlage des Vorbringens in der
Verfassungsbeschwerde lässt sich auch nicht beurteilen, ob
den Beschwerdeführerinnen die Erhebung einer Leistungsklage
oder einer (negativen) Feststellungsklage vor den
Zivilgerichten möglich und zumutbar ist.
2. Die
Verfassungsbeschwerdeschrift verhält sich im Übrigen nicht zu
der Frage, ob diese Beschwerdeführerinnen selbst von § 7a
Abs. 5 Satz 1 VVG n.F. betroffen sind. Die Annahme, dass § 7a
Abs. 5 Satz 3 VVG n.F. dahin auszulegen ist, dass der
Beitritt zum Gruppenversicherungsvertrag nur unter den
Voraussetzungen des § 7a Abs. 5 Satz 1 VVG n.F. zulässig ist,
ist jedenfalls nicht zwingend. Mit der Auslegung dieser
Vorschrift setzen sich die Beschwerdeführerinnen jedoch nicht
auseinander.
Bundesgerichtshof entscheidet zu den Folgen eines
Reiserücktritts wegen Covid 19 -
Urteile vom 28. Januar 2025 - X ZR 53/21, X ZR 3/22, X ZR
55/22
Karlsruhe, 28. Januar 2025 - Der unter
anderem für das Pauschalreiserecht zuständige X. Zivilsenat
des Bundesgerichtshofs hat heute auf der Grundlage einer
Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union
entschieden, welche Umstände für die Beurteilung der Frage
maßgeblich sind, ob ein Reisender, der vor Beginn der Reise
vom Vertrag zurückgetreten ist, von der Zahlung einer
Entschädigung an den Reiseveranstalter gemäß § 651h Abs. 3
BGB befreit ist.
Sachverhalt: Im Verfahren X ZR
53/21 buchte der Kläger bei der Beklagten im Januar 2020 eine
Reise nach Japan im Zeitraum vom 3. bis 12. April 2020 zu
einem Gesamtpreis von 6.148 Euro. Im Februar 2020 beschloss
die japanische Regierung unter anderem, für die kommenden
Wochen sämtliche Großveranstaltungen abzusagen und alle
Schulen bis mindestens Anfang April zu schließen.
Der
Kläger trat am 1. März 2020 von der Reise zurück. Die
Beklagte berechnete Stornokosten in Höhe von insgesamt 1.537
Euro (25 % des Reisepreises), die der Kläger bezahlte. Am 26.
März 2020 erging für Japan ein Einreiseverbot. Der Kläger
verlangte daraufhin die Rückzahlung des geleisteten Betrags.
Im Verfahren X ZR 3/22 buchte der Kläger eine
Ostseekreuzfahrt im Zeitraum vom 22. bis 29. August 2020 für
8.305,10 Euro. Am 31. März 2020 trat er von der Reise zurück
und verlangte die Rückzahlung der von ihm geleisteten
Anzahlung in Höhe von 3.194 Euro. Die Kreuzfahrt wurde von
der Beklagten am 10. Juli 2020 abgesagt.
Im Verfahren
X ZR 55/22 buchten die Kläger im Juni 2019 eine Pauschalreise
nach Mallorca vom 16. bis 30. Mai 2020 für 1.753 Euro und im
Juli 2019 eine Flusskreuzfahrt "Wolga-Wunder und Zarenzauber"
vom 5. bis 15. September 2020 für 2.376 Euro. Am 14. April
2020 traten sie telefonisch von beiden Reisen zurück. Die
Beklagte behielt die geleisteten Anzahlungen in Höhe von
insgesamt 650 Euro ein und verlangte zusätzlich 548,50 Euro
als Entschädigungspauschale. Beide Reisen konnten wegen der
Pandemie nicht stattfinden.
Bisheriger
Prozessverlauf: Im ersten Verfahren hat das Amtsgericht
die Beklagte antragsgemäß zur Rückzahlung von 1.537 Euro
nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von
255,85 Euro verurteilt.
Auf die Berufung der
Beklagten hat das Landgericht den zu zahlenden Betrag auf
14,50 Euro zuzüglich vorgerichtlicher Kosten in Höhe von
83,54 Euro reduziert und die weitergehende Klage abgewiesen.
Zu Begründung hat es ausgeführt, im Zeitpunkt des Rücktritts
habe man noch nicht vom Vorliegen unvermeidbarer
außergewöhnlicher Umstände ausgehen können, die gemäß § 651h
Abs. 3 BGB zu einem Ausschluss des Entschädigungsanspruchs
führen. Das Einreiseverbot dürfe nicht berücksichtigt werden,
weil es erst nach dem Rücktritt erlassen worden sei.
Der Bundesgerichtshof hat dieses Verfahren mit Beschluss vom
2. August 2022 (RRa 2022, 278) ausgesetzt und dem Gerichtshof
der Europäischen Union (EuGH) die Frage vorgelegt, ob nur
diejenigen unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände
maßgeblich sind, die im Zeitpunkt des Rücktritts bereits
aufgetreten sind, oder ob auch Umstände zu berücksichtigen
sind, die nach dem Rücktritt, aber noch vor dem geplanten
Beginn der Reise tatsächlich aufgetreten sind (s.
Pressemitteilung Nr. 118/2022).
Im zweiten Verfahren
hatte die Klage in den beiden Vorinstanzen Erfolg. Amts- und
Landgericht haben offengelassen, ob die Voraussetzungen von §
651h Abs. 3 BGB bereits im Zeitpunkt des Rücktritts vorlagen,
und einen Rückzahlungsanspruch schon aufgrund der später
erfolgten Absage der Reise bejaht.
Dieses Verfahren
hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 30. August 2022
in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO bis zur
Entscheidung des EuGH im ersten Verfahren ausgesetzt (s.
Pressemitteilung Nr. 128/22).
Im dritten Verfahren
waren die Kläger ebenfalls in den beiden Vorinstanzen
erfolgreich. Auch in diesem Verfahren hatten Amts- und
Landgericht offengelassen, ob die Voraussetzungen von § 651h
Abs. 3 BGB schon im Zeitpunkt des Rücktritts vorlagen.
Der EuGH hat mit Urteil vom 29. Februar 2024 (C-584/22,
RRa 2024, 62 - Kiwi Tours) entschieden, dass nach der für die
unionsrechtliche Beurteilung maßgeblichen Regelung in Art. 12
Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302
(Pauschalreiserichtlinie) nur die Situation zu
berücksichtigen ist, die im Zeitpunkt des Rücktritts bestand.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der X. Zivilsenat hat nunmehr in allen drei Fällen das
Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Aufgrund der Vorabentscheidung des EuGH dürfen weder das
Einreiseverbot noch die Absage der Reise bei der Beurteilung
berücksichtigt werden, weil diese Ereignisse erst nach dem
Zeitpunkt des Rücktritts stattgefunden haben.
In
allen drei Verfahren hat das Landgericht nach der
Zurückverweisung die Frage zu beurteilen, ob bereits im
Zeitpunkt des Rücktritts die hinreichende Wahrscheinlichkeit
einer erheblichen Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3
BGB bestand. Der Bundesgerichtshof kann über diese Frage
nicht abschließend entscheiden, weil es an hierfür
maßgeblichen tatrichterlichen Feststellungen fehlt.
Im zweiten und im dritten Verfahren hat das Landgericht diese
nunmehr entscheidungserhebliche Frage - von seinem
Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - nicht behandelt.
Im ersten Verfahren ist das Landgericht zwar zu dem Ergebnis
gelangt, im Zeitpunkt des Rücktritts sei noch nicht vom
Vorliegen unvermeidbarer außergewöhnlicher Umstände
auszugehen gewesen. Wie der Bundesgerichtshof bereits in
seiner Vorlageentscheidung vom 2. August 2022 ausgeführt hat,
ist diese Beurteilung jedoch rechtsfehlerhaft.
Die
hinreichende Wahrscheinlichkeit einer erheblichen
Beeinträchtigung darf nicht allein deshalb verneint werden,
weil es im Zeitpunkt des Rücktritts noch nicht zu einer
erheblichen Zahl von Infektionen in Japan gekommen war und
die dort getroffenen Maßnahmen vor allem der Verhinderung von
Infektionen gedient haben. Das Berufungsgericht hätte sich
vielmehr mit der Frage befassen müssen, ob die ungewöhnliche
Art und Anzahl dieser Maßnahmen schon damals hinreichende
Anhaltspunkte dafür begründeten, dass eine erhebliche
Infektionsgefahr bestand, und nicht sicher war, ob die
getroffenen Maßnahmen ausreichen würden, um diese Gefahr
abzuwenden. Diese Frage wird es nach der Zurückverweisung zu
klären haben.
Im dritten Verfahren hat der
Bundesgerichtshof ergänzend entschieden, dass die Kläger
nicht schon dann zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet
sind, wenn sie zunächst keine Gründe für ihren Rücktritt
angegeben haben. Maßgeblich ist allein, ob im Zeitpunkt des
Rücktritts tatsächlich unvermeidbare, außergewöhnliche
Umstände vorgelegen haben, die die Durchführung der Reise
oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort
erheblich beeinträchtigen. Vorinstanzen X ZR 53/21:
Amtsgericht München - Urteil vom 8. Dezember 2020 - 243 C
10984/20 Landgericht München I - Urteil vom 22. Juni 2021
- 13 S 669/21 und X ZR 3/22: Amtsgericht Hersbruck -
Urteil vom 21. Mai 2021 - 1 C 804/20 Landgericht
Nürnberg-Fürth - Urteil vom 17. Dezember 2021 - 5 S 3127/20
und X ZR 55/22: Amtsgericht Frankfurt am Main -
Außenstelle Höchst - Urteil vom 5. November 2021 - 385 C
459/20 (70) Landgericht Frankfurt am Main - Urteil vom
28. April 2022 - 2 - 24 S 240/21 Die maßgeblichen
Vorschriften lauten: § 651h BGB - Rücktritt vor
Reisebeginn (1) Vor Reisebeginn kann der Reisende
jederzeit vom Vertrag zurücktreten. Tritt der Reisende vom
Vertrag zurück, verliert der Reiseveranstalter den Anspruch
auf den vereinbarten Reisepreis. Der Reiseveranstalter kann
jedoch eine angemessene Entschädigung verlangen.
(2)
… (3) Abweichend von Absatz 1 Satz 3 kann der
Reiseveranstalter keine Entschädigung verlangen, wenn am
Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe
unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die
Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von
Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.
Umstände sind unvermeidbar und außergewöhnlich im Sinne
dieses Untertitels, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei
unterliegen, die sich hierauf beruft, und sich ihre Folgen
auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren
Vorkehrungen getroffen worden wären.
Artikel 12
Pauschalreiserichtlinie - Beendigung des
Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der
Pauschalreise
(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher,
dass der Reisende vor Beginn der Pauschalreise jederzeit vom
Pauschalreisevertrag zurücktreten kann. Tritt der Reisende
gemäß diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so kann
der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und
vertretbaren Rücktrittsgebühr verlangen. …
(2)
Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor
Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr
vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am
Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe
unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die
Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von
Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.
Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß
diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung
aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf
keine zusätzliche Entschädigung.
Letzte Klageverfahren in Sachen CO-Pipeline ebenfalls
erfolglos Oberverwaltungsgericht Münster, 27.
Januar 2025 -
Die letzten beiden noch anhängigen, von der Stadt
Hilden betriebenen Klageverfahren gegen den
Planfeststellungsbeschluss der Bezirksregierung Düsseldorf,
mit dem diese die Errichtung und den Betrieb einer
Rohrfernleitungsanlage zum Transport von gasförmigem
Kohlenmonoxid (CO) von Köln-Worringen nach Krefeld-Uerdingen
zugelassen hatte, sind durch Beschlüsse des
Oberverwaltungsgerichts vom 24.01.2025 nun rechtskräftig
abgeschlossen.
Damit sind sämtliche Verfahren in
Sachen CO-Pipeline erfolglos geblieben. Die CO-Pipeline soll
die linksrheinisch gelegenen Chemieparks der früheren Bayer
Material Science AG, nunmehr Covestro Deutschland AG, in
Krefeld-Uerdingen und Dormagen verbinden, ist etwa 67 km lang
und verläuft überwiegend rechtsrheinisch. Die Errichtung und
den Betrieb dieser Pipeline hatte die Bezirksregierung
Düsseldorf mit Planfeststellungsbeschluss vom 14.02. 2007,
der in der Folgezeit mehrfach geändert wurde, zugelassen.
Das Oberverwaltungsgericht hatte durch Urteil vom
31.08. 2020 in einem Leitverfahren, das durch vier
Privatkläger geführt worden war, die Klagen gegen den
Planfeststellungsbeschluss einschließlich der bis dahin
erteilten Änderungsgenehmigungen abgewiesen.
Dieses Urteil ist seit dem 14.12. 2021 rechtskräftig, nachdem
das Bundesverwaltungsgericht die dagegen eingelegten
Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision
zurückgewiesen hatte. Die Stadt Hilden hatte in den jetzt
entschiedenen Verfahren gegen zwei Planänderungsbeschlüsse
vom 02.03.2009 und vom 18.08.2009 geklagt, die auch schon
Gegenstand des vom Oberverwaltungsgerichts entschiedenen
Verfahrens waren.
Das Verwaltungsgericht
Düsseldorf hat mit Urteilen vom 13.06.2023 die Klagen der
Stadt Hilden gegen die Planänderungsbeschlüsse abgewiesen und
sich zur Begründung auf die genannte rechtskräftige
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts bezogen, in der
sämtliche in diesem Verfahren in Rede stehenden rechtlichen
und tatsächlichen Fragen bereits abschließend entschieden
worden seien. Die hiergegen eingelegten Rechtsmittel der
Stadt Hilden hatten keinen Erfolg.
Das
Oberverwaltungsgericht hat mit den Beteiligten heute
bekanntgegebenen Beschlüssen vom 24.01.2025 die Anträge der
Stadt Hilden auf Zulassung der Berufung gegen die Urteile des
Verwaltungsgerichts Düsseldorf abgelehnt. Damit sind
sämtliche Verfahren in Sachen der CO-Pipeline erfolglos
geblieben und nunmehr rechtskräftig abgeschlossen.
Aktenzeichen: 20 A 1371/23 und 20 A 1372/23 (I. Instanz: VG
Düsseldorf 3 K 5632/09 und 3 K 6200/09)
Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Tübinger
Verpackungssteuersatzung Beschluss vom 27.
November 2024 - 1 BvR 1726/23 Tübinger Verpackungssteuer
Karlsruhe, 22. Januar 2025 - Mit heute veröffentlichtem
Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts
eine Verfassungsbeschwerde gegen die Satzung der
Universitätsstadt Tübingen über die Erhebung einer
Verpackungssteuer (Verpackungssteuersatzung) zurückgewiesen.
Mit der Verpackungssteuersatzung erhebt die
Universitätsstadt Tübingen seit dem 1. Januar 2022 eine
Steuer auf den Verbrauch nicht wiederverwendbarer
Verpackungen sowie nicht wiederverwendbaren Geschirrs und
Bestecks, sofern Speisen und Getränke darin bzw. damit für
den unmittelbaren Verzehr an Ort und Stelle oder als
mitnehmbares take-away-Gericht oder -Getränk verkauft werden.
Zur Entrichtung der Steuer ist der Endverkäufer von
entsprechenden Speisen und Getränken verpflichtet.
Die
Beschwerdeführerin betrieb ein Schnellrestaurant im Gebiet
der Universitätsstadt Tübingen. Gegen die Besteuerung des
Verbrauchs der von ihr verwendeten Einwegartikel stellte sie
einen Normenkontrollantrag, den das Bundesverwaltungsgericht
mit Urteil vom 24. Mai 2023 im Wesentlichen abgelehnt hat.
Die gegen diese Entscheidung gerichtete
Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg. Insbesondere handelt
es sich bei der Verpackungssteuer auch insoweit um eine
„örtliche“ Verbrauchsteuer im Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz
1 Grundgesetz (GG), als der Verbrauch von Einwegartikeln beim
Verkauf von „mitnehmbaren take-away-Gerichten oder
-Getränken“ besteuert wird. Der mit der
Verpackungssteuersatzung bezweckte Anreiz zur Verwendung von
Mehrwegsystemen widerspricht auch keiner seit ihrem
Inkrafttreten maßgeblichen Konzeption des bundesrechtlichen
Abfallrechts.
Sachverhalt:
Nach der am 1.
Januar 2022 in Kraft getretenen Verpackungssteuersatzung
erhebt die Universitätsstadt Tübingen eine Verbrauchsteuer
auf nicht wiederverwendbare Verpackungen sowie nicht
wiederverwendbares Geschirr und Besteck, sofern Speisen und
Getränke darin bzw. damit für den unmittelbaren Verzehr an
Ort und Stelle oder als mitnehmbares take-away-Gericht oder
-Getränk verkauft werden. Zur Entrichtung der Steuer ist der
Endverkäufer von entsprechenden Speisen und Getränken
verpflichtet.
Die Beschwerdeführerin, welche ein
Schnellrestaurant im Gebiet der Universitätsstadt Tübingen
betrieb, stellte einen Normenkontrollantrag, auf welchen der
Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die
Verpackungssteuersatzung mit Urteil vom 29. März 2022 für
unwirksam erklärte. Soweit die Steuer auf die für den Verkauf
von Speisen und Getränken „als mitnehmbares take-away-Gericht
oder -Getränk“ verwendeten Einwegartikel erhoben werde, fehle
es an der „Örtlichkeit“ des Verbrauchs dieser Artikel im
Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG und damit an der
Gesetzgebungskompetenz. Dies habe die Gesamtunwirksamkeit der
Satzung zur Folge.
Mit Urteil vom 24. Mai 2023 hat das
Bundesverwaltungsgericht das Urteil des
Verwaltungsgerichtshofs abgeändert und den
Normenkontrollantrag im Wesentlichen abgelehnt. Die normative
Gestaltung des Steuertatbestands gewährleiste bei
sachgerechtem Verständnis den verfassungsrechtlich
geforderten örtlichen Bezug des Verbrauchs auch insoweit, als
die Steuerpflicht an den Verkauf von Speisen und Getränken
„als mitnehmbares take-away-Gericht oder -Getränk“ anknüpfe.
Die Verpackungssteuer sei auch im Übrigen mit der von Art. 12
Abs. 1 GG geschützten Berufsausübungsfreiheit der
Endverkäufer vereinbar.
Gegen diese Entscheidung
wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrer
Verfassungsbeschwerde.
Wesentliche Erwägungen des
Senats:
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist
unbegründet. Zwar greift die Erhebung der als Lenkungsteuer
ausgestalteten Verpackungssteuer in die durch Art. 12 Abs. 1
GG geschützte Berufsfreiheit der Endverkäufer ein. Dieser
Eingriff ist jedoch formell und materiell verfassungsgemäß.
I. Die Universitätsstadt Tübingen kann sich für die
Verpackungssteuersatzung auf die Steuergesetzgebungskompetenz
der Länder für die Erhebung örtlicher Verbrauchsteuern nach
Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG, § 9 Abs. 4 Kommunalabgabengesetz
Baden-Württemberg berufen. Insbesondere handelt es sich bei
der Verpackungssteuer um eine „örtliche“ Verbrauchsteuer im
Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG.
1. Nach § 1 Abs.
1 Alt. 1 Verpackungssteuersatzung knüpft die Steuerpflicht an
die Abgabe von Einwegmaterial an, das beim Verkauf von
Speisen und Getränken „für den unmittelbaren Verzehr an Ort
und Stelle“ Verwendung findet und stellt insoweit den
notwendigen Ortsbezug des Verbrauchs ohne weiteres her.
Danach ist zwar nicht ausgeschlossen, dass Speisen und
Getränke in atypischen Fällen bestimmungswidrig in räumlicher
Entfernung vom Verkaufsort außerhalb des Gemeindegebiets
verzehrt werden, solche atypischen Verhaltensweisen stellen
jedoch nicht in Frage, dass mit der Tatbestandsvoraussetzung
eines Verkaufs „zum Verbrauch an Ort und Stelle“ der typische
Fall des örtlichen Verbrauchs erfasst ist.
2. a) Die
Örtlichkeit kann auch bei Waren gegeben sein, die nicht „zum
Verbrauch an Ort und Stelle“ des Verkaufs bestimmt sind, wenn
der Verbrauch typischerweise im Gemeindegebiet erfolgt.
Hierfür kann insbesondere die Beschaffenheit der Ware
sprechen und sind die weiteren Gegebenheiten zu
berücksichtigen wie etwa die Versorgungsstruktur oder die
Größe der Gemeinde. Eine darauf bezogene Steuerpflicht setzt
voraus, dass im Steuertatbestand diejenigen Waren benannt
oder aufgrund konkreter Kriterien bestimmbar sind, die im
Anschluss an den Verkauf typischerweise noch innerhalb der
Grenzen der jeweiligen Gemeinde verbraucht werden; dem
Normgeber kommt hierbei ein Einschätzungsspielraum zu.
b) Ausgehend davon ist die Örtlichkeit für die Anknüpfung
der Steuerpflicht an die Abgabe von Einwegmaterial beim
Verkauf von „mitnehmbaren take-away-Gerichten oder
-Getränken“ nach § 1 Abs. 1 Alt. 2 Verpackungssteuersatzung
ebenfalls gewahrt. Nach der von der Beschwerdeführerin nicht
zulässig angegriffenen verfassungskonformen Auslegung durch
das Bundesverwaltungsgericht ist steuerpflichtig danach nur
die Abgabe des Einwegzubehörs für solche Speisen und
Getränke, die in der Regel unmittelbar nach dem Erwerb
verbraucht werden, weil sich ihre für die Verzehrqualität
maßgebliche Temperatur, Konsistenz oder Frische schon nach
kurzer Zeit nachteilig verändert. Anhand dieser Kriterien
können diejenigen „mitnehmbaren take-away-Gerichte und
-Getränke“ noch hinreichend sicher bestimmt werden, deren
Verkauf die Besteuerung des dabei verwendeten Einwegzubehörs
auslöst. Die auf den Tatsachenfeststellungen des
Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg beruhende,
mindestens implizite Annahme des Bundesverwaltungsgerichts,
die Satzung bilde mit diesen Kriterien die Örtlichkeit
realitätsgerecht ab, ist verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden. Der Verwaltungsgerichtshof ist davon
ausgegangen, dass der Verzehr von take-away-Gerichten und
-Getränken „auf die Schnelle“ am häufigsten im Stadtgebiet
erfolge. Die Beschwerdeführerin hat keine hinreichend
konkreten Anhaltspunkte vorgetragen, die diese Annahme
erschüttern könnten.
II. Die Verpackungssteuer der
Universitätsstadt Tübingen verletzt keine sich aus dem
Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung oder aus
dem Grundsatz der Bundestreue abzuleitenden Schranken.
1. Nach dem rechtsstaatlichen Grundsatz der
Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung ist die Ausübung der
Steuergesetzgebungskompetenz zur Lenkung in einem
sachgesetzlich geregelten Bereich nur zulässig, wenn dadurch
die Rechtsordnung nicht widersprüchlich wird.
Es kann
offenbleiben, welche Reichweite oder konkrete Bedeutung dem
Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung in
seiner Ausprägung als Schranke für die Ausübung der
Steuergesetzgebungskompetenz zur Lenkung in einem
sachgesetzlich geregelten Bereich zukommt. Denn die mit der
Verpackungssteuer verfolgten Lenkungszwecke stehen zu dem
seit Inkrafttreten der Verpackungssteuersatzung am 1. Januar
2022 geltenden Abfallrecht des Bundes weder hinsichtlich
dessen Gesamtkonzeption noch hinsichtlich konkreter
Einzelregelungen in Widerspruch.
2. Der Erhebung der
Verpackungssteuer steht auch nicht mit Blick auf die Erhebung
der Einwegkunststoffabgabe nach der bundesgesetzlichen
Regelung des § 12 Einwegkunststofffondsgesetz der Grundsatz
der Bundestreue in seiner Ausprägung als
Kompetenzausübungsschranke entgegen. Denn jedenfalls entzieht
die Verpackungssteuer dem Einwegkunststofffonds nicht
missbräuchlich die finanzielle Grundlage.
III. Es
liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die zur Erzielung
von Einnahmen geeignete und erforderliche Verpackungssteuer
der Universitätsstadt Tübingen die nach Art. 12 Abs. 1 GG
geschützte Berufsfreiheit unzumutbar beeinträchtigt. Es gibt
keine Anhaltspunkte für eine die Geschäftsaufgabe erzwingende
Wirkung der Verpackungssteuer in Bezug auf durchschnittlich
ertragsstarke Betriebe im Gebiet der Universitätsstadt
Tübingen. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren sind keine
Anhaltspunkte für verstärkte Geschäftsaufgaben betroffener
Unternehmen im Anschluss an das Inkrafttreten der
Verpackungssteuersatzung vorgebracht worden.
Auch der
Eingriff in die Berufsfreiheit der Endverkäufer durch ihre
Indienstnahme als Zahlstelle ist verhältnismäßig. Die
Indienstnahme ist geeignet und erforderlich, um die
Verpackungssteuer vereinnahmen zu können. Die mildere
Alternative einer nicht indirekt an den Verkauf, sondern
direkt an den Verbrauch der Einwegartikel durch die
Endverbraucher als dem eigentlichen Steuergegenstand
anknüpfenden Steuerpflicht wäre nicht praktikabel und daher
kein gleich geeignetes Mittel zur Zielerreichung.
Bundesgerichtshof zum Schadensersatzanspruch eines
Fußballvereins nach Zwangsabstieg
Karlsruhe,
21. Januar 2025 - Der unter anderem für das Vereinsrecht
zuständige II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die
gegen den im Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO ergangenen
Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom
13. März 2024 (2 U 42/23) von dem Kläger eingelegte
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision
zurückgewiesen.
Sachverhalt: Der Kläger, ein
Sportverein, nimmt den beklagten regionalen Fußballverband
wegen eines zu Unrecht angeordneten Zwangsabstiegs seiner 1.
Fußballmannschaft (Herren) aus der Regionalliga Nord zum Ende
der Spielzeit 2013/2014 auf Ersatz von Vermögensschäden in
Anspruch.
Im Dezember 2013 beschloss das Präsidium
des Beklagten in Umsetzung einer entsprechenden, über den DFB
weitergegebenen Aufforderung der FIFA Disziplinarkommission
den Zwangsabstieg der 1. Herrenmannschaft des Klägers nach
der Saison 2013/2014 als Sanktion dafür, dass der Kläger eine
von der FIFA Dispute Resolution Chamber im Dezember 2008 nach
dem FIFA Entschädigungsreglement festgesetzte
Ausbildungsentschädigung für einen übernommenen Spieler nicht
gezahlt hatte. Diesen Zwangsabstiegsbeschluss hat der Senat
mit Urteil vom 20. September 2016 mangels satzungsmäßiger
Grundlage für die Anordnung einer solchen Sanktion für
nichtig erklärt (II ZR 25/15, BGHZ 212, 70; siehe auch
Pressemitteilung Nr. 163/2016).
Die anschließend
erhobene Klage des Klägers auf Schadensersatz wegen des
unrechtmäßig angeordneten Zwangsabstiegs in Form der
Wiederzulassung seiner 1. Herrenmannschaft zum Spielbetrieb
der Regionalliga Nord zur nächsten Spielzeit (sogenannte
Naturalrestitution) hatte in beiden Instanzen keinen Erfolg.
Die dagegen eingelegte Revision des Klägers hat der Senat mit
Beschluss vom 24. April 2020 gemäß § 552a ZPO zurückgewiesen
(II ZR 417/18, WM 2020, 1251; siehe auch Pressemitteilung Nr.
062/2020).
Mit der vorliegenden Teilklage hat der
Kläger nun Schadensersatz in Geld wegen des zu Unrecht
angeordneten Zwangsabstiegs in Höhe von 750.000 € geltend
gemacht.
Bisheriger Prozessverlauf: Das
Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht
hat die Berufung des Klägers durch Beschluss gemäß § 522 Abs.
2 ZPO mit der Begründung zurückgewiesen, der Kläger habe den
ihm obliegenden Nachweis nicht zu führen vermocht, dass der
rechtswidrige Zwangsabstiegsbeschluss die von ihm geltend
gemachten Vermögensschäden verursacht habe, da seine
Herrenmannschaft am Ende der Saison auf dem 16. Tabellenplatz
gestanden habe, mithin auch aus sportlichen Gründen
abgestiegen wäre, und ein Leistungsabfall der Mannschaft nach
Bekanntgabe des Abstiegsbeschlusses im Laufe der Spielzeit
2013/2014 nicht erkennbar sei. Das Oberlandesgericht hat die
Revision nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Kläger mit
der Nichtzulassungsbeschwerde.
Entscheidung des
Bundesgerichtshofs: Der Bundesgerichtshof hat die
Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen, weil die
Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die
Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts
erfordern (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
Das gilt
insbesondere hinsichtlich der vom Kläger mit der
Nichtzulassungsbeschwerde aufgeworfenen unionsrechtlichen
Fragen. Eine diesbezügliche Vorlage an den Gerichtshof der
Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 1, 3 AEUV ist nicht
veranlasst. Vorinstanzen: LG Bremen - Urteil vom 24.
Februar 2023 - 4 O 674/21 OLG Bremen - Beschluss vom 13.
März 2024 - 2 U 42/23
Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Polizeikosten bei
Hochrisikospielen Karlsruhe, 14. Januar
2025 - Mit heute verkündetem Urteil hat der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass
die Erhebung einer Gebühr für den polizeilichen Mehraufwand
bei „Hochrisikospielen“ der Fußball-Bundesliga in der Freien
Hansestadt Bremen mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die
Verfassungsbeschwerde der DFL Deutsche Fußball Liga GmbH
blieb daher erfolglos.
Nach dem im November 2014 in
Kraft getretenen § 4 Abs. 4 des Bremischen Gebühren- und
Beitragsgesetzes (BremGebBeitrG) wird bei Veranstalterinnen
und Veranstaltern für den polizeilichen Mehraufwand bei
gewinnorientierten, erfahrungsgemäß gewaltgeneigten
Großveranstaltungen mit mehr als 5.000 Personen eine Gebühr
erhoben, welche nach dem Mehraufwand zu berechnen ist, der
aufgrund der Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte
entsteht.
Diese Regelung greift in die durch Art. 12
Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützte Berufsfreiheit der
Veranstalterinnen und Veranstalter zwar ein. Der Eingriff ist
aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da die Norm formell
und materiell verfassungsgemäß ist. Die Norm genügt als
Berufsausübungsregelung insbesondere den Anforderungen der
Verhältnismäßigkeit. Die Regelung ist auch mit Art. 3 Abs. 1
GG vereinbar.
Sachverhalt:
Gemäß § 4 Abs. 4
BremGebBeitrG wird bei Veranstalterinnen und Veranstaltern
für den polizeilichen Mehraufwand bei gewinnorientierten,
erfahrungsgemäß gewaltgeneigten Großveranstaltungen mit mehr
als 5.000 Personen eine Gebühr erhoben, welche nach dem
Mehraufwand zu berechnen ist, der aufgrund der Bereitstellung
zusätzlicher Polizeikräfte entsteht.
Im Hinblick auf
das am 19. April 2015 angesetzte Spiel der Fußball-Bundesliga
zwischen dem SV Werder Bremen und dem Hamburger SV im Bremer
Weserstadion unterrichtete die Polizei Bremen die
Beschwerdeführerin unter Verweis auf § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG
über ihre voraussichtliche Gebührenpflicht als
Veranstalterin. Nach den damaligen Erkenntnissen und
Informationen sei am Spieltag mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit mit gewalttätigen Auseinandersetzungen
zwischen Fans der Vereine zu rechnen, wenn dem nicht durch
den Einsatz von starken Polizeikräften und durch
entsprechende Einsatzmaßnahmen effektiv begegnet werde.
Am Spieltag selbst verlief der Gesamteinsatz, bei dem
die Bremer Polizei von Einsatzkräften aus Schleswig-Holstein,
Hamburg, Hessen und der Bundespolizei unterstützt wurde, nach
Bewertung der Polizeiführung insgesamt reibungslos. Die
Polizei Bremen erließ gegenüber der Beschwerdeführerin als
Veranstalterin des Spiels einen Bescheid über die Erhebung
von Gebühren in Höhe eines mittleren sechsstelligen
Eurobetrags für den erforderlichen Einsatz zusätzlicher
Polizeikräfte.
Nachdem der hiergegen erhobene
Widerspruch der Beschwerdeführerin erfolglos geblieben war,
hob das Verwaltungsgericht den angefochtenen Gebührenbescheid
in Gestalt des Widerspruchsbescheids auf die Klage der
Beschwerdeführerin auf.
Auf die Berufung der Freien
Hansestadt Bremen hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil
des Verwaltungsgerichts aufgehoben und die Klage der
Beschwerdeführerin abgewiesen. Die Gebührenregelung des § 4
Abs. 4 Sätze 1 und 2 BremGebBeitrG sei verfassungsgemäß. In
der gegen dieses Urteil gerichteten Revision hat das
Bundesverwaltungsgericht das Urteil des
Oberverwaltungsgerichts zwar aufgehoben, in der Sache aber
weitgehend die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts
bestätigt.
Nach der Zurückverweisung hat das
Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts
erneut aufgehoben und die Klage der Beschwerdeführerin
abgewiesen.
Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich
die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidungen des
Oberverwaltungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts
sowie vorrangig gegen die Gebührenregelung selbst und rügt
unter anderem eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12
Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.
Wesentliche Erwägungen
des Senats: Die nur teilweise zulässige
Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
I. § 4 Abs. 4
BremGebBeitrG greift zwar in die durch Art. 12 Abs. 1 GG
geschützte Berufsfreiheit der Veranstalterinnen und
Veranstalter ein. Der Eingriff ist aber verfassungsrechtlich
gerechtfertigt.
1. Die Norm ist formell
verfassungsgemäß, insbesondere steht dem Land insoweit die
Gesetzgebungskompetenz nach Art. 70 GG zu. Gebühren fallen in
die Kategorie der nichtsteuerlichen Abgaben und weisen als
Vorzugslasten Merkmale auf, die sie verfassungsrechtlich
notwendig von der Steuer unterscheiden.
Als Gebühren
lassen sich danach öffentlich-rechtliche Geldleistungen
verstehen, die aus Anlass individuell zurechenbarer
Leistungen durch eine öffentlich-rechtliche Norm oder eine
sonstige hoheitliche Maßnahme auferlegt werden und
insbesondere dazu bestimmt sind, in Anknüpfung an diese
Leistungen deren Kosten ganz oder teilweise zu decken oder
deren Vorteil oder deren Wert auszugleichen. Bei der
durch § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG begründeten
Geldleistungspflicht handelt es sich um eine nichtsteuerliche
Abgabe in Form einer Gebühr, da sie für die öffentliche
Leistung der konkreten Bereitstellung zusätzlicher
Polizeikräfte deren Kosten (also den Mehraufwand) den
Veranstalterinnen und Veranstaltern auferlegt.
2. § 4
Abs. 4 BremGebBeitrG ist auch materiell verfassungsgemäß.
Insbesondere genügt die Norm als Berufsausübungsregelung den
Anforderungen der Verhältnismäßigkeit und dem
Bestimmtheitsgebot.
a) Die Regelung zielt darauf ab,
die durch die Durchführung der näher beschriebenen
Veranstaltungen entstandenen Mehrkosten der Polizei auf die
Veranstalterinnen und Veranstalter abzuwälzen, wobei die
Kosten an die Stelle verlagert werden sollen, an der die
Gewinne anfallen. Auf diese Weise sollen die Mehrkosten der
Polizeieinsätze nicht durch die Gesamtheit der
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, sondern jedenfalls auch
durch die (un)mittelbaren wirtschaftlichen Nutznießerinnen
und Nutznießer der Polizeieinsätze geschultert werden. Dies
ist ein legitimes Ziel.
Der Legitimität des mit § 4
Abs. 4 BremGebBeitrG verfolgten Ziels steht kein
verfassungsrechtlich verbürgtes generelles
Gebührenerhebungsverbot im Polizeirecht entgegen. Die
Verfassung kennt keinen allgemeinen Grundsatz, nach dem die
polizeiliche Sicherheitsvorsorge durchgängig kostenfrei zur
Verfügung gestellt werden muss. Die Gefahrenvorsorge ist
keine allgemeine staatliche Tätigkeit, die zwingend
ausschließlich aus dem Steueraufkommen zu finanzieren ist.
b) Die Gebührenpflicht ist zur Erreichung des Ziels auch
geeignet und erforderlich. c) Die mit der Gebührenerhebung
verbundenen Einschränkungen der nach Art. 12 Abs. 1 GG
geschützten beruflichen Freiheit sind angemessen. aa) Die
Gebühr wird insbesondere als Gegenleistung für eine
individuell zurechenbare Leistung erhoben.
(1) Es
besteht ein hinreichendes Näheverhältnis der
Gebührenpflichtigen zur öffentlichen Leistung, also dem
Mehraufwand des Polizeieinsatzes. Die Zurechenbarkeit
rechtfertigt sich dabei aus einer Gesamtschau mehrerer
Gesichtspunkte, die überwiegend dem Veranlasserprinzip
zuzuordnen sind.
(a) Indem sie eine Veranstaltung
durchführen, bei der erfahrungsgemäß Gewalthandlungen in
erheblichem Maße zu erwarten sind (Hochrisikoveranstaltung),
veranlassen die Veranstalterinnen und Veranstalter eine
deutlich gesteigerte staatliche Sicherheitsvorsorge, nehmen
damit begrenzte öffentliche Ressourcen in deutlich
übermäßigem Umfang in Anspruch und begründen so ein
Näheverhältnis zu der erbrachten staatlichen Leistung, welche
ohne die Hochrisikoveranstaltung nicht notwendig wäre.
Zwischen dem Aufwand und der Verursachung besteht dabei
auch bei wertender Betrachtung ein Näheverhältnis. Die Nähe
zum gebührenpflichtigen Mehraufwand wird im vorliegenden Fall
auch durch den besonderen Umfang des Aufwands begründet, der
in abgrenzbarer Weise durch die Veranstaltung und gerade
nicht durch die Allgemeinheit verursacht wird.
Die
sicherheitsrechtliche Lage in einer Stadt, in der eine
Hochrisikoveranstaltung durchgeführt wird, unterscheidet sich
von einer Normallage in einer Weise, die bei wertender
Betrachtung die Einschätzung des Gesetzgebers, hier liege
eine quantitative Sondernutzung der Sicherheitsgewährleistung
vor, hinreichend trägt. So wurde bei dem Hochrisikospiel, das
dem vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren zugrunde
liegt, ein Vielfaches an Polizeikräften im Vergleich zu
„Nicht-Hochrisikospielen“ eingesetzt.
Die besondere
Nähe zu der kostenverursachenden Bereitstellung zusätzlicher
Polizeikräfte ist weiter auch deshalb gegeben, weil die
Durchführung einer Hochrisikoveranstaltung eine besondere
Gefahrträchtigkeit in sich birgt und dadurch übermäßig die
begrenzten öffentlichen Ressourcen bindet. Insbesondere bei
Hochrisikofußballspielen ist die Bereitstellung zusätzlicher
Polizeikräfte wegen der besonderen Gefahrträchtigkeit
plausibel und wird durch langjährige Erfahrungen gestützt.
(b) Die von § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG erfassten
staatlichen Maßnahmen besitzen weiter deshalb einen
spezifischen Bezug zu den in der Vorschrift genannten
Veranstaltungen, weil sie gerade deren Durchführung
ermöglichen. Die Veranstalterinnen und Veranstalter sind
objektiv, ohne es beantragt oder ausdrücklich erwünscht zu
haben, Nutznießerinnen und Nutznießer dieser Bereitstellung
von Polizeikräften. Die hierdurch ermöglichte
Risikominimierung kommt ihnen zugute, weil sie ohne diese
ihre Veranstaltung nicht oder zumindest nicht in der
gewählten Form ausrichten könnten.
(2) Die
individuelle Zurechnung setzt auch nicht die polizeiliche
Verantwortlichkeit der Veranstalterinnen und Veranstalter
voraus. Das Grundgesetz kennt keinen entsprechenden
Grundsatz.
(3) Die durch eine gefahrträchtige
Großveranstaltung veranlasste erhöhte Sicherheitsvorsorge
bleibt den Veranstalterinnen und Veranstaltern zurechenbar,
auch wenn die Realisierung der Gefahr von einem –
gegebenenfalls rechtswidrigen – Verhalten Dritter abhängt.
Ein vorsätzliches Dazwischentreten Dritter führt jedenfalls
dann nicht zwingend zu einer Unterbrechung der Zurechnung des
Mehraufwandes, wenn die Veranstaltung in Kenntnis ihrer
Gefahrträchtigkeit durchgeführt wird.
bb) Die Bremer
Veranstaltungsgebühr beeinträchtigt die Berufsfreiheit der
Veranstalterinnen und Veranstalter auch in einer Gesamtschau
nicht unangemessen. Grundsätzlich steht das Ziel der Gebühr,
nicht die Allgemeinheit mit dem der Polizei entstandenen
Mehraufwand bei Hochrisikoveranstaltungen zu belasten,
sondern deren Veranstalterinnen und Veranstalter, die den
Mehraufwand veranlassen und mit der Veranstaltung einen
Gewinn erzielen wollen, nicht außer Verhältnis zu der aus der
Gebührenpflicht folgenden Beeinträchtigung beruflicher
Freiheit. Insbesondere ist eine unangemessene Belastung oder
eine erdrosselnde Wirkung durch § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG
nicht erkennbar. Bezogen auf die finanzielle
Belastungswirkung ist auch zu berücksichtigen, dass § 4 Abs.
4 BremGebBeitrG nur einen kleinen Teil von kommerziellen
Veranstaltungen betrifft.
d) § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG
genügt zudem dem Gebot der Bestimmtheit und Normenklarheit.
Die in der Verfassungsbeschwerde bezeichneten Merkmale auf
Tatbestands- und Rechtsfolgenseite werfen keine
Auslegungsprobleme auf, die nicht mit herkömmlichen
juristischen Methoden bewältigt werden können. Auch der
Umstand, dass die Gebührenhöhe von den Veranstalterinnen und
Veranstaltern selbst im Voraus nicht genau berechnet werden
konnte, ändert hieran nichts. Das Bestimmtheitsgebot verlangt
nicht, dass sich aus den Regelungen zur Bemessung der Gebühr
vorab deren exakte Höhe ermitteln lässt.
II. § 4 Abs.
4 BremGebBeitrG ist auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz
aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.
Indem die Norm die
Gebührenlast für die Bereitstellung zusätzlicher
Polizeikräfte nicht allen Veranstalterinnen und
Veranstaltern, sondern nur denjenigen auferlegt, die die in §
4 Abs. 4 BremGebBeitrG genannten Kriterien erfüllen,
differenziert die Norm zwischen verschiedenen Gruppen.
Wegen des vorliegenden Eingriffsgewichts in die
Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG ist für die hier
relevanten Ungleichbehandlungen nicht nur ein sachlicher
Grund erforderlich, vielmehr muss das Verhältnis des durch
die Ungleichbehandlung beabsichtigten Gemeinwohlgewinns
angemessen zu der damit verbundenen Ungleichheit sein. Dies
ist der Fall.
1. Die Differenzierungen dienen gerade
dazu, den mit dem Eingriff verfolgten Zweck zu realisieren.
Der Aufwand soll dorthin verlagert werden, wo die Gewinne
hinfließen und wo sie typischerweise auch vorhanden sind.
Indem an die Gewinnorientierung angeknüpft wird, wird die
Belastung gerade auf den Bereich verlagert, in dem die
Schuldnerinnen und Schuldner einen Vorteil erzielen. Der
Unterschied im daraus erwachsenden Vorteil zwischen
gewinnorientierten, einen monetären Vorteil ziehenden
Veranstaltungen und nicht gewinnorientierten Veranstaltungen
ist so groß, dass er die Nichteinbeziehung der nicht
gewinnorientierten Veranstaltungen rechtfertigt.
2.
Die Beschränkung auf Veranstaltungen mit voraussichtlich mehr
als 5.000 zeitgleich teilnehmenden Personen verfolgt das
Ziel, nur diejenigen Veranstaltungen zu erfassen, die einen
deutlichen polizeilichen Mehraufwand hervorrufen. Das Merkmal
verfolgt daher partiell das gleiche Ziel wie das der
besonderen Gefahrträchtigkeit. Es soll nur die Veranstaltung,
die eine administrativ und finanziell erhebliche
Sondernutzung der Gefahrenvorsorge bewirkt, erfasst werden.
Darüber hinaus unterstützt die Konzentration auf die Größe
der Veranstaltung auch das gleiche Ziel wie das Kriterium der
Gewinnorientierung. Es ist anzunehmen, dass eine
Veranstaltung umso gewinnbringender ist, je größer sie ist.
Die Differenzierung soll gerade das Ziel des Eingriffs
ermöglichen und steht nicht außer Verhältnis zur bewirkten
Belastung.
Unzulässige abstrakte
Normenkontrolle zum Haushaltsgesetz 2023 Aktenzeichen:
VerfGH 34/23 Die Einhaltung der – für den
Haushaltsgesetzgeber des Landes Nordrhein-Westfalen
verbindlichen – Schuldenbremse unterliegt nicht der
Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof. Das hat der
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in
Münster mit einem heute verkündeten Urteil entschieden und
einen Normenkontrollantrag zum Haushaltsgesetz 2023 als
unzulässig verworfen. Eine inhaltliche Entscheidung darüber,
ob der Landeshaushalt für das Jahr 2023 gegen die
Anforderungen der Schuldenbremse verstößt, ist deshalb nicht
ergangen.
Der Landtag Nordrhein-Westfalen stellte
in seiner Plenarsitzung vom 20. Dezember 2022 durch Beschluss
fest, dass die durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg
auf die Ukraine ausgelöste Krisensituation im Jahr 2023 eine
außergewöhnliche Notsituation begründe, die sich der
Kontrolle des Staates entziehe und die Finanzlage des Landes
Nordrhein-Westfalen erheblich beeinträchtige. Am selben Tag
beschloss der Landtag das Haushaltsgesetz 2023.
In seiner Sitzung vom 21. Dezember 2022 verabschiedete der
Landtag das NRW-Krisenbewältigungsgesetz. Dadurch wurde das
Sondervermögen „Bewältigung der Krisensituation in Folge des
russischen Angriffskriegs in der Ukraine“ errichtet. Das
Haushaltsgesetz 2023 enthält in § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 die
Ermächtigung des Ministeriums der Finanzen zur Aufnahme von
Kreditmitteln bis zum Höchstbetrag von 5 Mrd. Euro zur
Finanzierung der Aufgaben dieses Sondervermögens.
Damit verbunden ist in § 2 Abs. 1 Satz 3 Haushaltsgesetz
2023 die Regelung, dass die danach aufgenommenen Kreditmittel
ab dem Jahr 2024 innerhalb von 25 Jahren konjunkturgerecht
getilgt werden. 2 Die Mitglieder der NRW-Landtagsfraktionen
der SPD und FDP haben einen Normenkontrollantrag zur
verfassungsgerichtlichen Überprüfung dieser
Kreditermächtigung und Tilgungsregelung gestellt. Sie machen
geltend, die beanstandete Norm des Haushaltsgesetzes 2023 sei
verfassungswidrig, weil sie mit den maßgeblichen Regelungen
zur Schuldenbremse unvereinbar sei.
Die
Voraussetzungen der „Notlagenausnahme“ seien nicht erfüllt.
Der Verfassungsgerichtshof hat den Normenkontrollantrag als
unzulässig verworfen. In ihrer mündlichen Urteilsbegründung
hat die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Prof. Dr. Dr.
h.c. Dauner-Lieb unter anderem ausgeführt: Dem
Verfassungsgerichtshof ist eine Überprüfung, ob das
Haushaltsgesetz 2023 gegen die Schuldenbremse verstößt, nicht
zugänglich. Die landeshaushaltsrechtlichen Bestimmungen
können vom Verfassungsgerichtshof im Wege der abstrakten
Normenkontrolle nur am Maßstab der Landesverfassung überprüft
werden. Eine Kontrolle anhand von Regelungen des
Grundgesetzes oder einfachgesetzlicher Vorschriften ohne
Verfassungsrang ist unzulässig.
Eine
landesverfassungsrechtliche Regelung der Schuldenbremse,
anhand derer der Verfassungsgerichtshof das Haushaltsgesetz
überprüfen könnte, gibt es aber nicht. Das in Art. 109 Abs. 3
Satz 1 GG enthaltene grundsätzliche Verbot der
Nettokreditaufnahme gilt seit dem 1. Januar 2020 zwar
unmittelbar auf Basis des Grundgesetzes und ist damit auch
für die Länder verbindlich.
Die in Art. 109 Abs.
3 Satz 5 GG vorgesehene nähere Ausgestaltung für die
Haushalte der Länder erfolgte in NordrheinWestfalen aber
nicht in der Landesverfassung, sondern in der
Landeshaushaltsordnung (§§ 18 bis 18h LHO) und damit durch
einfaches Gesetz ohne Verfassungsrang. Beim
Verfassungsgerichtshof sind zwei weitere Verfahren im
Zusammenhang mit dem NRW-Landeshaushalt 2023 noch anhängig,
über die in diesem Jahr entschieden werden soll (VerfGH 32/23
und VerfGH 33/23). Einzelheiten zum Gegenstand der Verfahren
können der Pressemitteilung vom 6. April 2023 entnommen
werden.
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