|
November 2024 |
Bundesgerichtshof
entscheidet über die Rückzahlung von Bankentgelten Urteil
vom 19. November 2024 - XI ZR 139/23 Karlsruhe,
19. November 2024 - Der u.a. für das Bank- und
Kapitalmarktrecht zuständige XI. Zivilsenat des
Bundesgerichtshofs hat mit Urteil vom 19. November 2024 über
die Rückzahlung von Bankentgelten entschieden, die aufgrund
einer unwirksamen Zustimmungsfiktionsklausel vereinbart
werden sollten. Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:
Der Kläger begehrt Rückzahlung von geleisteten
Kontoführungsentgelten und Gebühren für eine Girokarte.
Nach einer in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen
der beklagten Sparkasse enthaltenen unwirksamen Regelung gilt
die Zustimmung des Kunden zu angebotenen Änderungen von
Vertragsbedingungen oder Entgelten für Bankleistungen als
erteilt, wenn der Kunde der Beklagten seine Ablehnung nicht
innerhalb einer bestimmten Frist anzeigt
(Zustimmungsfiktionsklausel). Die Beklagte informierte den
Kläger im Oktober 2017 darüber, dass für dessen zwei
Girokonten ab dem 1. Januar 2018 Kontoführungsentgelte und
Gebühren für eine Girokarte zu zahlen seien. Daraufhin
kündigte der Kläger eines der Girokonten.
Die
Bekalgte erhob ab dem 1. Januar 2018 eine Grundgebühr für die
Führung des anderen Girokontos in Höhe von monatlich 3,50 €
und eine Gebühr für eine SparkassenCard in Höhe von jährlich
6 €. Der Kläger stimmte diesen Änderungen der Bedingungen
nicht aktiv zu. Die Beklagte buchte die Entgelte in der
Folgezeit vom Konto des Klägers ab. Im Juli 2021 widersprach
dieser der Erhebung der Entgelte.
Mit seiner
Klage begehrt er die Rückzahlung der in den Jahren 2018 bis
2021 erhobenen Entgelte in Höhe von insgesamt 192 € sowie die
Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger
jeden weiteren künftigen Schaden zu ersetzen, der ihm durch
die Einziehung nicht vereinbarter Bankentgelte nach dem Jahr
2021 entstehe. Das Amtsgericht und das Landgericht haben die
Klage jeweils abgewiesen. Mit der – vom Berufungsgericht
zugelassenen – Revision verfolgt der Kläger sein
Klagebegehren weiter.
• Entscheidung
des Bundesgerichtshofs: Der XI. Zivilsenat des
Bundesgerichtshofs hat das Berufungsurteil aufgehoben und die
Beklagte antragsgemäß verurteilt. Er hat entschieden, dass
der Kläger Rückzahlung der Kontoführungsentgelte und des
Entgelts für die Girokarte verlangen kann. Der Kläger hat
einen Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1
BGB, weil die Beklagte die Entgelte ohne Rechtsgrund
vereinnahmt hat.
Der Kläger hat der von der
Beklagten beabsichtigten Änderung der Entgeltbedingungen
nicht konkludent durch die fortgesetzte Nutzung des
Girokontos zugestimmt. Die fortlaufende Nutzung eines
Girokontos hat keinen objektiven Erklärungswert dahin, dass
der Wille des Kontoinhabers neben dem Willen, einen konkreten
Kontovorgang auszulösen, auch die Zustimmung zu geänderten
Kontobedingungen der Sparkasse oder Bank umfasst.
Der Zugang zu einem Girokonto ist in der Regel eine
unabdingbare Voraussetzung für die Teilnahme am unbaren
Zahlungsverkehr und von essentieller Bedeutung für die
uneingeschränkte Teilhabe am wirtschaftlichen und sozialen
Leben. Die Nutzung des Girokontos allein ist deshalb kein
Ausdruck des Einverständnisses mit der Änderung von
Allgemeinen Geschäftsbedingungen durch die Sparkasse oder
Bank, sondern entspricht lediglich den Erfordernissen und
Usancen des modernen Geschäfts- und Wirtschaftsverkehrs im
Alltag.
Die von der Beklagten erhobenen Entgelte
sind auch nicht durch eine Fiktion der Zustimmung des Klägers
zu den geänderten Kontobedingungen der Beklagten vereinbart
worden. Der Senat hat bereits mit Urteil vom 27. April 2021
(XI ZR 26/20) entschieden, dass eine Klausel in den
Geschäftsbedingungen von Banken und Sparkassen, die eine
solche Fiktion vorsieht, im Verkehr mit Verbrauchern
unwirksam ist. Auch der Umstand, dass der Kläger die von der
Beklagten erhobenen Entgelte über einen Zeitraum von mehr als
drei Jahren widerspruchslos gezahlt hat, führt nicht dazu,
dass die Sparkasse die Entgelte behalten darf.
Die vom VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs im
Zusammenhang mit unwirksamen Preisanpassungsklauseln in
Energielieferungsverträgen angewandte sogenannte
Dreijahreslösung (Urteil vom 14. März 2012 – VIII ZR 113/11)
ist nicht auf unwirksame Zustimmungsfiktionsklauseln von
Banken und Sparkassen übertragbar.
Nach der
Dreijahreslösung kann ein Kunde die Unwirksamkeit von
Preiserhöhungen, die auf unwirksame Preisanpassungs-klauseln
in Energielieferungsverträgen gestützt sind, nicht mehr mit
Erfolg geltend machen, wenn er sie nicht innerhalb eines
Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der Jahresabrechnung,
in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist,
beanstandet hat.
Die dieser Rechtsprechung
zugrundeliegenden Erwägungen tragen vorliegend nicht. Denn
der Inhalt eines Vertrags selbst wird durch die unwirksame
Zustimmungsfiktionsklausel – anders als durch
Preisanpassungsklauseln – nicht bestimmt. Die durch den
Wegfall der Zustimmungsfiktionsklausel entstandene
Vertragslücke ist auch nicht wie die mit der unwirksamen
Preisanpassungsklausel verbundene Vertragslücke im Wege einer
ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen, sondern gemäß §
306 Abs. 2 BGB durch das dispositive Gesetzesrecht, das mit
den § 311 Abs. 1, §§ 145 ff. BGB konkrete Regelungen zur
konsensualen Änderung eines Vertrags zur Verfügung stellt.
Danach hat die Zustimmung zu einer von der Bank
oder Sparkasse angetragenen Vertragsänderung, die durch die
unwirksame Zustimmungsfiktionsklausel fingiert werden sollte,
durch eine Willenserklärung des Kunden zu erfolgen. Eine
dreijährige Frist, binnen derer der Bankkunde die Erhebung
von unwirksamen Bankentgelten beanstandet haben muss, um
nicht an das von der Bank oder Sparkasse Angetragene gebunden
zu sein, sieht das nach § 306 Abs. 2 BGB maßgebende
dispositive Gesetzesrecht demgegenüber nicht vor. Sparkassen
und Banken werden angesichts der bestehenden gesetzlichen
Verjährungsregelungen, die eine dreijährige Verjährungsfrist
vorsehen (§ 195 BGB), und angesichts der bestehenden
Möglichkeit, Verträge zu kündigen, auch nicht unzumutbar
belastet.
Vorinstanzen: Amtsgericht Ingolstadt -
Urteil vom 11. August 2022 - 13 C 1691/21 Landgericht
Ingolstadt - Urteil vom 23. Juni 2023 - 13 S 1539/22 p Die
maßgeblichen Vorschriften lauten: § 145 BGB Wer einem anderen
die Schließung eines Vertrags anträgt, ist an den Antrag
gebunden, es sei denn, dass er die Gebundenheit
ausgeschlossen hat.
§ 195 BGB Die regelmäßige
Verjährungsfrist beträgt drei Jahre. § 306 Abs. 2 BGB (2)
Soweit die Bestimmungen nicht Vertragsbestandteil geworden
oder unwirksam sind, richtet sich der Inhalt des Vertrags
nach den gesetzlichen Vorschriften. § 311 Abs. 1 BGB (1) Zur
Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft
sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist
ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit
nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. § 812 Abs. 1 Satz 1
BGB (1) Wer durch die Leistung eines anderen oder in
sonstiger Weise auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen
Grund erlangt, ist ihm zur Herausgabe verpflichtet.
Bundesgerichtshof
entscheidet über Ansprüche im Zusammenhang mit einem
Datenschutzvorfall beim sozialen Netzwerk Facebook (sog.
Scraping) Karlsruhe, 18. November 2024: Urteil - VI ZR
10/24
Sachverhalt: Die Beklagte betreibt
das soziale Netzwerk Facebook. Anfang April 2021 wurden Daten
von ca. 533 Millionen Facebook-Nutzern aus 106 Ländern im
Internet öffentlich verbreitet. Unbekannte Dritte hatten sich
zuvor den Umstand zu Nutze gemacht, dass die Beklagte es in
Abhängigkeit von den Suchbarkeits-Einstellungen des
jeweiligen Nutzers ermöglicht, dass dessen Facebook-Profil
mithilfe seiner Telefonnummer gefunden werden kann.
Die unbekannten Dritten ordneten durch die in großem
Umfang erfolgte Eingabe randomisierter Ziffernfolgen über die
Kontakt-Import-Funktion Telefonnummern den zugehörigen
Nutzerkonten zu und griffen die zu diesen Nutzerkonten
vorhandenen öffentlichen Daten ab (sog. Scraping). Von diesem
Scraping-Vorfall waren auch Daten des Klägers (Nutzer-ID,
Vor- und Nachname, Arbeitsstätte und Geschlecht) betroffen,
die auf diese Weise mit dessen Telefonnummer verknüpft
wurden.
Der Kläger macht geltend, die Beklagte
habe keine ausreichenden Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, um
eine Ausnutzung des Kontakt-Tools zu verhindern. Ihm stehe
wegen des erlittenen Ärgers und des Kontrollverlusts über
seine Daten Ersatz für immaterielle Schäden zu. Darüber
hinaus begehrt der Kläger die Feststellung, dass die Beklagte
verpflichtet sei, ihm in diesem Zusammenhang auch alle
künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen,
und nimmt die Beklagte auf Unterlassung und Auskunft in
Anspruch.
Bisheriger Prozessverlauf: Das
Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und dem
Kläger aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO Schadensersatz in Höhe von
250 € zugesprochen; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die
Klage unter Zurückweisung der Anschlussberufung des Klägers
insgesamt abgewiesen. Weder reiche der bloße Kontrollverlust
zur Annahme eines immateriellen Schadens im Sinne von Art. 82
Abs. 1 DSGVO aus noch habe der Kläger hinreichend
substantiiert dargelegt, über den Kontrollverlust als solchen
hinaus psychisch beeinträchtigt worden zu sein.
Mit Beschluss vom 31. Oktober hat der Bundesgerichtshof das
Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren gemäß §
552b ZPO n.F. bestimmt (Pressemitteilung 206/24). Nachdem die
Revision nicht zurückgenommen wurde oder sich anderweitig
erledigt hat, hat der Bundesgerichtshof jedoch am 11.
November 2024 mündlich zur Sache verhandelt und nach
allgemeinen Regeln durch Urteil über die Revision des Klägers
entschieden.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Die Revision des Klägers war teilweise erfolgreich.
Der Anspruch des Klägers auf Ersatz immateriellen Schadens
lässt sich mit der Begründung des Berufungsgerichts nicht
verneinen. Nach der für die Auslegung des Art. 82 Abs. 1
DSGVO maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH kann auch der
bloße und kurzzeitige Verlust der Kontrolle über eigene
personenbezogene Daten infolge eines Verstoßes gegen die
Datenschutz-Grundverordnung ein immaterieller Schaden im
Sinne der Norm sein.
Weder muss insoweit eine
konkrete missbräuchliche Verwendung dieser Daten zum Nachteil
des Betroffenen erfolgt sein noch bedarf es sonstiger
zusätzlicher spürbarer negativer Folgen. Erfolg hatte die
Revision auch, soweit das Berufungsgericht die Anträge des
Klägers auf Feststellung einer Ersatzpflicht für zukünftige
Schäden, auf Unterlassung der Verwendung seiner
Telefonnummer, soweit diese nicht von seiner Einwilligung
gedeckt ist, und auf Ersatz seiner vorgerichtlichen
Rechtsanwaltskosten abgewiesen hat.
Entgegen der
Auffassung des Berufungsgerichts fehlt es nicht an dem
notwendigen Feststellungsinteresse des Klägers, da die
Möglichkeit des Eintritts künftiger Schäden unter den
Umständen des Streitfalles ohne Weiteres besteht. Der
genannte Unterlassungsanspruch ist hinreichend bestimmt und
dem Kläger fehlt insoweit auch nicht das
Rechtsschutzbedürfnis. Im Übrigen (weiterer
Unterlassungsantrag und Auskunftsantrag) blieb die Revision
hingegen ohne Erfolg.
Im Umfang des Erfolges der
Revision hat der Bundesgerichtshof die Sache zur neuen
Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht
zurückverwiesen. Für die weitere Prüfung hat der
Bundesgerichtshof das Berufungsgericht zum einen darauf
hingewiesen, dass die von der Beklagten vorgenommene
Voreinstellung der Suchbarkeitseinstellung auf "alle" nicht
dem Grundsatz der Datenminimierung entsprochen haben dürfte,
wobei das Berufungsgericht ergänzend die Frage einer
wirksamen Einwilligung des Klägers in die Datenverarbeitung
durch die Beklagte zu prüfen haben wird.
Zum
anderen hat der Bundesgerichtshof Hinweise zur Bemessung (§
287 ZPO) des immateriellen Schadens aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO
erteilt und ausgeführt, warum unter den Umständen des
Streitfalles von Rechts wegen keine Bedenken dagegen
bestünden, den Ausgleich für den bloßen Kontrollverlust in
einer Größenordnung von 100 € zu bemessen.
Vorinstanzen: LG Bonn - Urteil vom 29. März 2023 - 13 O
125/22 OLG Köln - Urteil vom 7. Dezember 2023 - 15 U 67/23
Die maßgebliche Vorschrift lautet: Artikel 82
Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) - Haftung und Recht auf
Schadenersatz (1) Jede Person, der wegen eines Verstoßes
gegen diese Verordnung ein materieller oder immaterieller
Schaden entstanden ist, hat Anspruch auf Schadenersatz gegen
den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter.
Eilantrag gegen das Verbot
des Vereins Palästina Solidarität Duisburg (PSDU) erfolglos
Münster, 15. November 2024 - Das
Oberverwaltungsgericht hat heute den Eilantrag des Vereins
PSDU, das Verbot des Vereins durch das Ministerium des Innern
des Landes Nordrhein-Westfalen (IM NRW) vorläufig
auszusetzen, abgelehnt.
Mit Verbotsverfügung vom
18.03.2024 stellte das IM NRW unter Anordnung der sofortigen
Vollziehung fest, dass der Verein PSDU sich gegen die
verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der
Völkerverständigung richte, deshalb verboten sei und
aufgelöst werde. Der dagegen gerichtete Eilantrag des Vereins
PSDU, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die
Verbotsverfügung wiederherzustellen, hatte beim
erstinstanzlich zuständigen Oberverwaltungsgericht keinen
Erfolg.
Zur Begründung hat der 5. Senat des
Oberverwaltungsgerichts im Wesentlichen ausgeführt: Nach der
Prüfung im Eilverfahren trifft die Annahme des IM NRW zu,
dass der Verein PSDU sich gegen den Gedanken der
Völkerverständigung richtet, indem er kontinuierlich gegen
den Staat Israel hetzt und damit Hass und Gewalt in das
Verhältnis von Israelis und Palästinensern hineinträgt.
Eine Gesamtbetrachtung der in der angefochtenen
Verbotsverfügung aufgeführten Indizien belegt, dass der
Verein PSDU sich nicht, wie er vorträgt, für ein friedliches
Zusammenleben der Völker einsetzt und lediglich die
gewaltsamen Zustände, Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen
etc. kritisiert sowie vom Völkerrecht gedeckte Positionen
vertritt. In der Verbotsverfügung wird ihm auch nachgewiesen,
dass er konkrete Gewalthandlungen, die nicht vom Völkerrecht
gedeckt sind, gebilligt hat.
Diese Einschätzung
ergibt sich bereits daraus, dass der Verein PSDU die HAMAS
unterstützt, die ihrerseits durch Ausübung von Gewalt das
friedliche Miteinander der Völker beeinträchtigt. Die HAMAS
ist von der Europäischen Union als terroristische Vereinigung
gelistet und das Bundesministerium des Innern und für Heimat
hat mit Verfügung vom 02.11.2023 ein Betätigungsverbot
gegenüber der HAMAS erlassen, weil ihre Tätigkeit in
Deutschland Strafgesetzen zuwiderläuft und sich gegen den
Gedanken der Völkerverständigung richtet.
Der Verein
PSDU sympathisiert und solidarisiert sich mit den Angriffen
der HAMAS. Er unterstützt diese terroristische Vereinigung,
indem er sie und die von ihr verübten völkerrechtswidrigen
Angriffe verherrlicht, propagiert und legitimiert. Darüber
hinaus verneint der Verein PSDU das Existenzrecht des Staates
Israel und ruft zu seiner gewaltsamen Beseitigung auf.
Erweist sich die Verbotsverfügung schon deshalb als
rechtmäßig, kommt es auf die weiteren von dem IM NRW in der
Verbotsverfügung angeführten Gründe und die entsprechenden
Einwände des Vereins nicht an. Der Beschluss ist
unanfechtbar. Aktenzeichen: 5 B 558/24
|
September 2024 |
Wettbewerbsrechtlicher
Beseitigungsanspruch umfasst nicht die Rückzahlung zu Unrecht
einbehaltener Geldbeträge an Verbraucher - I ZR 168/23
Karlsruhe, 11. September 2024 - Der unter
anderem für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des
Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass ein
Verbraucherverband mit dem wettbewerbsrechtlichen
Beseitigungsanspruch nicht die Rückzahlung aufgrund
unwirksamer Allgemeiner Geschäftsbedingungen einbehaltener
Geldbeträge an die betroffenen Verbraucher verlangen kann.
Sachverhalt: Der Kläger ist der Dachverband
deutscher Verbraucherzentralen. Der Beklagte veranstaltete
ein Festival. Zur Bezahlung auf dem Festivalgelände konnten
die Besucher ein Armband erwerben und mit Geldbeträgen
aufladen. Der Beklagte bot eine Rückerstattung nicht
verbrauchter Geldbeträge in seinen Nutzungsbedingungen wie
folgt an: "Bei der Auszahlung des restlichen Guthabens nach
dem Festival durch das Eventportal wird eine
Rückerstattungsgebühr von 2,50 € fällig".
Der
Kläger hält die Erhebung einer solchen Rückerstattungsgebühr
(Payout Fee) für unlauter und nimmt den Beklagten
insbesondere auf Rückzahlung der einbehaltenen Beträge an die
betroffenen Verbraucher in Anspruch. Bisheriger
Prozessverlauf: Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die
vom Kläger eingelegte Berufung hat das Berufungsgericht
zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen
Revision verfolgt der Kläger seine Anträge weiter.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die zulässige
Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Ein
Beseitigungsanspruch lässt sich - wie das Berufungsgericht
mit Recht angenommen hat - nicht aus § 1 UKlaG herleiten.
Diese Vorschrift begründet nur einen Anspruch auf
Unterlassung, nicht aber auch auf Beseitigung. Dem Kläger
steht gegen den Beklagten auch kein Beseitigungsanspruch auf
Rückzahlung der einbehaltenen Payout Fee an die betroffenen
Verbraucher gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 unter dem
Gesichtspunkt des Rechtsbruchs gemäß §§ 3, 3a UWG in
Verbindung mit § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB zu.
Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die
Nutzungsbedingungen des Beklagten Allgemeine
Geschäftsbedingungen sind und die darin enthaltene Klausel
über die Erhebung einer Payout Fee in Höhe von 2,50 € bei
Auszahlung nicht verbrauchten Guthabens gemäß § 307 Abs. 1
Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam ist. Denn der Beklagte
erbringt mit der Rückerstattung nicht verbrauchter
Geldbeträge keine eigenständige vergütungsfähige Leistung,
sondern erfüllt eine ohnehin bestehende vertragliche
Verpflichtung.
Das Berufungsgericht hat ebenso
zutreffend gemeint, dass der darin liegende Verstoß gegen §§
3, 3a UWG geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern
spürbar zu beeinträchtigen, da diese durch die Klausel davon
abgehalten werden könnten, Rückzahlungsansprüche gegenüber
dem Beklagten geltend zu machen.
Zu Recht hat das
Berufungsgericht entschieden, dass der Kläger mit dem
wettbewerbsrechtlichen Beseitigungsanspruch vom Beklagten
keine Rückzahlung der aufgrund der unwirksamen Klausel
einbehaltenen Payout Fee an dessen Kunden verlangen kann. Ein
solcher Anspruch steht mit der Systematik des kollektiven
Rechtsschutzes nach dem geltenden Recht nicht im Einklang.
Der Gesetzgeber hat im Gesetz gegen den
unlauteren Wettbewerb einen verschuldensabhängigen
Gewinnabschöpfungsanspruch zu Gunsten des Bundeshaushalts und
einen ebenfalls verschuldensabhängigen
Verbraucherschadensersatz vorgesehen. Im Jahr 2023 hat der
Gesetzgeber durch das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz
die Abhilfeklage eingeführt, mit der qualifizierte
Verbraucherverbände gegen Unternehmer gerichtete Ansprüche
von Verbrauchern auf Leistung geltend machen können.
Das sich daraus ergebende Konzept des kollektiven
Rechtsschutzes würde durch einen aus § 8 Abs. 1 Satz 1 Fall 1
UWG abgeleiteten verschuldensunabhängigen
Beseitigungsanspruch von qualifizierten Verbraucherverbänden
unterlaufen, mit dem ein Unternehmer zur Rückzahlung der von
ihm zu Lasten einer Vielzahl von Verbrauchern einbehaltenen
Geldbeträge an die betroffenen Verbraucher verpflichtet
werden könnte.
Vorinstanzen: LG Rostock - Urteil
vom 15. Dezember 2020 - 3 O 1091/19 OLG Rostock - Urteil vom
15. November 2023 - 2 U 15/21
Die maßgeblichen
Vorschriften lauten: § 1 UKlaG Wer in Allgemeinen
Geschäftsbedingungen Bestimmungen, die nach den §§ 307 bis
309 des Bürgerlichen Gesetzbuchs unwirksam sind, verwendet
oder für den rechtsgeschäftlichen Verkehr empfiehlt, kann auf
Unterlassung und im Fall des Empfehlens auch auf Widerruf in
Anspruch genommen werden. § 3 Abs. 1 UWG (1) Unlautere
geschäftliche Handlungen sind unzulässig. […]
§ 3a
UWG Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift
zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der
Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß
geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen
Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu
beeinträchtigen.
§ 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Nr.
3 UWG (1) Wer eine nach § 3 oder § 7 unzulässige
geschäftliche Handlung vornimmt, kann auf Beseitigung und bei
Wiederholungsgefahr auf Unterlassung in Anspruch genommen
werden. […] (3) Die Ansprüche aus Absatz 1 stehen zu: […] 3.
den qualifizierten Verbraucherverbänden, die in der Liste
nach § 4 des Unterlassungsklagengesetzes eingetragen sind,
und den qualifizierten Einrichtungen aus anderen
Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die in dem
Verzeichnis der Europäischen Kommission nach Artikel 5 Absatz
1 Satz 4 der Richtlinie (EU) 2020/1828 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über
Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der
Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG (ABl.
L 409 vom 4.12.2020, S. 1) eingetragen sind, […] § 307 Abs. 1
Satz 1 und 2 Nr. 1 BGB (1)
Bestimmungen in
Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den
Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu
und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene
Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die
Bestimmung nicht klar und verständlich ist. (2) Eine
unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn
eine Bestimmung 1. mit wesentlichen Grundgedanken der
gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu
vereinbaren ist […].
75 Jahre nordrhein-westfälische
Verwaltungsgerichtsbarkeit – Festakt im
Oberverwaltungsgericht in Münster
Münster,
Freitag, 6. September 2024 - Im Juli 1949, und damit vor 75
Jahren, fand der Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit des
Landes Nordrhein-Westfalen mit der Gründung des
Oberverwaltungsgerichts in Münster seinen Abschluss. In einem
Festakt mit rund 200 Gästen aus vielfältigen Bereichen
staatlichen Lebens und den Verwaltungsgerichten wurde dieses
Jubiläum am 05.09.2024 in der voll besetzten Halle des
Oberverwaltungsgerichts gefeiert.
Sebastian
Beimesche, Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen, blickte in seiner
Begrüßungsansprache auf die Anfangsjahre zurück: „Als 1949
eine kleine Schar von Richtern und eine Richterin die Arbeit
in der Verwaltungsgerichtsbarkeit aufnahm“, sei nicht
absehbar gewesen, „dass wir 75 Jahre später eine stabile und
institutionell gefestigte Verfassungs- und Verwaltungskultur
haben, in der die Bürgerinnen und Bürger nicht als bloße
Objekte obrigkeitlicher Autorität, sondern als Subjekte im
Mittelpunkt staatlichen Handelns stehen“.
Eine
funktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit sei unverzichtbar:
Sie leiste einen „essentiellen Beitrag zur Verwirklichung der
Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes und zur Durchsetzung
unserer Rechtsordnung - und zwar sowohl im Interesse des
Einzelnen als auch der Allgemeinheit“. Alle in der Justiz
Tätigen wüssten, „dass das Vertrauen in die Gerichte der
Stabilität des Gemeinwesens dient. Das galt vor 75 Jahren und
das gilt - vielleicht sogar wieder in besonderem Maße -
heute.“
Dr. Benjamin Limbach, Minister der Justiz
des Landes Nordrhein-Westfalen, verwies in seinem Grußwort
darauf, dass seine eigene berufliche Laufbahn am
Verwaltungsgericht Köln begonnen habe. Er dankte
Vizepräsident Beimesche dafür, dass dieser das
Oberverwaltungsgericht während der bislang dreijährigen
Vakanz der Präsidentenstelle „exzellent nach innen und außen
vertreten“ habe. Es bestehe die berechtigte Erwartung, dass
diese Position „bald wieder besetzt wird“.
Limbach strich heraus, es mache die Stärke unseres
grundgesetzlichen Systems aus, dass jede Maßnahme der
Exekutive gerichtlich überprüfbar sei. Bei den Bürgerinnen
und Bürgern genieße die Verwaltungsgerichtsbarkeit ein hohes
Ansehen. Sie stehe aber auch vor großen Herausforderungen, so
etwa bei der Bewältigung der Vielzahl von Asylverfahren.
Markus Lewe erklärte in seinem Grußwort, er sei als
Oberbürgermeister der Stadt Münster „nicht ganz unstolz“
darauf, dass die nordrhein-westfälische
Verwaltungsgerichtsgerichtsbarkeit mit dem
Oberverwaltungsgericht und dem örtlichen Verwaltungsgericht
in seiner Stadt vertreten sei.
Spektakuläre
Entscheidungen hätten Münster in den Fokus gestellt, wie
zuletzt vor allem die Urteile des OVG in Sachen AfD, auf die
„ganz Deutschland“ geschaut habe. Lewe betonte die Bedeutung
des Vertrauens in staatliche Institutionen. Das Gemeinwesen
insgesamt müsse sich daher überlegen, welche Prioritäten es
bei den vielfältigen Zielkonflikten setzen wolle, um die
Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen nicht zu
überfordern. Was von den Verwaltungsgerichten geleistet
werde, sei großartig. Um die aktuellen und künftigen
Herausforderungen bewältigen zu können, müsse die
Gerichtsbarkeit allerdings gestärkt werden.
Rechtsanwalt Dr. Michael Oerder, Vorsitzender der
Arbeitsgemeinschaft für Verwaltungsrecht NRW im Deutschen
Anwaltverein, verwies darauf, dass er sehr gerne Anwalt im
Verwaltungsrecht sei. Das liege „auch und gerade an den
Verwaltungsgerichten“, deren Arbeitsweise und dem Umgang
zwischen Richter- und Anwaltschaft. Ein „echter
Wermutstropfen“ seien jedoch die Verfahrenslaufzeiten.
Gleichwohl arbeite die nordrhein-westfälische
Verwaltungsgerichtsbarkeit erkennbar an einer
Effizienzsteigerung. Erforderlich sei eine „ausreichende
Ausstattung der Gerichte, insbesondere mit qualifiziertem
Personal“.
Dr. Holger Wöckel, Richter des
Bundesverfassungsgerichts (und früherer Richter am OVG in
Münster, widmete seinen Festvortrag der These, dass gerade
die Verwaltungsgerichte nach 1949 den freiheitlichen
Rechtsstaat des Grundgesetzes geprägt und damit der
Verfassung Gestalt gegeben hätten.
|
August 2024 |
Verfassungsbeschwerden
gegen mehrere Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes erfolglos
Karlsruhe, 27. August 2024 - Mit den heute
bekanntgegebenen Beschlüssen hat die 2. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts zwölf
Verfassungsbeschwerden, die sich gegen Bestimmungen des
Bundeswahlgesetzes (BWahlG) richten, nicht zur Entscheidung
angenommen.
Die Beschwerdeführenden sind Wählerinnen
und Wähler sowie Personen, die eine Kandidatur als
(unabhängige oder von einer Partei aufgestellte)
Wahlkreisbewerber beabsichtigen. Sie wenden sich überwiegend
gegen das Zweitstimmendeckungsverfahrenin § 1 Abs. 3, § 6
Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 BWahlG, teilweise auch und
teilweise allein gegen die 5 %-Sperrklausel in § 4 Abs. 2
Satz 2 Nr. 2 BWahlG und teilweise gegen weitere Bestimmungen
des BWahlG.
Mit Urteil vom 30. Juli 2024
entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts,
dass das Zweitstimmendeckungsverfahren mit dem Grundgesetz
vereinbar ist und die 5 %-Sperrklausel derzeit gegen das
Grundgesetz verstößt, jedoch mit bestimmten Maßgaben
fortgilt.
|
Juli 2024 |
Vorzeitiges Bekanntwerden der
schriftlichen Urteilsgründe in Sachen „Bundeswahlgesetz 2023“
Karlsruhe, 30. Juli 2024 - Am heutigen Tag hat
der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts sein Urteil in
Sachen „Bundeswahlgesetz 2023“ (Aktenzeichen 2 BvF 1/23 u.a.)
verkündet (vgl.
Pressemitteilung Nr. 64/2024 vom 30. Juli 2024). Das
Bundesverfassungsgericht bedauert, dass offenbar bereits am
gestrigen Tag eine Version der schriftlichen Urteilsgründe
vorübergehend über das Internet öffentlich zugänglich war.
Es gibt derzeit Anhaltspunkte dafür, dass dies eine
technische Ursache hatte. Der Direktor beim
Bundesverfassungsgericht ist damit beauftragt, die genauen
Umstände aufzuklären und geeignete Maßnahmen zu ergreifen,
die einen solchen Fall in Zukunft verhindern.
Das Bundeswahlgesetz 2023 ist
überwiegend verfassungsgemäß – allein die 5 %-Sperrklausel
ist derzeit verfassungswidrig, gilt aber mit bestimmten
Maßgaben fort Karlsruhe, 30. Juli 2024 - Mit heute
verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass das
Zweitstimmendeckungsverfahren in § 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1,
Abs. 4 Sätze 1, 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG) mit dem
Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Die 5 %-Sperrklausel in § 4
Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verstößt aber derzeit gegen
Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG.
Bis
zu einer Neuregelung gilt sie mit der Maßgabe fort, dass bei
der Sitzverteilung Parteien mit weniger als 5 % der
Zweitstimmen nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre
Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten
Erststimmen auf sich vereinigt haben. Die Bayerische
Staatsregierung, 195 Mitglieder der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die CSU richten ihre Anträge
insbesondere gegen das neu geregelte Verfahren der
Zweitstimmendeckung.
Danach erhalten
Wahlkreisbewerber mit den meisten Erststimmen nur dann ein
Bundestagsmandat, wenn es von dem aus dem
Zweitstimmenergebnis ermittelten Sitzkontingent ihrer Partei
gedeckt ist. Außerdem greifen die Antragstellenden sowie DIE
LINKE, DIE LINKE-Bundestagsfraktion und weitere
Einzelpersonen die 5 %-Sperrklausel an. Wegen ihr ziehen nur
Bewerber solcher Parteien in den Bundestag ein, die
mindestens 5 % der bundesweiten Zweitstimmen erhalten haben.
Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätten
dafür, wie auch bisher, alternativ drei Wahlkreissiege
genügt. Das Zweitstimmendeckungsverfahren ist mit dem
Grundgesetz vereinbar. Der Entschluss des Gesetzgebers, das
Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an besondere
Voraussetzungen gebunden. Die 5 %-Sperrklausel ist unter den
geltenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen
nicht in vollem Umfang erforderlich, um die Arbeits- und
Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Die
Entscheidung zur Zweitstimmendeckung ist einstimmig und zur
Sperrklausel mit 7:1 Stimmen ergangen.
Sachverhalt Am 17. März 2023 beschloss
der Bundestag mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen
Änderungen des BWahlG. Danach sieht das BWahlG für die
Bundestagswahl Folgendes vor:
Jeder Wähler hat zwei Stimmen: die Erststimme für die Wahl
eines Wahlkreiskandidaten und die Zweitstimme für die Wahl
der Landesliste einer Partei. Zunächst werden die
630 Bundestagssitze (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) auf die
Parteien und ihre Landeslisten verteilt: Jede Partei erhält
die ihr nach dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis zustehende
Sitzzahl (§ 4 Abs. 2 BWahlG). Diese Sitze werden dann auf die
Landeslisten der jeweiligen Partei anhand ihrer jeweiligen
Anteile an dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis verteilt
(§ 4 Abs. 3 BWahlG). Sodann wird die Besetzungsreihenfolge
für diese Sitzkontingente bestimmt: Die erfolgreichen
Wahlkreisbewerber – also diejenigen mit den meisten
Erststimmen ihres Wahlkreises – rücken in der Rangfolge ihrer
Stimmanteile an die Spitze der Landesliste ihrer Partei und
werden bei der Vergabe der Sitze zuerst berücksichtigt.
Übersteigt die Zahl der einer Landesliste nach dem
Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitze die Zahl ihrer
erfolgreichen Wahlkreisbewerber, werden die übrigen Sitze an
Listenbewerber vergeben. Übersteigt die Zahl der
erfolgreichen Wahlkreisbewerber einer Landesliste die Zahl
ihrer nach Zweitstimmen gedeckten Sitze, so erhalten die
Wahlkreisbewerber mit den geringsten Erststimmenanteilen
keinen Sitz zugeteilt (Zweitstimmendeckungsverfahren, § 6
Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 BWahlG).
Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG werden Parteien, die
bundesweit weniger als 5 % der Zweitstimmen erhalten haben,
nicht bei der Verteilung der Sitze berücksichtigt
(5 %-Sperrklausel). Ihre Kandidaten ziehen daher nicht in den
Bundestag ein.
Gegen das Zweitstimmendeckungsverfahren und die
5 %-Sperrklausel als nunmehr alleinige Zugangshürde zum
Sitzverteilungsverfahren haben die Bayerische Staatsregierung
und 195 Mitglieder CDU/CSU-Bundestagsfraktion Normenkontrolle
beantragt. Die CSU hat als Partei Organklage gegen den
Bundestag wegen des Erlasses des Gesetzes zur Änderung des
BWahlG erhoben und greift ebenfalls diese Regelungen an; die
CDU ist dieser Organklage beigetreten.
Zwei
weitere Organklagen der Partei DIE LINKE und der damaligen
Bundestagsfraktion DIE LINKE gegen den Bundestag sowie eine
Verfassungsbeschwerde von 212 ihrer „Wähler/Sympathisanten“
wenden sich inhaltlich gegen die nicht mehr mit einer
„Grundmandatsklausel“ versehene Sperrklausel. Gegen die
Sperrklausel als solche haben auch 4.242 Personen
Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
A. Die Normenkontrollverfahren sind zulässig. Die Organklagen
und Verfassungsbeschwerden sind nur teilweise zulässig.
Unzulässig ist insbesondere der Organklageantrag der
damaligen Fraktion DIE LINKE. Dabei kann offenbleiben, welche
Folgen die Auflösung der Fraktion zum 6. Dezember 2023 für
die zuvor eingereichte Organklage hat. Denn es fehlt an der
Antragsbefugnis. Eine Fraktion hat weder ein Recht, auch nach
der nächsten Wahl im Bundestag vertreten zu sein, noch kann
sie sich als Fraktion auf das in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG
wurzelnde Abgeordnetenrecht auf Beratung und Beschlussfassung
im Bundestag berufen.
B. Die Regelungen des Verfahrens der Zweitstimmendeckung sind
mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und Art. 21 Abs. 1 GG
vereinbar. Die 5 %-Sperrklausel ist mit diesen Maßstäben
unvereinbar.
I. In formeller Hinsicht sind die angegriffenen Normen
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere weist
das Gesetzgebungsverfahren keine Umstände auf, die dafür
sprechen, dass der Deutsche Bundestag seinen
Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der Verfahrensabläufe
im Parlament überschritten haben könnte. Zwar ist die
Wahlrechtsreform nicht im Konsens beschlossen worden, sondern
lediglich mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen. Diese
Möglichkeit ist dem Gesetzgeber durch Art. 38 Abs. 3 in
Verbindung mit Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch ausdrücklich
eröffnet.
Auch der Umstand, dass die im Gesetzentwurf vorgesehene
„angepasste Grundmandatsklausel“ (erst) im Zuge der
abschließenden Ausschussberatungen gestrichen wurde, stellt
keine Missachtung der Abgeordnetenrechte oder des
Öffentlichkeitsgrundsatzes dar. Die parlamentarische Beratung
dient gerade der Möglichkeit, einen Gesetzentwurf zu
verändern.
Im vorliegend zu beurteilenden
Gesetzgebungsverfahren standen den Abgeordneten ohnehin
genügend Informationen über die Bedeutung der „angepassten
Grundmandatsklausel“ bzw. Wahlkreisklausel und ihres Fehlens
zur Verfügung.
II. Die Normenkontrollanträge haben teilweise Erfolg.
1. Für das Wahlrecht weist Art. 38 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber
die Aufgabe der näheren Ausgestaltung zu. Ihre Grenzen findet
die gesetzgeberische Gestaltungsbefugnis in den
Wahlgrundsätzen nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach werden
die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner,
unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.
Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet dabei, dass
alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht
möglichst in formal gleicher Weise ausüben können.
Zudem muss der Wahlgesetzgeber die Chancengleichheit der
Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) wahren. Danach müssen jeder
Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten
Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung
der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der Parteien auf
Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der
Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen.
Die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit
der Parteien unterliegen keinem absoluten
Differenzierungsverbot. Dem Gesetzgeber verbleibt bei der
Ordnung des Wahlrechts ein eng bemessener Spielraum für
Differenzierungen.
2. Nach diesen Maßstäben ist das
Zweitstimmendeckungsverfahren mit dem Grundgesetz vereinbar.
a) Der Gesetzgeber kann Neuerungen einführen, die dem
bisherigen Wahlrecht fremd waren und Wählerinnen und Wählern
ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen.
Sein Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an
besondere Voraussetzungen gebunden.
aa) Das Zweitstimmendeckungsverfahren stellt keine Abkehr von
den Grundzügen des bisherigen Wahlrechts dar. Der Gesetzgeber
hat sich im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums für
die Beibehaltung der Wahlkreiswahl sowie der Verhältniswahl
nach Landeslisten entschieden.
Den damit zwingend verbundenen Ausgleich zwischen den
Ergebnissen der Wahlkreiswahl und der Verhältniswahl hat er
hingegen — ebenfalls im Rahmen seines weiten
Gestaltungsspielraums — neu gestaltet. Nach altem Recht
wurden Bundestagsmandate sowohl nach dem Ergebnis der
Wahlkreiswahl als auch nach dem Ergebnis der Listenwahl
zugeteilt: Zunächst erhielten erfolgreiche Wahlkreisbewerber
ein Mandat (Direktmandat). Der Ausgleich erfolgte
anschließend, indem beim Sitzzuteilungsverfahren an die
Parteien die Wahlkreismandate auf die Sitze der Landeslisten
angerechnet wurden.
Nach dem Zweitstimmendeckungsverfahren werden vor dem
Ausgleich keine Mandate vergeben. Zunächst erfolgt die
Verteilung der 630 Sitze auf die Parteien und ihre
Landeslisten. Sodann wird die Besetzungsreihenfolge für jedes
dieser Sitzkontingente bestimmt. Hier rücken erfolgreiche
Wahlkreisbewerber in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die
Spitze der Landesliste. Erst im letzten Schritt erhalten alle
Bewerberinnen und Bewerber in dieser Reihenfolge ihre
Mandate.
Die Kritik, dass sich der Gesetzgeber nicht entweder für ein
reines Mehrheits- oder für ein reines Verhältniswahlrecht
entschieden habe, übersieht, dass er nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die
Verhältniswahl mit Elementen der Personenwahl verbinden darf.
Aus der Beibehaltung einer Kombination von Verhältniswahl und
Wahlkreiswahl folgt jedoch nicht, dass auch das bisherige
Ausgleichsverfahren beibehalten werden müsste und nicht neu
konzipiert werden könnte. Der Gesetzgeber darf sich für eine
andere Kombination entscheiden. Soweit geltend gemacht wird,
das Zweitstimmendeckungsverfahren verstoße gegen ein Gebot
der Regionalisierung oder der Wahlkreisrepräsentation, finden
solche Gebote im Grundgesetz und im bisherigen Wahlrecht
keine Stütze.
bb) Die weiter geübte Kritik, die Neuregelung enthalte
Widersprüche und dem Zweitstimmendeckungsverfahren fehle es
an Folgerichtigkeit, läuft schon deshalb ins Leere, weil sie
auf dem gedanklichen Festhalten an Grundsätzen beruht, die
den bisherigen Regelungen des Ausgleichs entnommen werden.
Wenn aus einigen Wahlkreisen nicht der Wahlkreisbewerber mit
den meisten Stimmen in den Bundestag einzieht, sondern der
Wahlkreis durch andere (Listen-)Abgeordnete im Bundestag
vertreten wird, kann darin ein Widerspruch nur erkannt
werden, wenn für die Wählerinnen und Wähler in einem
Wahlkreis die Wahlkreiswahl als die allein maßgebliche Wahl
für die Zuteilung eines Mandats angesehen würde.
Nach
dem Zweitstimmendeckungsverfahren ist jedoch die
Wahlkreiswahl gerade nicht allein entscheidend für den Erhalt
eines Mandats. Es sorgt vielmehr dafür, dass jeder
Abgeordnete des Bundestages durch die Zweitstimmen für seine
Partei legitimiert ist.
b) Das Zweitstimmendeckungsverfahren verletzt die
Wahlgleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht.
aa) Zwar werden Wahlstimmen für einen unabhängigen Bewerber
im Fall seines Erfolges anders behandelt als Wahlstimmen für
Wahlkreisbewerber einer Partei. Insbesondere erhält der
unabhängige Bewerber ein Bundestagsmandat gemäß § 6
Abs. 2 BWahlG unabhängig vom Sitzvergabeverfahren nach dem
Zweitstimmenergebnis.
Diese Ungleichbehandlung ist jedoch gerechtfertigt. Das
Zweistimmenwahlrecht des BWahlG sieht einen Ausgleich
zwischen dem Erst- und dem Zweitstimmenergebnis vor. Ist ein
solcher Ausgleich ausgeschlossen, weil zwischen
Wahlkreisbewerber und Landesliste kein Ausgleichszusammenhang
hergestellt werden kann, ist eine besondere Berücksichtigung
dieser Konstellation zwingend.
Die Möglichkeit,
unabhängige Wahlkreisbewerber vorzuschlagen, sichert das
Wahlvorschlagsrecht aller Wahlberechtigten unabhängig von
politischen Parteien als Kernstück des Bürgerrechts auf
aktive Teilnahme an der Wahl.
bb) Darüber hinaus führt das Zweitstimmendeckungsverfahren
nicht zur Ungleichbehandlung von Wahlstimmen. Alle
Wahlstimmen haben den gleichen Zählwert. Soweit Wählerinnen
und Wähler mit ihrer Erststimme einen Wahlkreisbewerber einer
Partei wählen, wird diese Stimme bei der Auszählung als eine
Stimme für diesen Wahlkreisbewerber ausgewiesen.
Auch die Erfolgschancen der Erststimmen sind gleich. Jede
Erststimme führt dann zu einem Mandat für den
Wahlkreisbewerber, wenn zum einen der Bewerber die meisten
Erststimmen im Wahlkreis und zum anderen die Landesliste
seiner Partei so viele Zweitstimmen erhält, dass ihr
Sitzkontingent für alle ihre erfolgreichen Wahlkreisbewerber
mit dem gleichen oder besseren Erststimmenanteil ausreicht.
Beide Bedingungen sind ausschließlich vom Wahlergebnis
abhängig.
Auch die Stimmen für einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber,
der ein Mandat im Zweitstimmendeckungsverfahren erhält, und
die Stimmen für einen erfolgreichen Bewerber in einem anderen
Wahlkreis, der kein Mandat erhält, werden nicht ungleich
behandelt. Die Nichtzuteilung des Mandats an den
erfolgreichen Bewerber ohne Zweitstimmendeckung ist das
Ergebnis des vom Gesetzgeber gewählten Zuteilungsmechanismus,
der von zwei Voraussetzungen abhängig ist (Erlangung der
meisten Erststimmen im Wahlkreis und Zweitstimmendeckung
durch die Landesliste). Der Erfolgswert der Wahlstimmen
bestimmt sich entsprechend nach diesen beiden
Voraussetzungen.
c) Das Gebot der Unmittelbarkeit der Wahl gemäß Art. 38
Abs. 1 Satz 1 GG wird durch das Zweitstimmendeckungsverfahren
ebenfalls nicht verletzt. Dieses ändert nichts daran, dass
die Erststimme jeder Wählerin und jedes Wählers einem
bestimmten Wahlkreisbewerber zugerechnet werden kann. Bei der
Stimmabgabe ungewiss ist allein der Stimmerfolg. Er richtet
sich ausschließlich nach dem – einheitlichen – Wahlvorgang
und dem daran anschließenden gesetzlich vorgesehenen
Sitzzuteilungsverfahren. Die Entscheidung, in welcher
Reihenfolge erfolgreiche Wahlkreisbewerber ein Mandat oder
bei fehlender Zweitstimmendeckung kein Mandat erhalten, ist
damit allein durch das Wahlergebnis und das Wahlgesetz
festgelegt.
d) Das Zweitstimmendeckungsverfahren verstößt nicht gegen die
Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Die
Einschätzung, es belaste die Oppositionsparteien in
besonderer Weise, teilt der Senat nicht. Das
Zweitstimmendeckungsverfahren dient der Zusammensetzung des
Bundestages nach Parteienproporz ebenso wie das bislang
geltende System der Ausgleichsmandate. Anders als der Begriff
der „Kappung“ suggeriert, wird Parteien durch das
Zweitstimmendeckungsverfahren kein ihnen bereits zugeteiltes
Sitzkontingent gekürzt. Die damit erreichte Einhaltung der
gesetzlichen Größe des Bundestages führt lediglich dazu, dass
im kommenden Deutschen Bundestag von jeder Partei – bei
unterstellt gleichbleibenden Wahlergebnissen – weniger
Abgeordnete vertreten sein werden, als dies nach dem
bisherigen Wahlrecht der Fall gewesen wäre.
3. Die Sperrklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist in
ihrer geltenden Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
a) Durch sie werden Parteien, die nach ihrem
Zweitstimmenergebnis rechnerisch Bundestagssitze erhalten
könnten, bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt, wenn
sie im Bundesgebiet weniger als 5 % der gültigen Zweitstimmen
erreicht haben. Dies ist eine Ungleichbehandlung gegenüber
Wahlstimmen für Parteien mit einem höheren
Zweitstimmenergebnis.
b) Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht kann die
Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments
einen legitimen Rechtfertigungsgrund darstellen. Maßgeblich
für die Beurteilung einer Sperrklausel bei der Wahl zum
Deutschen Bundestag sind die ihm in der Verfassungsordnung
des Grundgesetzes zugewiesenen zentralen Funktionen.
c) Die Sperrklausel ist geeignet, die Funktionsfähigkeit des
Bundestages zu sichern. Mit einer Sperrklausel verhindert das
Wahlrecht eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine
Gruppen und sichert damit die Funktions- und
Arbeitsbedingungen des Bundestages. Sie schafft die
Voraussetzungen dafür, dass Zusammenschlüsse von Abgeordneten
mit gleichgerichteten politischen Zielen im Bundestag
(Fraktionen) grundsätzlich eine bestimmte Mindestgröße haben.
Die Höhe der Sperrklausel von 5 % der bundesweiten gültigen
Zweitstimmen ist für diesen Zweck sachgerecht. Die in
ständiger Rechtsprechung bestätigte Beurteilung hat auch
angesichts der zwischenzeitlich eingetretenen rechtlichen und
tatsächlichen Änderungen Bestand.
d) Unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen
Rahmenbedingungen ist die Ausgestaltung der Sperrklausel in
§ 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG jedoch nicht in vollem Umfang
erforderlich. Zur Sicherstellung der Arbeits- und
Funktionsfähigkeit des Bundestages ist es nicht notwendig,
eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu
lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den
Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide
Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden.
aa) Tatsächlich besteht die Möglichkeit, dass die CSU bei der
nächsten Bundestagswahl mangels Überschreitens der
bundesweiten 5 %-Sperrklausel bei der Sitzverteilung nicht
berücksichtigt wird. Im Fall ihrer Berücksichtigung würden
ihre Abgeordneten jedoch hinreichend sicher eine gemeinsame
Fraktion mit den Abgeordneten der CDU bilden. Grundlage
hierfür ist eine auf Dauer angelegte Kooperation der beiden
Parteien.
bb) Die Kooperation der CSU mit der CDU zeichnet sich
letztlich durch drei Elemente aus: erstens die
Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine
Fraktion zu bilden, zweitens den
Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame
Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den
Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur
in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden.
CDU und CSU machen seit dem Bestehen der Bundesrepublik
Deutschland im Wahlkampf deutlich, dass sie gleichgerichtete
Ziele verfolgen und eine gemeinsame Fraktion bilden wollen.
Insbesondere wirbt die CSU regelmäßig für den
Spitzenkandidaten oder die Spitzenkandidatin der CDU. Seit
1976 stellen beide Parteien ausdrücklich ein gemeinsames
Wahlprogramm für Bundestagswahlen auf. Seit 1949 bilden ihre
Abgeordneten auch eine gemeinsame Fraktion im Bundestag.
Während die CSU nur in Bayern zur Wahl antritt, verzichtet
die CDU dort auf eine Vertretung.
cc) Das Ziel der Sperrklausel wird in gleicher Weise
erreicht, wenn die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die
in dieser Form kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden.
Darin liegende Ungleichbehandlungen sind gerechtfertigt.
Eine solche Kooperation verändert die Rahmenbedingungen der
parlamentarischen Arbeit, auf deren Sicherung die
Sperrklausel abzielt, nicht. Ihr Ziel ist eine
Fraktionsgemeinschaft. Damit geht sie über ein reines
Wahlbündnis hinaus, das lediglich erreichen will, dass beide
Parteien im Parlament vertreten sind. Auch bezieht sie sich
im Unterschied zu einer Koalitionsaussage nicht lediglich auf
eine Zusammenarbeit im Fall der Regierungsübernahme, sondern
gilt auch für den Fall der Opposition. Die Kooperation
betrifft also unmittelbar die Tätigkeit im Bundestag selbst
und umfasst sämtliche Parlamentsfunktionen. Durch die Bildung
einer gemeinsamen Fraktion ordnen sich die Abgeordneten der
beteiligten Parteien den parlamentarischen
Organisationsstrukturen unter, indem sie nicht einzeln,
sondern nur gemeinsam die Rechte und Pflichten einer Fraktion
wahrnehmen. Dies bezweckt, gemeinsam eine politische Strömung
im Parlament zu repräsentieren.
Werden Parteien, die in dieser Form kooperieren, bei der
Anwendung der Sperrklausel gemeinsam berücksichtigt, stellt
dies eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Parteien dar.
Sie erhalten – anders als andere Parteien – auch dann
Bundestagsmandate, wenn jede Partei für sich die
Voraussetzung des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG nicht
erfüllt.
Es kann offen bleiben, inwieweit die gemeinsame
Berücksichtigung von Parteien bei der Überwindung der
Sperrklausel gerechtfertigt ist, wenn lediglich einzelne der
drei Voraussetzungen vorliegen. Jedenfalls gemeinsam
rechtfertigen sie unter den gegenwärtigen rechtlichen und
tatsächlichen Bedingungen die Bevorzugung einer Kooperation,
wie sie CSU und CDU praktizieren.
e) Der Gesetzgeber ist zwar verpflichtet, die Sperrklausel so
auszugestalten, dass sie unter den derzeitigen rechtlichen
und tatsächlichen Bedingungen nicht über das zur Sicherung
der Funktionsfähigkeit des Bundestages Erforderliche
hinausgeht. Er ist aber nicht auf die Einführung einer
Möglichkeit der gemeinsamen Berücksichtigung zweier, in der
dargestellten Form kooperierender Parteien beschränkt.
Vielmehr kann er die Sperrklausel auch in anderer Weise
modifizieren.
C. Die Verfassungsbeschwerden sind – soweit sie zulässig sind
– begründet. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verletzt das
Recht der Beschwerdeführenden aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG.
D. I. Der Organklageantrag der CSU ist begründet. Der
Beschluss des Bundestages am 17. März 2023, mit dem er das
Gesetz zur Änderung des BWahlG angenommen hat, verletzt sie
in ihrem Recht auf Chancengleichheit. Die Bedingungen, unter
denen die Sperrklausel über das zur Sicherung der
Funktionsfähigkeit des Parlaments Erforderliche hinausgeht,
treffen auf sie zu.
II. Der Organklageantrag der Partei DIE LINKE ist
unbegründet. Sie wird durch den festgestellten
Verfassungsverstoß nicht in ihren eigenen Rechten verletzt.
Ihre Abgeordneten bilden keine gemeinsame Fraktion mit denen
einer anderen Partei. Es ist auch nicht erkennbar, dass sie
eine solche beabsichtigt.
E. Die Maßgabe zur Fortgeltung der Sperrklausel unter
Rückgriff auf die Wahlkreisklausel des Gesetzentwurfs ist den
Parteien sowie den Wählerinnen und Wählern bekannt und stärkt
überdies das Vertrauen darauf, dass die Wahlrechtsreform
keine Partei benachteiligt.
Kein Anspruch auf
Ausnahmegenehmigung für Gesichtsschleier (Niqab) am Steuer
Oberverwaltungsgericht Münster, 5. Juli 2024 -
Eine muslimische Glaubensangehörige aus Neuss, die aus
religiösen Gründen auch beim Führen eines Kraftfahrzeugs ihr
Gesicht mit Ausnahme eines Sehschlitzes für die Augenpartie
mit einem Gesichtsschleier in Form eines Niqab bedecken
möchte, hat keinen Anspruch auf Befreiung vom
Verhüllungsverbot am Steuer.
Die Bezirksregierung
Düsseldorf muss aber über ihren Antrag auf Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung erneut entscheiden. Das hat das
Oberverwaltungsgericht heute entschieden und der Berufung der
Klägerin gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf
vom 01.12.2021 teilweise stattgegeben.
Zur
Urteilsbegründung hat die Vorsitzende des 8. Senats
ausgeführt: Die im Jahr 2017 in Kraft getretene Regelung der
Straßenverkehrsordnung, nach der derjenige, der ein
Kraftfahrzeug führt, sein Gesicht nicht so verhüllen oder
verdecken darf, dass er nicht mehr erkennbar ist, ist
verfassungsgemäß. Das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot
verfolgt den Zweck, die Erkennbarkeit und damit die
Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei
automatisierten Verkehrskontrollen zu sichern, um diese bei
Verkehrsverstößen heranziehen zu können. Außerdem schützt es
die Rundumsicht des Kraftfahrzeugführers.
Mit
dieser Zielrichtung dient es dem Schutz hochrangiger
Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer
Verkehrsteilnehmer. Ein allgemeiner Vorrang der
Religionsfreiheit vor diesen Rechtsgütern besteht nicht.
Individuellen Belangen kann mit der Erteilung einer
Ausnahmegenehmigung Rechnung getragen werden. Auf eine solche
Ausnahmegenehmigung hat die Klägerin keinen unmittelbaren
Anspruch. Die Entscheidung steht im Ermessen der Behörde.
Allerdings hat die Bezirksregierung Düsseldorf das
ihr eingeräumte Ermessen bei der Ablehnung des Antrags auf
Erteilung einer Ausnahmegenehmigung bislang nicht fehlerfrei
ausgeübt. Deshalb muss sie über den Antrag nochmals
entscheiden. Bei ihrer Ablehnungsentscheidung hat die Behörde
die Religionsfreiheit nicht hinreichend mit den Verbot
sprechenden Belangen abgewogen.
Zu Unrecht hat
sie etwa darauf abgestellt, dass das Verhüllungs- und
Verdeckungsverbot auch die nonverbale Kommunikation im
Straßenverkehr sichert. Diese ist, soweit sie im
Straßenverkehr überhaupt erforderlich ist, durch den Niqab
nicht beeinträchtigt. Die Annahme der Behörde, dass ein Niqab
die Rundumsicht beeinträchtigt, trifft in dieser
Allgemeinheit nicht zu, wovon sich der Senat in der
mündlichen Verhandlung, an der die Klägerin persönlich
teilgenommen hat, überzeugen konnte.
Zudem hat
die Behörde alternative Möglichkeiten, um die Ziele des
Verbots jedenfalls annähernd zu erreichen, wie etwa die
Sicherstellung der Identifizierbarkeit der Klägerin durch ein
Fahrtenbuch, bislang nicht hinreichend erwogen. Der Senat hat
die Revision nicht zugelassen. Dagegen kann Beschwerde zum
Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden. Aktenzeichen: 8 A
3194/21 (I. Instanz: VG Düsseldorf 6 K 6386/20)
Bundesamt für Verfassungsschutz
darf AfD und JA als Verdachtsfall beobachten - Bekanntgabe
der Urteilsgründe Münster, 2. Juli 2024 -
Mit drei Urteilen vom 13.05.2024 hatte das
Oberverwaltungsgericht nach sieben Verhandlungstagen die
Berufungen der Partei „Alternative für Deutschland (AfD)“ und
ihrer Jugendorganisation „Junge Alternative für Deutschland
(JA)“ gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts Köln vom
08.03.2022 zurückgewiesen. Das Bundesamt für
Verfassungsschutz darf die Klägerinnen damit als
Verdachtsfall beobachten und die Öffentlichkeit hierüber
unterrichten.
Auch die Beobachtung des
sogenannten „Flügel“ in der Vergangenheit - zunächst als
Verdachtsfall, später als „erwiesen extremistische
Bestrebung“ - und deren Bekanntgabe war rechtmäßig. Der
Vorsitzende des 5. Senats hatte die Urteile zunächst mündlich
begründet (vgl. Pressemitteilung vom 13.05.2024). Nunmehr
sind in allen drei Berufungsverfahren den Beteiligten die
schriftlichen Urteilsgründe übermittelt worden. Sie können im
Volltext auf der Internetseite des Oberverwaltungsgerichts
abgerufen werden und werden in Kürze u. a. in der kostenfrei
zugänglichen Rechtsprechungsdatenbank NRWE (www.nrwe.de)
veröffentlicht.
Der Senat hat in allen drei
Verfahren die Revision nicht zugelassen; hiergegen kann
innerhalb eines Monats nach Zustellung der vollständigen
Urteile Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht eingelegt
werden, die innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung zu
begründen ist.
Aktenzeichen: 5 A 1216/22 (I.
Instanz: VG Köln 13 K 207/20), 5 A 1217/22 (I. Instanz: VG
Köln 13 K 208/20), 5 A 1218/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K
326/21)
Weitere Hinweise Anhängig ist bei dem
Oberverwaltungsgericht noch die Beschwerde der AfD und der JA
(5 B 131/24) gegen den Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts
Köln vom 05.02.2024. Gegenstand dieses Verfahrens ist der
beantragte Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend
die „Hochstufung“ der JA zur „erwiesen extremistischen
Bestrebung“ und deren Bekanntgabe durch das Bundesamt für
Verfassungsschutz. Wann in diesem Verfahren eine Entscheidung
ergeht, ist aktuell noch nicht abzusehen.
|
Juni 2024 |
Zu den Voraussetzungen eines
Anspruchs von Anwohnern gegen die Straßenverkehrsbehörde auf
Einschreiten gegen verbotswidrig auf den Gehwegen geparkte
Fahrzeuge
Leipzig, 6.
JUni 2024 - Anwohner können bei einer erheblichen
Beeinträchtigung der bestimmungsgemäßen Gehwegbenutzung einen
räumlich begrenzten Anspruch gegen die Straßenverkehrsbehörde
auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über das
Einschreiten gegen das verbotswidrige Gehwegparken haben. Das
hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute
entschieden. Die Kläger begehren von der Beklagten ein
straßenverkehrsbehördliches Einschreiten gegen Fahrzeuge,
**die aufgesetzt auf den Gehwegen in drei Bremer Straßen
geparkt werden.
Die Kläger sind Eigentümer von
Häusern in den betreffenden Straßen. Die drei Straßen sind
Einbahnstraßen. Die Fahrbahnen sind zwischen 5,00 und 5,50
Metern breit; auf beiden Seiten verlaufen Gehwege mit einer
Breite zwischen 1,75 und 2,00 Metern. Verkehrszeichen mit
Regelungen zum Halten und Parken sind nicht angeordnet. Seit
Jahren wird unter anderem in den drei Straßen auf beiden
Seiten nahezu durchgehend verbotswidrig aufgesetzt auf den
Gehwegen geparkt.
Die gegen die
Straßenverkehrsbehörde der beklagten Freien Hansestadt Bremen
gerichteten Anträge der Kläger, Maßnahmen gegen das Parken
auf den Gehwegen in den Straßen zu ergreifen, lehnte die
Beklagte ab. Verkehrszeichen und -einrichtungen seien nicht -
wie für deren Anordnung geboten - zwingend erforderlich. Das
Gehwegparken sei bereits auf der Grundlage von § 12 Abs. 4
und 4a der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) verboten.
Auf die hiergegen nach erfolglosem Widerspruch erhobenen
Klagen hat das Verwaltungsgericht Bremen die Beklagte unter
Aufhebung der angegriffenen Bescheide verpflichtet, die
Kläger unter Beachtung seiner Rechtsauffassung neu zu
bescheiden; im Übrigen hat es die Klagen abgewiesen.
§ 12 Abs. 4 und 4a StVO habe eine drittschützende Wirkung zu
ihren Gunsten. Wegen der Dauer und Häufigkeit der
Beeinträchtigungen sei das Entschließungsermessen der
Beklagten auf Null reduziert; die Beklagte sei zum
Einschreiten verpflichtet.
Gegen dieses Urteil
haben die Kläger und die Beklagte Berufung eingelegt. Auf die
Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht Bremen
die erstinstanzliche Entscheidung dahin geändert, dass eine
erneute Entscheidung über die Anträge der Kläger unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts zu
erfolgen habe; im Übrigen hat es die Berufungen
zurückgewiesen. Wie das Verwaltungsgericht hat das
Oberverwaltungsgericht eine drittschützende Wirkung von
§ 12 Abs. 4 und 4a StVO zugunsten der Kläger bejaht. Die
Beklagte habe über das Begehren der Kläger nicht
ermessensfehlerfrei entschieden.
Anders als das
Verwaltungsgericht war das Oberverwaltungsgericht aber der
Auffassung, dass das Entschließungsermessen der Beklagten
nicht auf Null reduziert sei. Eine Pflicht, auf die Anträge
der Kläger in den drei Straßen unmittelbar einzuschreiten,
bestehe jedenfalls derzeit nicht. Es sei nicht zu
beanstanden, wenn sie zunächst den Problemdruck in den am
stärksten belasteten Quartieren zu ermitteln und ein Konzept
für ein stadtweites Vorgehen umzusetzen gedenke.
Gegen das Berufungsurteil haben die Kläger und die Beklagte
Revision eingelegt. Auf die Revision der Beklagten hat das
Bundesverwaltungsgericht die angefochtenen Urteile geändert
und die Beklagte verpflichtet, die Kläger unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts neu zu
bescheiden; im Übrigen hat es die Revisionen zurückgewiesen.
Das Berufungsgericht hat ohne Bundesrechtsverstoß angenommen,
dass das § 12 Abs. 4 und 4a StVO zu entnehmende
Gehwegparkverbot eine drittschützende Wirkung zugunsten der
Kläger hat.
Das Verbot des Gehwegparkens
schützt nicht nur die Allgemeinheit, sondern auch Anwohner,
die in der Nutzung des an ihr Grundstück grenzenden Gehwegs
erheblich beeinträchtigt werden. Nach den vom
Oberverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen ist diese
Voraussetzung bei den Klägern erfüllt. Die weitere Annahme
des Berufungsgerichts, das Entschließungsermessen der
Beklagten sei nicht auf Null reduziert, sie sei also noch
nicht zu einem unmittelbaren Einschreiten verpflichtet,
verstößt nicht gegen Bundesrecht.
Da das unerlaubte
Gehwegparken nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in
der gesamten Stadt, insbesondere in den innerstädtischen
Lagen weit verbreitet ist, ist es nicht zu beanstanden, wenn
die Beklagte zunächst die am stärksten belasteten Quartiere
ermittelt, Straßen mit besonders geringer Restgehwegbreite
priorisiert und ein entsprechendes Konzept für ein
stadtweites Vorgehen umsetzt. Auf die Revision der Beklagten
waren die angefochtenen Urteile zu ändern, soweit sie den
Klägern einen Anspruch in Bezug auf die
"streitgegenständlichen Straßen" zuerkannt haben.
Die drittschützende Wirkung des Gehwegparkverbots
aus § 12 Abs. 4 und 4a StVO ist regelmäßig - und so
auch hier - auf den Gehweg beschränkt, der auf der "eigenen"
Straßenseite des Anwohners verläuft; umfasst ist in der Regel
auch nur der Straßenabschnitt bis zur Einmündung "seiner"
Straße in die nächste (Quer-)Straße. In Bezug auf weitere
Abschnitte des Gehwegs sind die Anwohner Teil des allgemeinen
Kreises der Gehwegbenutzer und nicht mehr hinreichend von der
Allgemeinheit unterscheidbar. Unter Beachtung der insoweit
vom Berufungsurteil abweichenden Rechtsauffassung des
Bundesverwaltungsgerichts hat die Beklagte erneut über die
Anträge der Kläger zu entscheiden.
Maßgebliche
Rechtsnormen § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO Fahrzeuge müssen die
Fahrbahnen benutzen, von zwei Fahrbahnen die rechte.
§ 12 Abs. 4 Satz 1 StVO Zum Parken ist der rechte
Seitenstreifen, dazu gehören auch entlang der Fahrbahn
angelegte Parkstreifen, zu benutzen, wenn er dazu ausreichend
befestigt ist, sonst ist an den rechten Fahrbahnrand
heranzufahren. § 12 Abs. 4a StVO Ist das Parken auf dem
Gehweg erlaubt, ist hierzu nur der rechte Gehweg, in
Einbahnstraßen der rechte oder linke Gehweg, zu benutzen.
§ 45 Abs. 1 Satz 1 StVO Die
Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter
Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und
Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den
Verkehr umleiten. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO Verkehrszeichen und
Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf
Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist.
BVerwG
3 C 5.23 - Urteil vom 06. Juni 2024
Vorinstanzen:
OVG Bremen, OVG 1 LC 64/22 - Urteil vom 13. Dezember 2022 -
VG Bremen, VG 5 K 1968/19 - Urteil vom 11. November 2021 -
|
Mai 2024 |
Bundesgerichtshof zu
"Mogelpackungen" Urteil vom 29. Mai 2024 - I ZR 43/23
Karlsruhe, 29. Mai 2024 - Der unter anderem für das
Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des
Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die Verpackung eines
Produkts in der Regel nicht in einem angemessenen Verhältnis
zu der darin enthaltenen Füllmenge steht ("Mogelpackung")
wenn sie nur zu etwa zwei Dritteln gefüllt ist.
Sachverhalt: Die Klägerin ist ein Verbraucherschutzverband.
Die Beklagte vertreibt Kosmetik- und Körperpflegeprodukte.
Die Beklagte bewarb auf ihrer Internetseite ein
Herrenwaschgel in einer aus Kunststoff bestehenden Tube mit
einer Füllmenge von 100 ml. In der Online-Werbung ist die
Tube auf dem Verschlussdeckel stehend abgebildet. Sie ist im
unteren Bereich des Verschlussdeckels transparent und gibt
den Blick auf den orangefarbigen Inhalt frei.
Der
darüber befindliche, sich zum Falz der Tube stark verjüngende
Bereich ist nicht durchsichtig, sondern silbern eingefärbt.
Die Tube ist nur im durchsichtigen Bereich bis zum Beginn des
oberen, nicht durchsichtigen Bereichs mit Waschgel befüllt.
Die Klägerin hält diese Werbung für unlauter, weil sie eine
tatsächlich nicht gegebene nahezu vollständige Befüllung der
Tube mit Waschgel suggeriere, und nimmt die Beklagte auf
Unterlassung in Anspruch.
Bisheriger Prozessverlauf:
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der
Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Das Berufungsgericht war
der Auffassung, dass die Verpackung zwar dann entgegen § 3a
UWG in Verbindung mit § 43 Abs. 2 MessEG ihrer Gestaltung und
Befüllung nach eine größere Füllmenge als vorhanden
vortäusche, wenn der Verbraucher sie im Rahmen des Erwerbs im
Laden in Originalgröße wahrnehme.
Im Falle des hier
vorliegenden Online-Vertriebs fehle es jedoch an der
Spürbarkeit eines Verstoßes gegen § 43 Abs. 2 MessEG, weil
dem Verbraucher die konkrete Größe der Produktverpackung im
Zeitpunkt der Beschäftigung mit dem Angebot und dem Erwerb
des Produkts verborgen bleibe. Auch eine Irreführung nach § 5
Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG unter dem Gesichtspunkt der Täuschung
über den Hohlraum in der Verpackung liege nicht vor. Mit
ihrer vom Bundesgerichtshof zugelassenen Revision verfolgt
die Klägerin ihren Unterlassungsanspruch weiter.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die Revision hat
Erfolg. Der geltend gemachte
Unterlassungsanspruch gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Nr.
3, § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 43 Abs. 2 MessEG
kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht
verneint werden. Insbesondere täuscht die beanstandete
Produktgestaltung entgegen § 43 Abs. 2 MessEG ihrer
Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge vor, als
in ihr enthalten ist.
Entgegen der Auffassung des
Berufungsgerichts liegt auch eine spürbare
Interessenbeeinträchtigung vor. Der für diese Frage
entscheidende Schutzzweck des § 43 Abs. 2 MessEG besteht
darin, den Verkehr vor Fehlannahmen über die relative
Füllmenge einer Fertigpackung ("Mogelpackung") zu schützen.
Dieser Schutzzweck ist unabhängig vom
Vertriebsweg stets betroffen, wenn - wie im Streitfall - eine
Fertigpackung ihrer Gestaltung und Befüllung nach in
relevanter Weise über ihre relative Füllmenge täuscht. Der
Bundesgerichtshof hat in der Sache selbst entschieden und die
Beklagte zur Unterlassung gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3
Nr. 3, § 3 Abs. 1 und 2, § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG
verurteilt.
Der Senat konnte dahinstehen lassen,
ob die übrigen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 MessEG erfüllt
sind, insbesondere, ob die Werbung für ein Produkt oder das
bloße Angebot unter den Begriff der Bereitstellung auf dem
Markt im Sinne des § 2 Nr. 1 MessEG fällt.
Denn
soweit - wie hier - Handlungen von Unternehmen gegenüber
Verbrauchern betroffen sind, kommt die Vorschrift des § 43
Abs. 2 MessEG aufgrund der vollharmonisierenden Wirkung von
Art. 3 und 4 der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere
Geschäftspraktiken nicht zur Anwendung, und die Beurteilung
der Irreführung über die relative Füllmenge einer
Fertigpackung hat alleine nach § 5 UWG zu erfolgen. Die
beanstandete Internetwerbung für das Waschgel verstößt gegen
§ 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG.
Eine wettbewerblich
relevante Irreführung über die relative Füllmenge einer
Fertigpackung liegt unabhängig von dem konkret beanstandeten
Werbemedium grundsätzlich vor, wenn die Verpackung eines
Produkts nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der darin
enthaltenen Füllmenge steht. Dies ist hier der Fall, da die
Waschgel-Tube nur zu etwa zwei Dritteln gefüllt ist und weder
die Aufmachung der Verpackung das Vortäuschen einer größeren
Füllmenge zuverlässig verhindert noch die gegebene Füllmenge
auf technischen Erfordernissen beruht.
Vorinstanzen: LG Düsseldorf - Urteil vom 30. November 2021 -
37 O 42/20 OLG Düsseldorf - Urteil vom 23. März 2023 - 20 U
176/21
Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 43
Abs. 2 Mess- und Eichgesetz (MessEG) Es ist verboten,
Fertigpackungen herzustellen, herstellen zu lassen, in den
Geltungsbereich dieses Gesetzes zu verbringen, in Verkehr zu
bringen oder sonst auf dem Markt bereitzustellen, wenn sie
ihrer Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge
vortäuschen als in ihnen enthalten ist.
§ 3a
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) Unlauter
handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt,
die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer
das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist,
die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern
oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen.
§ 5 UWG
(1) Unlauter handelt, wer eine irreführende geschäftliche
Handlung vornimmt, die geeignet ist, den Verbraucher oder
sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen
Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht
getroffen hätte.
(2) Eine geschäftliche Handlung
ist irreführend, wenn sie unwahre Angaben enthält oder
sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über folgende
Umstände enthält:
1. die wesentlichen Merkmale der
Ware oder Dienstleistung wie Verfügbarkeit, Art, Ausführung,
Vorteile, Risiken, Zusammensetzung, Zubehör, Verfahren oder
Zeitpunkt der Herstellung, Lieferung oder Erbringung,
Zwecktauglichkeit, Verwendungsmöglichkeit, Menge,
Beschaffenheit, Kundendienst und Beschwerdeverfahren,
geographische oder betriebliche Herkunft, von der Verwendung
zu erwartende Ergebnisse oder die Ergebnisse oder
wesentlichen Bestandteile von Tests der Waren oder
Dienstleistungen; (…)
Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie
2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken Diese Richtlinie
gilt für unlautere Geschäftspraktiken im Sinne des Artikels 5
zwischen Unternehmen und Verbrauchern vor, während und nach
Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.
Art. 4 der Richtlinie 2005/29/EG Die
Mitgliedstaaten dürfen den freien Dienstleistungsverkehr und
den freien Warenverkehr nicht aus Gründen, die mit dem durch
diese Richtlinie angeglichenen Bereich zusammenhängen,
einschränken. Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29/EG
Unlautere Geschäftspraktiken sind insbesondere solche, die a)
irreführend im Sinne der Artikel 6 und 7 (…) sind.
Haltung von Hahn "Big Foot" im Wohngebiet zu Recht
untersagt Münster, 29. Mai 2024 - Die Stadt
Düsseldorf hat Hühnerhaltern in der Tannenhofsiedlung in
DüsseldorfVennhausen zu Recht aufgegeben, die Haltung des
Hahns „Bigfoot“ auf ihrem Grundstück einzustellen. Dies hat
das Oberverwaltungsgericht in einem Eilverfahren entschieden
und eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf
bestätigt. Die Antragsteller sind Eigentümer eines
Grundstücks in einem allgemeinen Wohngebiet in
Düsseldorf-Vennhausen. Sie halten in ihrem Garten vier Hennen
und einen Hahn namens „Bigfoot“.
Nach einer
Nachbarbeschwerde forderte die Stadt Düsseldorf sie per
Ordnungsverfügung auf, die Haltung des Hahns einzustellen und
ihn innerhalb von zwei Wochen vom Grundstück zu entfernen,
und untersagte die künftige Haltung eines oder mehrerer Hähne
auf dem Grundstück. Die Haltung der Hennen beanstandete sie
nicht. Den daraufhin gestellten Eilantrag der Tierhalter
lehnte das Verwaltungsgericht Düsseldorf ab. Die dagegen
erhobene Beschwerde hatte beim Oberverwaltungsgericht keinen
Erfolg.
Zur Begründung hat der 10. Senat des
Oberverwaltungsgerichts ausgeführt: Ob Nebenanlagen zur
Tierhaltung in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig sind
oder ob sie der Eigenart des Baugebiets widersprechen,
beurteilt sich nach der örtlichen Situation im jeweiligen
Einzelfall. Hier hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf
angenommen, die Haltung eines Hahns im rückwärtigen
Gartenbereich auf einer 220 m² großen Fläche (inklusive des
Stallgebäudes) im unmittelbaren Grenzbereich zum
Nachbargrundstück widerspreche der Eigenart dieses
Wohngebiets mit - infolge einer Innenverdichtung - relativ
kleinen Wohngrundstücken.
Mit ihren Einwänden
gegen diese Einzelfallbewertung dringen die Antragsteller
nicht durch. Dass es in der näheren Umgebung weitere
Hühnerhaltungen mit Hähnen gebe, legen sie nicht
substantiiert dar. Ob „Bigfoot“ viel oder wenig kräht, war
für das Verwaltungsgericht nicht entscheidend. Da es alleine
um eine baurechtliche Prüfung der Zulässigkeit der
Tierhaltung geht, konnten die Antragsteller mit ihrer
Argumentation nicht durchdringen, die Haltung des Hahns
erfolge im Rahmen einer artgerechten und nachhaltigen
Hühnerhaltung, weil der Hahn in der Gruppe für Ruhe sorge und
diese vor Angriffen durch Greifvögel beschütze.
Ebenso kommt es nicht darauf an, dass die Antragsteller auch
in einem allgemeinen Wohngebiet nachhaltig leben wollen,
indem sie sich mit Eiern aus der eigenen Haltung versorgen,
zumal es dazu keines Hahns bedarf. Der Beschluss ist
unanfechtbar. Aktenzeichen: 10 B 368/24 (I. Instanz: VG
Düsseldorf 4 L 2878/23)
Online-Kündigungsprozess von Verbraucherverträgen soll
möglichst einfach sein Düsseldorf, 23. Mai 2024 -
Der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf unter
Leitung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht
Erfried Schüttpelz hat heute einer Unterlassungsklage eines
Verbraucherschutzverbands stattgegeben und einem
Versorgungsunternehmen untersagt, online eine
Kündigungsbestätigungsseite vorzuhalten, die erst durch
Eingabe von Benutzername und Passwort oder Eingabe von
Vertragskontonummer und Postleitzahl der Verbrauchsstelle
erreichbar und damit nicht unmittelbar und leicht zugänglich
ist.
Die Beklagte bietet auf ihrer Website
Verbraucherinnen und Verbrauchern den Abschluss von
verschiedenen Strom- und Gasverträgen an. Auf ihrer Homepage
findet sich am unteren Ende der Rubrik "Kontakt" eine
Schaltfläche "Verträge kündigen". Wählen Verbraucherinnen und
Verbraucher diese aus, gelangen sie zu einer Anmeldemaske,
mithilfe derer sie sich zunächst identifizieren sollen, bevor
sie in den Kündigungsbereich gelangen. Hierfür können sich
registrierte Kundinnen und Kunden mit ihrem Benutzernamen und
dem zugehörigen Passwort anmelden.
Nicht
registrierte Kundinnen und Kunden müssen zunächst die
Vertragskontonummer und die Postleitzahl der Verbrauchsstelle
angeben, um sich zu legitimieren. Die Identifizierung, ob per
Benutzername oder Vertragskontonummer, wird erst mit
Bestätigung des Buttons "Anmelden" abgeschlossen. Eine
Möglichkeit, den Vertrag direkt über eine
Kündigungsschaltfläche zu kündigen, ohne sich auf eine der
zwei vorgenannten Alternativen anmelden zu müssen, existiert
nicht. Nach erfolgloser vorgerichtlicher Abmahnung beantragt
der Verbraucherschutzverband u.a. die Untersagung des so
gestalteten Kündigungsprozesses.
Der 20.
Zivilsenat hat in seiner heute verkündeten Entscheidung
ausgeführt, der von der Beklagten über ihre Website
gestaltete Kündigungsprozess verstoße gegen die den
Verbraucher schützende Regelung des § 312k Abs. 2 S. 3 BGB.
Nach dieser gesetzlichen Regelung sei ein Kündigungsprozess
zweistufig aufgebaut: Er beginne mit einer
"Kündigungsschaltfläche", nach deren Betätigung der
Verbraucher unmittelbar auf eine "Bestätigungsseite" geführt
werde, auf der der Verbraucher Angaben zu seiner Kündigung
machen könne und die wiederum einen Bestätigungsbutton mit
einer eindeutigen Formulierung wie "jetzt kündigen" enthalte.
Die Beklagte habe die "Bestätigungsseite" nicht
entsprechend dieser gesetzlichen Vorgaben gestaltet. Vielmehr
sei diese dergestalt aufgespalten, dass Kundinnen und Kunden
zunächst auf eine Website geleitet würden, auf der sie
bestimmte Anmeldeinformationen zum Kundenkonto oder zu der
sie identifizierenden Vertragskontonummer angegeben müssten.
Diese Seite enthalte jedoch nicht die weiteren gesetzlich
vorgeschriebenen Angaben und insbesondere keine
Bestätigungsschaltfläche mit einer Formulierung wie "jetzt
kündigen".
Auf eine diese Merkmale enthaltende
gesonderte Website würden die Verbraucherinnen und
Verbraucher vielmehr erst dann weitergeleitet, wenn sie sich
erfolgreich angemeldet hätten. Eine solche Gestaltung der
Website zur Kündigung des Versorgungsvertrages sei nicht
zulässig. Die Betätigung der Kündigungsschaltfläche müsse
vielmehr unmittelbar zu der Bestätigungsseite mit sämtlichen
vorgeschriebenen Merkmalen - insbesondere der
Bestätigungsschaltfläche "jetzt kündigen" führen. Dies setze
voraus, dass die Bestätigungsseite aus einer einheitlichen
Webseite bestehe.
Die Kündigung würde momentan
dadurch erschwert, dass eine weitere – im Gesetz nicht
vorgesehene – Schaltfläche eingebaut werde. Diese Aufspaltung
der Bestätigungsseite in (zumindest) zwei unabhängige
Webseiten führe zu einem (zumindest) dreistufigen
Kündigungsprozess und laufe dem Bestreben des Gesetzgebers
zugegen, eine möglichst einfache Kündigung zu ermöglichen.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Der Senat hat die
Revision zugelassen, weil bislang höchstrichterliche
Rechtsprechung zu § 312k BGB fehlt.
Bundesamt für Verfassungsschutz
darf AfD und JA als Verdachtsfall beobachten
Münster, 13. Mai 2024 - Das Bundesamt für Verfassungsschutz
darf die Partei „Alternative für Deutschland (AfD)“ und ihre
Jugendorganisation „Junge Alternative für Deutschland (JA)“
als Verdachtsfall beobachten und die Öffentlichkeit hierüber
unterrichten. Auch die Beobachtung des sogenannten „Flügel“
in der Vergangenheit - zunächst als Verdachtsfall, später als
„erwiesen extremistische Bestrebung“ - und deren Bekanntgabe
waren rechtmäßig.
Dies hat das
Oberverwaltungsgericht nach sieben Verhandlungstagen heute
mit drei Urteilen entschieden. Die Berufungen der AfD und der
JA gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts Köln vom
08.03.2022 waren damit erfolglos. Zur Urteilsbegründung hat
der Vorsitzende des 5. Senats ausgeführt: Die AfD hat
keinen Anspruch auf Unterlassung der Beobachtung durch das
Bundesamt für Verfassungsschutz. Die Regelungen des
Bundesverfassungsschutzgesetzes stellen eine ausreichende
rechtliche Grundlage für die Beobachtung als Verdachtsfall
dar. Dies gilt auch für politische Parteien, welche unter dem
besonderen Schutz des Grundgesetzes stehen.
•
Die Befugnis zur
nachrichtendienstlichen Beobachtung besteht, wenn
ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass
die betroffene Vereinigung Bestrebungen verfolgt, die gegen
die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind.
Bloße Vermutungen oder Spekulationen genügen nicht. Was für
einen Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen ausreicht,
führt aber auch nicht zwangsläufig zur Annahme einer erwiesen
extremistischen Bestrebung.
•
Nach Überzeugung des Senats liegen
hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass die
AfD Bestrebungen verfolgt, die gegen die Menschenwürde
bestimmter Personengruppen sowie gegen das Demokratieprinzip
gerichtet sind. Es besteht der begründete Verdacht, dass es
den politischen Zielsetzungen jedenfalls eines maßgeblichen
Teils der AfD entspricht, deutschen Staatsangehörigen mit
Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status
zuzuerkennen. Dies stellt eine nach dem Grundgesetz
unzulässige Diskriminierung aufgrund der Abstammung dar, die
mit der Menschenwürdegarantie nicht zu vereinbaren ist.
•
Verfassungswidrig und mit der
Menschenwürde unvereinbar ist nicht die deskriptive
Verwendung eines „ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“, aber
dessen Verknüpfung mit einer politischen Zielsetzung, mit der
die rechtliche Gleichheit aller Staatsangehörigen in Frage
gestellt wird. Hier bestehen hinreichende tatsächliche
Anhaltspunkte für derartige diskriminierende Zielsetzungen.
Dem Senat liegt eine große Anzahl von gegen Migranten
gerichteten Äußerungen vor, mit denen diese auch unabhängig
vom Ausmaß ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft
systematisch ausgegrenzt werden und trotz ihrer deutschen
Staatsangehörigkeit ihre vollwertige Zugehörigkeit zum
deutschen Volk in Frage gestellt wird.
•
Daneben bestehen hinreichende
Anhaltspunkte für den Verdacht, dass die AfD Bestrebungen
verfolgt, die mit einer Missachtung der Menschenwürde von
Ausländern und Muslimen verbunden sind. In der AfD werden in
großem Umfang herabwürdigende Begriffe gegenüber Flüchtlingen
und Muslimen verwendet, zum Teil in Verbindung mit konkreten,
gegen die gleichberechtigte Religionsausübung von Muslimen
gerichteten Forderungen.
•
Nach Auffassung des Senats
liegen bei der AfD darüber hinaus Anhaltspunkte für
demokratiefeindliche Bestrebungen vor, wenn auch
nicht in der Häufigkeit und Dichte wie vom Bundesamt
angenommen. Der Senat war nicht gehalten, weitere
Aufklärungsmaßnahmen betreffend die sogenannte Staats- und
Quellenfreiheit der AfD zu ergreifen. Aus der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts zum Parteiverbot bzw. zum
Ausschluss von der Parteienfinanzierung folgt nicht, dass
auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren über die
Beobachtung durch den Verfassungsschutz etwaige Quellen
„abgeschaltet“ werden müssen.
•
Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt
bei der Einstufung und Beobachtung der AfD als Verdachtsfall
aus sachwidrigen und parteipolitischen Motiven gehandelt hat
oder handelt, liegen nicht vor. Das Bundesamt für
Verfassungsschutz ist auf der Grundlage des
Bundesverfassungsschutzgesetzes auch berechtigt, die
Öffentlichkeit über die Einstufung als Verdachtsfall zu
informieren.
•
Die bestehenden Anhaltspunkte sind, wie
es das Gesetz vorsieht, hinreichend gewichtig. Dies gilt,
obwohl die AfD durch die Bekanntgabe in ihren
Rechtspositionen als politische Partei beeinträchtigt wird.
Die maßgebliche Vorschrift ist durch den Gesetzgeber gerade
im Hinblick auf die Verlautbarung von Verdachtsfällen
geändert worden und soll auch diesen Fall umfassen. Eine
sachlich richtige und weltanschaulich-politisch neutrale
Bekanntgabe, dass das Bundesamt Informationen über mögliche
verfassungsfeindliche Bestrebungen bei der AfD sammelt,
belastet diese daher auch nicht unverhältnismäßig, jedenfalls
solange mit der Bezeichnung als „Verdachtsfall“ in keiner
Weise der Eindruck erweckt wird, es stehe fest, dass die AfD
gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete
Bestrebungen verfolgt.
Dass das Bundesamt und
sein Präsident im Übrigen bei der Art und Weise der
Information der Öffentlichkeit und ihrer sonstigen
Öffentlichkeitsarbeit nicht völlig frei sind, sondern
gerichtlicher Kontrolle unterliegen, ist selbstverständlich,
aber nicht Gegenstand der hiesigen Verfahren. Auch die JA
kann nicht verlangen, dass die Beobachtung als Verdachtsfall
und die entsprechende Bekanntgabe unterbleiben. Es finden
sich hier ebenso tatsächliche Anhaltspunkte für
verfassungsfeindliche Bestrebungen, namentlich gegen die
Menschenwürde von bestimmten Personengruppen.
•
Es besteht der begründete Verdacht,
dass die JA deutschen Staatsangehörigen mit
Migrationshintergrund die Anerkennung als gleichberechtigte
Mitglieder der rechtlich verfassten Gemeinschaft versagen
will. Dies ergibt sich im Ausgangspunkt aus dem bei
Einstufung als Verdachtsfall noch geltenden „Deutschlandplan“
und den dortigen Ausführungen zur Migrationspolitik und
Einwanderung. Die Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche
Bestrebungen sind in der Folge nicht entfallen, obgleich es
im Programm der JA Änderungen gegeben hat. Ebenso besteht der
begründete Verdacht, dass ihre politischen Vorstellungen auf
eine Missachtung der Menschenwürde und eine glaubensbezogene
Diskriminierung von Muslimen zielen.
•
Auch in Bezug auf die JA erweist sich
die Bekanntgabe der Einstufung auf der Grundlage des
Bundesverfassungsschutzgesetzes als gerechtfertigt. Die
Berufung der AfD betreffend den „Flügel“ hatte ebenfalls
keinen Erfolg. Die - zwischenzeitlich eingestellte -
Beobachtung des „Flügel“ als Verdachtsfall und später als
„erwiesen extremistische Bestrebung“ waren rechtmäßig. Bei
dem „Flügel“ handelte es sich um einen
Personenzusammenschluss im Sinne des
Bundesverfassungsschutzgesetzes. Auch wenn keine formelle
Mitgliedschaft bestand, besaß er eine hinreichend verfestigte
Organisationsstruktur. Es bestand zunächst der Verdacht, dass
sich die politischen Zielsetzungen des „Flügel“ gegen die
Menschenwürde von bestimmten Personengruppen richteten.
Die dokumentierten Äußerungen rechtfertigten am
12.03.2020, dem Tag der Bekanntgabe der „Hochstufung“, auch
die über den Verdacht hinausgehende Schlussfolgerung, die
Ziele des „Flügel“ richteten sich tatsächlich gegen den
Schutz der Menschenwürde, namentlich von Deutschen mit
Migrationshintergrund sowie deutschen und ausländischen
Staatsangehörigen islamischen Glaubens. Die Bekanntgabe der
Einstufungen war ebenfalls rechtmäßig.
•
Der Senat hat in allen drei Verfahren
die Revision nicht zugelassen; hiergegen kann Beschwerde zum
Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden.
Aktenzeichen: 5 A 1216/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 207/20),
5 A 1217/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 208/20), 5 A 1218/22
(I. Instanz: VG Köln 13 K 326/21)
Weitere Hinweise
Anhängig ist bei dem Oberverwaltungsgericht noch die
Beschwerde der AfD und der JA (5 B 131/24) gegen den
Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 05.02.2024.
Gegenstand dieses Verfahrens ist der beantragte Erlass einer
einstweiligen Anordnung betreffend die „Hochstufung“ der JA
zur „erwiesen extremistischen Bestrebung“ und deren
Bekanntgabe durch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Wann
in diesem Verfahren eine Entscheidung ergeht, ist aktuell
noch nicht abzusehen.
|
April 2024 |
Konsumcannabisgesetz –
Bundesgerichtshof setzt Grenzwert der nicht geringen Menge
für Tetrahydrocannabinol (THC) auf 7,5 g fest
Karlsruhe, 23. April 2024 - Das Landgericht Ulm hatte die
Angeklagten A. und M. wegen Betäubungsmitteldelikten im
Zusammenhang mit dem Betrieb einer Marihuanaplantage nach der
bisher geltenden Rechtslage jeweils zu einer Freiheitsstrafe
von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Auf
der Grundlage der vom Landgericht getroffenen Feststellungen
hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil im
Verfahren über die Revisionen der beiden Angeklagten
entsprechend den zum 1. April 2024 in Kraft getretenen
Bestimmungen des Konsumcannabisgesetzes (KCanG) im
Schuldspruch jeweils neu gefasst. Zudem hat er den Grenzwert
der nicht geringen Menge i.S. von § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4
KCanG auf 7,5 g Tetrahydrocannabinol (THC) festgesetzt.
Infolge des gegenüber der bisherigen Rechtslage
niedrigeren Strafrahmens des § 34 Abs. 3 Satz 1 KCanG hat der
1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil im
Strafausspruch aufgehoben und insoweit zur erneuten
Strafbemessung an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen. Beschluss vom 18. April 2024 - 1 StR 106/24
Vorinstanz: LG Ulm - Urteil vom 18. Dezember 2023
- 2 KLs 73 Js 9434/23 Die maßgeblichen Vorschriften des KCanG
lauten: § 34 Strafvorschriften (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer 1. entgegen §
2 Absatz 1 Nummer 1 a)… b)…. c) mehr als drei lebende
Cannabispflanzen besitzt, 2. … a)…. b)…. 3. …. 4.
entgegen § 2 Absatz 1 Nummer 4 mit
Cannabis Handel treibt, …. (3) In besonders schweren Fällen
ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf
Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor,
wenn der Täter 1. … 2. … 3. … 4.
eine Straftat nach
Absatz 1 begeht und sich die Handlung auf eine nicht geringe
Menge bezieht. § 2 Umgang mit Cannabis (1) Es ist verboten,
1. Cannabis zu besitzen, 2. Cannabis anzubauen, 3. Cannabis
herzustellen, 4. mit Cannabis Handel zu treiben,
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde
eines Journalisten gegen die gerichtliche Untersagung einer
kritischen Äußerung über die Bundesregierung
Karlsruhe, 16. April 2024 - Mit heute veröffentlichtem
Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines
Journalisten stattgeben. Dieser wendet sich gegen eine
einstweilige Verfügung, durch die ihm eine kritische Äußerung
gegenüber der Bundesregierung untersagt wurde.
Im
August 2023 veröffentlichte der Beschwerdeführer auf der
Kommunikationsplattform „X“ die Kurznachricht „Deutschland
zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!)
Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im
Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen,
historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine
Regierung?!“. In der Kurznachricht verlinkt war der Artikel
eines Online-Nachrichtenmagazins mit der Überschrift
„Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“.
Das Kammergericht untersagte dem Beschwerdeführer
auf Antrag der Bundesregierung die Äußerung „Deutschland
zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!)
Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!).“
Die
Äußerung sei eine unwahre Tatsachenbehauptung, die geeignet
sei, das Vertrauen der Bevölkerung in die Tätigkeit der
Bundesregierung zu gefährden. Hiergegen wendet sich dieser
mit seiner Verfassungsbeschwerde.
Die
Entscheidung des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer
in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1
Grundgesetz (GG). Sie verfehlt erkennbar den Sinn der
angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer
Meinungsäußerung. Der Staat hat grundsätzlich auch
scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Indem das
Kammergericht für seine Beurteilung die in der Kurznachricht
wiedergegebene Schlagzeile ausblendet, verharrt seine
Sinndeutung auf einer isolierten Betrachtung des
Kurznachrichtentextes.
Verwaltungsgericht
Aachen: Hautkrebs-Erkrankung eines Polizisten keine
Berufskrankheit Aachen, 15. April 2024 - Ein
ehemaliger Polizist hat keinen Anspruch auf Anerkennung
seiner Hautkrebserkrankung als Berufskrankheit infolge früher
wahrgenommener Tätigkeiten u.a. im Streifendienst. Das hat
das Verwaltungsgericht Aachen mit heute verkündetem Urteil
entschieden.
Der Kläger begründete seine Klage
damit, er sei während seiner nahezu 46-jährigen Dienstzeit zu
erheblichen Teilen im Außendienst eingesetzt gewesen, ohne
dass sein Dienstherr ihm Mittel zum UV-Schutz zur Verfügung
gestellt oder auch nur auf die Notwendigkeit entsprechender
Maßnahmen hingewiesen habe. Infolgedessen leide er unter
Hautkrebs am Kopf, im Gesicht und an den Unterarmen.
Das Verwaltungsgericht hat die Ablehnung der
Anerkennung als Berufskrankheit durch das LKA NRW bestätigt.
Zur Begründung hat der Vizepräsident des Verwaltungsgerichts
Markus Lehmler als Vorsitzender u.a. ausgeführt: Die
Voraussetzungen für eine Anerkennung als Dienstunfall liegen
hier nicht vor. Erforderlich ist im Fall von durch
UV-Strahlung ausgelöstem Hautkrebs, dass der betroffene
Beamte bei der Ausübung seiner Tätigkeit der Gefahr der
Erkrankung besonders ausgesetzt ist, d.h. das
Erkrankungsrisiko aufgrund der dienstlichen Tätigkeit in
entscheidendem Maß höher als das der Allgemeinbevölkerung
ist.
Davon kann bei Polizeibeamten im Außendienst
nicht die Rede sein. Polizisten bewegen sich im Außendienst
in unterschiedlichen örtlichen Begebenheiten und nicht nur
bei strahlendem Sonnenschein im Freien. Zudem gibt es keine
Referenzfälle, obwohl das Thema Hautkrebs durch UV-Strahlung
bereits seit Jahrzehnten bekannt ist. Gegen das Urteil kann
der Kläger einen Antrag auf Zulassung der Berufung stellen,
über den das Oberverwaltungsgericht in Münster entscheidet.
Aktenzeichen: 1 K 2399/23
Erfolgreiches Organstreitverfahren
wegen Nichtvorlage von Akten an den "PUA II –
Hochwasserkatastrophe" Verfassungsgerchtshof
Münster, 9. April 2024 - Die Ministerin für Heimat,
Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes
Nordrhein-Westfalen Ina Scharrenbach hat einen Beweisbeschluss zur Vorlage von
Akten an den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss II der
18. Wahlperiode des nordrheinwestfälischen Landtags ("PUA II
– Hochwasserkatastrophe") nur unzureichend erfüllt und
dadurch die sich aus der Landesverfassung ergebenden Rechte
der Ausschussminderheit verletzt.
Das hat der
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in
Münster mit einem heute verkündeten Urteil entschieden. Der
"PUA II – Hochwasserkatastrophe" soll mögliche Versäumnisse,
Fehleinschätzungen und mögliches Fehlverhalten der damaligen
Landesregierung, insbesondere der zuständigen Ministerien
sowie der ihnen nachgeordneten Behörden während der
Hochwasserkatastrophe untersuchen, die sich Mitte Juli 2021
insbesondere im Ahrtal und im Süden Nordrhein-Westfalens
ereignet hatte. Er setzt die Arbeit des PUA V der 17.
Wahlperiode fort.
Mit Beweisbeschlusses Nr. 13
forderte der Untersuchungsausschuss im November 2022 unter
anderem bei der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und
Digitalisierung die in ihrem Geschäftsbereich vorhandenen
Akten und sonstigen Unterlagen an, die mit dem
Untersuchungsauftrag im Zusammenhang stehen. Die Ministerin
legte daraufhin zehn Blatt Akten vor. Eine Vorlage weiterer
Akten lehnte sie mit der Begründung ab, dass der
Untersuchungsauftrag ausdrücklich auf die Phase während der
Hochwasserkatastrophe beschränkt sei und damit lediglich den
Zeitraum vom Einsetzen des Starkregens bis zum Abfließen der
Wassermassen erfasse.
Die Antragstellerin, die im
PUA II eine qualifizierte Minderheit bestehend aus den drei
stimmberechtigten Mitgliedern der SPD-Fraktion bildet, hat im
März 2023 vor dem Verfassungsgerichtshof ein
Organstreitverfahren gegen die Ministerin (Antragsgegnerin)
eingeleitet. Sie ist der Auffassung, der Text des aktuellen
Untersuchungsauftrags müsse vor dem Hintergrund des bereits
in der 17. Legislaturperiode ausgetragenen Konflikts um
dessen Reichweite interpretiert werden. So sei der Terminus
"zur Abwehr von Gefahren" aus dem Untersuchungsauftrag des
PUA V der 17. Legislaturperiode ausdrücklich gestrichen
worden, um den Untersuchungsauftrag auszuweiten.
Eine enge zeitliche Beschränkung sei mit diesem
Erweiterungsgedanken nicht zu vereinbaren. Die
Antragsgegnerin hält demgegenüber an ihrer Argumentation fest
und macht darüber hinaus geltend, dass der zugrundeliegende
Beweisbeschluss Nr. 13 zu unbestimmt sei.
Mit dem heute verkündeten Urteil hat der
Verfassungsgerichtshof der Organklage der Antragstellerin
stattgegeben. In ihrer mündlichen Urteilsbegründung hat die
Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Prof. Dr. Dr. h.c.
Dauner-Lieb unter anderem ausgeführt: Die Antragsgegnerin
verletzt durch ihre Weigerung das Untersuchungsrecht der
Antragstellerin aus Art. 41 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Art. 41
Abs. 2 Satz 3 LV.
Bei der Auslegung des
Beweisbeschlusses ergibt sich, dass der Untersuchungsauftrag
zeitlich nicht auf den Zeitraum bis zum Abfließen der
Wassermassen beschränkt ist, sondern die Zeit vom 9. Juli bis
zum 9. September 2021 erfasst. Denn dieser
Untersuchungszeitraum wurde durch den Landtag im
Einsetzungsbeschluss explizit festgehalten. Die weiteren
Auslegungsmethoden führen zu keinem anderen Ergebnis.
Insbesondere spricht der historische Kontext gegen die von
der Antragsgegnerin vorgenommene zeitliche Einschränkung.
Die Rüge der Antragsgegnerin, der Beweisbeschluss Nr.
13 sei nicht hinreichend bestimmt, ist im vorliegenden
Verfahren nicht Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung.
Aufgrund des Grundsatzes der Organtreue hätte sie bereits
vorprozessual ihre Entscheidung hiermit begründen müssen,
damit die Antragstellerin die Berechtigung der
Vorlageverweigerung insoweit hätte nachvollziehen und
rechtliche Schritte prüfen können. Artikel 41 Absatz 1 Satz 1
und 2 LV
Der Landtag hat das Recht und auf Antrag
von einem Fünftel der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder die
Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese
Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise,
die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten.
Artikel 41 Absatz 2 LV Die Gerichte und Verwaltungsbehörden
sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet. Sie sind
insbesondere verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um
Beweiserhebungen nachzukommen. Die Akten der Behörden und
öffentlichen Körperschaften sind ihnen auf Verlangen
vorzulegen. Aktenzeichen: VerfGH 31/23
|
Februar 2024 |
Abschuss der Wölfin Gloria im
Kreis Wesel bleibt gestoppt: Oberverwaltungsgericht weist
Beschwerden des Kreises zurück - Die drei Beschlüsse sind
unanfechtbar Münster, 9. Februar 2024 - Die
Wölfin Gloria, für die der Kreis Wesel im Dezember 2023 eine
bis zum 15.02.2024 befristete naturschutzrechtliche
Ausnahmegenehmigung zum Abschuss der unter strengem
Artenschutz stehenden Wölfin Gloria erteilt hat, darf
weiterhin nicht abgeschossen werden. Das hat das
Oberverwaltungsgericht heute mit drei Beschlüssen
entschieden.
Der Kreis hatte seine für sofort
vollziehbar erklärte Ausnahmegenehmigung damit begründet,
dass der Abschuss von Gloria erforderlich sei, um zu
verhindern, dass diese weiterhin Weidetiere reiße und damit
ernste landwirtschaftliche Schäden verursache. Auf die
Anträge von drei Naturschutzverbänden stoppte das
Verwaltungsgericht Düsseldorf die Vollziehung der
Ausnahmegenehmigung mit Beschlüssen vom 17.01.2024. Zur
Begründung führte es aus, der Kreis habe nicht schlüssig
dargelegt, dass durch das Rissverhalten von Gloria ernste
landwirtschaftliche Schäden drohten.
Die
hiergegen gerichteten Beschwerden des Kreises hat das
Oberverwaltungsgericht nunmehr zurückgewiesen und damit den
Stopp der Vollziehung der Ausgenehmigung zum Abschuss von
Gloria bestätigt. Zur Begründung hat der 21. Senat des
Oberverwaltungsgerichts ausgeführt: Eine Vollziehung der
Ausnahmegenehmigung kommt nicht in Betracht, weil diese an
mehreren Fehlern leidet. Der Kreis hat nicht dargelegt, dass
Gloria ein problematisches, auf geschützte Weidetiere
ausgerichtetes Jagdverhalten zeigt.
Ferner ist
die Schadensprognose des Kreises defizitär, weil sich aus ihr
der Umfang der angenommenen zukünftigen Schäden nicht ergibt.
Dies macht auch die Ermessensausübung des Kreises fehlerhaft,
weil die von ihm vorgenommene Abwägung zwischen
artenschutzrechtlichen und wirtschaftlichen Belangen ohne
Benennung des Umfangs der zukünftigen Schäden nicht brauchbar
ist.
Schließlich liegt auf der Hand, dass sich
der Erhaltungszustand der lokalen Wolfspopulation im
Westmünsterland durch den Abschuss von Gloria verschlechtert,
weil dadurch der Umfang der Population um ein Drittel
reduziert wird und zudem Gloria das einzige
fortpflanzungsfähige Weibchen ist. Der vom Kreis angenommene
Ausgleich in Gestalt des Zuzugs eines anderen Weibchens ist
lediglich spekulativ. Auch bei einer reinen
Vollzugsfolgenabwägung wäre die Vollziehung der
Ausgenehmigung zu stoppen.
Der Abschuss von
Gloria bedingte einen endgültigen artenschutzrechtlichen
Schaden, der auch nicht ohne Weiteres kompensierbar wäre. Der
auf der anderen Seite zu berücksichtigende
landwirtschaftliche Schaden in Gestalt gerissener Weidetiere
würde dagegen aufgrund bestehender Entschädigungsregelungen
für Nutztierhalter kompensiert. Die damit einhergehende
Belastung der Steuern zahlenden Allgemeinheit erscheint
vergleichsweise marginal.
Die drei Beschlüsse des
Oberverwaltungsgerichts sind unanfechtbar. Aktenzeichen:
21 B 74/24, 21 B 75/24, 21 B 76/24 (I. Instanz: VG Düsseldorf
28 L 3333/23, 28 L 3345/23, 28 L 3349/23)
Zulässigkeit von baulichen
Veränderungen des Gemeinschaftseigentums zur
Barrierereduzierung Urteile vom 9. Februar 2024 – V ZR 244/22
und V ZR 33/23
Karlsruhe, 9. Februar 2024 -
Der unter anderem für das Wohnungseigentumsrecht zuständige
V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
heute auf der Grundlage des im Jahr 2020 reformierten
Wohnungseigentumsrechts in zwei Verfahren über die
Voraussetzungen und Grenzen baulicher Veränderungen des
Gemeinschaftseigentums entschieden, die von einzelnen
Wohnungseigentümern als Maßnahmen zur Barrierereduzierung
(Errichtung eines Personenaufzugs bzw. Errichtung einer 65
Zentimeter erhöhten Terrasse nebst Zufahrtsrampe) verlangt
wurden.
Verfahren V ZR 244/22 Sachverhalt: Die
Kläger sind Mitglieder der beklagten Gemeinschaft der
Wohnungseigentümer. Die Anlage besteht aus zwei zwischen 1911
und 1912 im Jugendstil errichteten Wohnhäusern und steht
unter Denkmalschutz. Das Vorderhaus erhielt im Jahr 1983 den
Fassadenpreis der Stadt München. Die Wohneinheiten der Kläger
befinden sich im dritten und vierten Obergeschoss des
Hinterhauses (ehemaliges "Gesindehaus"), bei dem die Fassade
und das enge Treppenhaus im Vergleich zum Vorderhaus eher
schlicht gehalten sind.
Ein Personenaufzug ist
nur für das Vorderhaus vorhanden. In der
Eigentümerversammlung vom 26. Juli 2021 wurde unter anderem
ein Antrag der nicht körperlich behinderten Kläger abgelehnt,
ihnen auf eigene Kosten die Errichtung eines Außenaufzugs am
Treppenhaus des Hinterhauses als Zugang für Menschen mit
Behinderungen zu gestatten. Mit der Beschlussersetzungsklage
wollen die Kläger erreichen, dass die Errichtung des
Personenaufzugs dem Grunde nach beschlossen ist. Bisheriger
Prozessverlauf: Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung der Kläger hat das Landgericht durch
Urteil den Beschluss ersetzt, dass am Hinterhaus auf der zum
Innenhof gelegenen Seite ein Personenaufzug zu errichten ist.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit der von dem Landgericht
zugelassenen Revision. Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der Bundesgerichtshof hat die Revision zurückgewiesen. Dem
liegen folgende Erwägungen zugrunde: Mit einem
Grundlagenbeschluss, den das Berufungsgericht
ersetzt hat, wird eine verbindliche Regelung über die
Errichtung des von den Klägern begehrten Personenaufzuges für
das Hinterhaus begründet und die spätere Durchführung
legitimiert. Der Klage ist zu Recht stattgegeben worden, weil
der geltend gemachte Anspruch gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
WEG auf eine Beschlussfassung besteht und nach § 20 Abs. 4
WEG die Grenzen einer zulässigen Bebauung eingehalten werden.
Bedenken gegen die Beschlusskompetenz bestehen
nicht. Nach dem seit dem 1. Dezember 2020 geltenden
Wohnungseigentumsrecht können die Wohnungseigentümer eine
bauliche Veränderung grundsätzlich auch dann beschließen,
wenn die Beschlussfassung die Zuweisung einer
ausschließlichen Nutzungsbefugnis (§ 21 Abs. 1 Satz 2 WEG) an
dem dafür vorgesehenen Gemeinschaftseigentum zur Folge hat,
wie dies hier hinsichtlich des Aufzugs der Fall ist.
Die von den Klägern erstrebte Errichtung eines
Personenaufzugs stellt eine angemessene bauliche Veränderung
dar, die dem Gebrauch durch Menschen mit Behinderungen dient
(§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WEG). Die Angemessenheit
ist nur ausnahmsweise zu verneinen, wenn mit der Maßnahme
Nachteile verbunden sind, die über die Folgen hinausgehen,
die typischerweise mit der Durchführung einer privilegierten
baulichen Veränderung einhergehen. Eingriffe in die
Bausubstanz, übliche Nutzungseinschränkungen des
Gemeinschaftseigentums und optische Veränderungen der Anlage
etwa aufgrund von Anbauten können die Unangemessenheit daher
regelmäßig nicht begründen.
Die Kosten der
baulichen Veränderung sind für das Bestehen eines Anspruchs
nach § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG grundsätzlich ohne Bedeutung, da
sie gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 WEG von dem verlangenden
Wohnungseigentümer zu tragen sind. Vor diesem Hintergrund
bejaht das Berufungsgericht zu Recht die Angemessenheit der
Maßnahme. Weiterer Vortrag war von den Klägern nicht zu
verlangen. Zwar trägt die Darlegungs- und Beweislast für die
tatsächlichen Umstände der Angemessenheit einer baulichen
Veränderung der klagende Wohnungseigentümer.
Da
der Gesetzgeber aber die Angemessenheit als Regel ansieht,
obliegt der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer die
Darlegung, warum ein atypischer Fall vorliegt. Hieran fehlt
es. Eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage im Sinne
von § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 1 WEG, die dem Anspruch
entgegenstehen könnte, ist mit der Errichtung eines Aufzugs
nicht verbunden. Insoweit ist zunächst zu beachten, dass
nicht jede bauliche Veränderung, die nach § 22 Abs. 2 Satz 1
WEG aF die Eigenart der Wohnanlage änderte, auch im Sinne des
neuen § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 1 WEG zu einer grundlegenden
Umgestaltung führt.
Nach nunmehr
geltendem Recht ist bei einer Maßnahme, die der
Verwirklichung eines Zweckes i.S.d. § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG
dient, eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage
zumindest typischerweise nicht anzunehmen. Der von dem
Gesetzgeber im gesamtgesellschaftlichen Interesse erstrebten
Privilegierung bestimmter Kategorien von Maßnahmen - unter
anderem zur Förderung der Barrierefreiheit - ist bei der
Prüfung, ob eine grundlegende Umgestaltung vorliegt, im Sinne
eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses Rechnung zu tragen.
Außergewöhnliche Umstände, die eine solche Ausnahme
von der Regel begründen könnten, liegen auf der Grundlage der
Feststellungen des Berufungsgerichts nicht vor. Es lässt sich
auch keine unbillige Benachteiligung eines
Wohnungseigentümers im Sinne von § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 2
WEG feststellen. Mit dem Verbot, einen Wohnungseigentümer
ohne sein Einverständnis gegenüber anderen unbillig zu
benachteiligen, knüpft das Gesetz an die Regelung in § 22
Abs. 2 Satz 1 WEG aF zu den Grenzen der Zulässigkeit von
Modernisierungsmaßnahmen an.
Die von dem
Berufungsgericht insoweit vorgenommene tatrichterliche
Würdigung weist keine Rechtsfehler auf. Hierbei ist auch zu
berücksichtigen, dass Verschattungen- und
Lärmbeeinträchtigungen etwa durch den konkreten Standort der
Aufzugsanlage, durch die Größe sowie die bauliche Gestaltung
des Aufzugs einschließlich der verwendeten Materialien bis zu
einem gewissen Grad noch bei der Entscheidung über die Art
und Weise der Durchführung (§ 20 Abs. 2 Satz 2 WEG) steuerbar
sind.
Verfahren V ZR 33/23 Sachverhalt:
Die Kläger und die Streithelferin der Beklagten sind
Mitglieder der beklagten Gemeinschaft der Wohnungseigentümer.
Die Anlage besteht aus drei miteinander verbundenen Häusern
mit jeweils zwei Wohnungen im Erdgeschoss und zwei weiteren
Wohnungen im ersten Obergeschoss. Im rückwärtigen Teil des
Anwesens befindet sich eine Gartenfläche, an der den
Erdgeschosswohnungen zugewiesene Sondernutzungsrechte
gebildet wurden. Nach der Teilungserklärung dürfen auf den
Gartenflächen Terrassen in der Größe von maximal einem
Drittel der Fläche des jeweiligen Sondernutzungsrechts
errichtet werden. Mit Ausnahme der den beiden Eckwohnungen
zugewiesenen Gartenflächen wurden jeweils gepflasterte
Terrassen errichtet.
Auf Antrag der
Streithelferin, die Sondereigentümerin einer der Eckwohnungen
ist, beschlossen die Wohnungseigentümer in der
Eigentümerversammlung vom 14. Oktober 2021, der
Streithelferin als privilegierte Maßnahme gemäß § 20 Abs. 2
WEG zu gestatten, auf der Rückseite des Gebäudes eine Rampe
als barrierefreien Zugang sowie eine etwa 65 Zentimeter
aufzuschüttende Terrasse zu errichten und das Doppelfenster
im Wohnzimmer durch eine verschließbare Tür zu ersetzen; ggf.
soll ein aus Bodenplatten bestehender Zugang vom Hauseingang
bis zur Terrasse errichtet werden. Hiergegen richtet sich die
von den Klägern erhobene Anfechtungsklage.
Bisheriger Prozessverlauf: Das Amtsgericht hat den Beschluss
für ungültig erklärt. Die Berufung der Beklagten war
erfolglos. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision
will die Streithelferin die Abweisung der Klage erreichen.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die Revision hat Erfolg
gehabt. Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil
aufgehoben und die Anfechtungsklage abgewiesen.
Dabei hat er sich von folgenden Erwägungen leiten lassen:
Beschließen die Wohnungseigentümer die Durchführung oder
Gestattung einer baulichen Veränderung, die ein
Wohnungseigentümer unter Berufung auf § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG
verlangt, hängt die Rechtmäßigkeit des Beschlusses entgegen
der Ansicht des Berufungsgerichts nicht davon ab, ob die
Anspruchsvoraussetzungen des § 20 Abs. 2 WEG im Einzelnen
vorliegen und ob die bauliche Veränderung insbesondere
angemessen ist. Auf diese Voraussetzungen kommt es nur an,
wenn der Individualanspruch des Wohnungseigentümers abgelehnt
worden ist und sich dieser mit einer Anfechtungsklage gegen
den Negativbeschluss wendet und/oder den Anspruch mit der
Beschlussersetzungsklage weiterverfolgt, wie dies in dem
Verfahren V ZR 244/22 der Fall war. Der Gesetzgeber hat durch
das Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetz die Vorschriften
über bauliche Veränderungen in §§ 20, 21 WEG neu gefasst und
grundlegend geändert.
Die Neuregelung
dient unter anderem dem Zweck, den baulichen Zustand von
Wohnungseigentumsanlagen leichter verbessern und an sich
ändernde Gebrauchsbedürfnisse der Wohnungseigentümer anpassen
zu können. Nunmehr können
die Wohnungseigentümer nach § 20 Abs. 1 WEG im Gegensatz zu
der Regelung in § 22 WEG aF Maßnahmen, die über die
ordnungsmäßige Erhaltung des gemeinschaftlichen Eigentums
hinausgehen (bauliche Veränderungen), jeweils mit einfacher
Stimmenmehrheit beschließen. Sie müssen dabei
lediglich die Grenzen des § 20 Abs. 4 Halbs. 1 WEG, die bei
jeder baulichen Veränderung einzuhalten sind, beachten.
Infolgedessen dürfen die Wohnungseigentümer eine bauliche
Veränderung auch dann durch Mehrheitsbeschluss gestatten,
wenn sie die in § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG geregelten
Anspruchsvoraussetzungen im Einzelnen nicht als gegeben
ansehen oder jedenfalls Zweifel hieran hegen.
Da
das Berufungsgericht zu Unrecht auf die Voraussetzungen des §
20 Abs. 2 WEG abgestellt hatte und es keiner weiteren
Feststellungen bedurfte, konnte nunmehr der Bundesgerichtshof
abschließend darüber entscheiden, ob mit der gestatteten
baulichen Veränderung eine grundlegende Umgestaltung der
Wohnanlage im Sinne von § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 1 WEG
verbunden ist. Diese Frage hat er verneint. Nach nunmehr
geltendem Recht ist bei einer Maßnahme, die der
Verwirklichung eines Zweckes i.S.d. § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG
dient, eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage
zumindest typischerweise nicht anzunehmen.
Der von dem Gesetzgeber im
gesamtgesellschaftlichen Interesse erstrebten Privilegierung
bestimmter Kategorien von Maßnahmen - unter anderem zur
Förderung der Barrierefreiheit - ist bei der Prüfung, ob eine
grundlegende Umgestaltung vorliegt, im Sinne eines
Regel-Ausnahme-Verhältnisses Rechnung zu tragen. Da die von
den Wohnungseigentümern hier beschlossene bauliche
Veränderung ihrer Kategorie nach dem Gebrauch durch Menschen
mit Behinderung dient (§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WEG),
bedürfte es besonderer Umstände, um eine grundlegende
Umgestaltung der Wohnanlage anzunehmen. Hieran fehlt es.
Gestattet wird der Streithelferin lediglich die
Errichtung eines untergeordneten Anbaus an ein bestehendes
Gebäude einer Mehrhausanlage, wobei die Errichtung einer
Terrasse schon nach der Teilungserklärung erlaubt ist. Weil
der in der Eigentümerversammlung vom 14. Oktober 2021
gefasste Beschluss auch im Übrigen keine Mängel aufweist,
konnte in der Sache abschließend entschieden und die Klage
abgewiesen werden. Durch
die Gestattung der baulichen Veränderung wird kein
Wohnungseigentümer gegenüber anderen unbillig benachteiligt
i.S.d. § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 2 WEG. Der
Beschluss ist auch hinreichend bestimmt.
Vorinstanzen: V ZR 244/22 AG München - Urteil vom 10. Februar
2022 - 1294 C 13970/21 WEG LG München I - Urteil vom 8.
Dezember 2022 - 36 S 3944/22 WEG V ZR 33/23 AG Bonn - Urteil
vom 15. August 2022 - 211 C 47/21 LG Köln - Urteil vom 26.
Januar 2023 - 29 S 136/22 Die maßgeblichen Vorschriften
lauten: § 20 WEG Bauliche Veränderungen (1) Maßnahmen, die
über die ordnungsmäßige Erhaltung des gemeinschaftlichen
Eigentums hinausgehen (bauliche Veränderungen, können
beschlossen oder einem Wohnungseigentümer durch Beschluss
gestattet werden. (2) Jeder Wohnungseigentümer kann
angemessene bauliche Veränderungen verlangen, die 1. dem
Gebrauch durch Menschen mit Behinderungen, 2. - 4. [...]
dienen.
Über die Durchführung ist im Rahmen
ordnungsmäßiger Verwaltung zu beschließen. (3) Unbeschadet
des Absatzes 2 kann jeder Wohnungseigentümer verlangen, dass
ihm eine bauliche Veränderung gestattet wird, wenn alle
Wohnungseigentümer, deren Rechte durch die bauliche
Veränderung über das bei einem geordneten Zusammenleben
unvermeidliche Maß hinaus beeinträchtigt werden,
einverstanden sind.
(4) Bauliche Veränderungen, die
die Wohnanlage grundlegend umgestalten oder einen
Wohnungseigentümer ohne sein Einverständnis gegenüber anderen
unbillig benachteiligen, dürfen nicht beschlossen und
gestattet werden; sie können auch nicht verlangt werden. § 21
WEG Nutzungen und Kosten bei baulichen Veränderungen (1) Die
Kosten einer baulichen Veränderung, die einem
Wohnungseigentümer gestattet oder die auf sein Verlangen nach
§ 20 Absatz 2 durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer
durchgeführt wurde, hat dieser Wohnungseigentümer zu tragen.
Nur ihm gebühren die Nutzungen. (2) bis (5) […] §
22 WEG aF Besondere Aufwendungen, Wiederaufbau (1) [...] (2)
Maßnahmen gemäß Absatz 1 Satz 1, die der Modernisierung
entsprechend § 555b Nummer 1 bis 5 des Bürgerlichen
Gesetzbuches oder der Anpassung des gemeinschaftlichen
Eigentums an den Stand der Technik dienen, die Eigenart der
Wohnanlage nicht ändern und keinen Wohnungseigentümer
gegenüber anderen unbillig beeinträchtigen, können abweichend
von Absatz 1 durch eine Mehrheit von drei Viertel aller
stimmberechtigten Wohnungseigentümer im Sinne des § 25 Abs. 2
und mehr als der Hälfte aller Miteigentumsanteile beschlossen
werden. […]
Bundesgerichtshof legt Gerichtshof
der Europäischen Union Fragen zur weiteren Klärung des
Begriffs der öffentlichen Wiedergabe vor
Karlsruhe, 8. Februar 2024 - I ZR 34/23 ("Seniorenwohnheim")
und I ZR 35/23 Der unter anderem für das Urheberrecht
zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
hat dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen vorgelegt,
mit denen geklärt werden soll, ob der Betreiber eines
Seniorenwohnheims, der über eine Satellitenempfangsanlage
empfangene Rundfunkprogramme durch ein Kabelnetz an die
Heimbewohner weitersendet, eine öffentliche Wiedergabe
vornimmt.
Sachverhalt: Die Klägerinnen sind
Verwertungsgesellschaften, die die urheberrechtlichen
Nutzungsrechte von Musikurhebern (I ZR 34/23) und
Sendeunternehmen (I ZR 35/23) wahrnehmen. Die Beklagte
betreibt ein Senioren- und Pflegezentrum. In dessen
Pflegebereich wohnen in 88 Einzel- und 3 Doppelzimmern auf
Dauer 89 pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren, die
umfassend pflegerisch versorgt und betreut werden. Zusätzlich
zum Pflegebereich verfügt die Einrichtung über verschiedene
Gemeinschaftsbereiche wie Speisesäle und Aufenthaltsräume.
• Die Beklagte empfängt über
eine eigene Satellitenempfangsanlage Rundfunkprogramme
(Fernsehen und Hörfunk) und sendet diese zeitgleich,
unverändert und vollständig durch ihr Kabelnetz an die
Anschlüsse für Fernsehen und Hörfunk in den Zimmern der
Heimbewohner weiter. Die Klägerinnen sehen in der
Weitersendung der Rundfunkprogramme einen Eingriff in die von
ihnen wahrgenommenen urheberrechtlichen Nutzungsrechte und
haben die Beklagte deshalb - erfolglos - zum Abschluss von
Lizenzverträgen aufgefordert.
• Bisheriger Prozessverlauf:
In beiden Verfahren hat das Landgericht den Klagen
stattgegeben und der Beklagten dem Antrag der Klägerin
entsprechend die Weitersendung der Rundfunkprogramme
untersagt. Auf die Berufung der Beklagten hat das
Oberlandesgericht die Klagen abgewiesen. Die Weitersendung
der Rundfunkprogramme erfülle nicht die Voraussetzungen einer
öffentlichen Wiedergabe, weil sich die Wiedergabe auf den
begrenzten Personenkreis der Bewohner der Einrichtung
beschränke, die - ähnlich den Mitgliedern einer
Wohnungseigentümergemeinschaft - einen strukturell sehr
homogenen und auf dauernden Verbleib in der Einrichtung
ausgerichteten stabilen Personenkreis mit eher niedriger
Fluktuation bildeten.
• Die Gemeinschaftsräume böten
die Möglichkeit zu gemeinsamen Mahlzeiten, persönlichem
Austausch und sozialem Miteinander der Bewohner. Anders als
in einem Hotel oder einer Reha-Einrichtung bestehe durch die
Wahl der Heimeinrichtung als Wohnung für den letzten
Lebensabschnitt zwischen den Bewohnern eine enge
Verbundenheit. Mit ihren Revisionen verfolgen die Klägerinnen
ihre Klageanträge weiter.
• Die Entscheidung des
Bundesgerichtshofs: In dem Verfahren I ZR 34/23 hat der
Bundesgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union drei
Fragen zur Auslegung des in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie
2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des
Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der
Informationsgesellschaft enthaltenen Begriffs der
öffentlichen Wiedergabe vorgelegt.
Zunächst soll
durch den Gerichtshof der Europäischen Union geklärt werden,
ob es sich bei den Bewohnern eines kommerziell betriebenen
Seniorenwohnheims, die in ihren Zimmern über Anschlüsse für
Fernsehen und Hörfunk verfügen, an die der Betreiber des
Seniorenwohnheims über eine eigene Satellitenempfangsanlage
empfangene Rundfunkprogramme zeitgleich, unverändert und
vollständig durch sein Kabelnetz weitersendet, im Sinne der
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum
Begriff der "öffentlichen Wiedergabe" gemäß Art. 3 Abs. 1 der
Richtlinie 2001/29/EG um eine "unbestimmte Anzahl
potentieller Adressaten" (die - wie etwa Gäste eines Hotels
oder Patienten eines Rehabilitationszentrums - eine
Öffentlichkeit bilden können) oder um "besondere Personen,
die einer privaten Gruppe angehören" (die keine
Öffentlichkeit bilden) handelt.
• Fraglich ist außerdem, ob
die bisher vom Gerichtshof der Europäischen Union verwendete
Definition, wonach die Einstufung als "öffentliche
Wiedergabe" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie
2001/29/EG erfordert, dass "die Wiedergabe des geschützten
Werks unter Verwendung eines technischen Verfahrens, das sich
von dem bisher verwendeten unterscheidet (wie hier die
Kabelweitersendung eines über eine Satellitenempfangsanlage
empfangenen Rundfunkprogramms), oder ansonsten für ein neues
Publikum erfolgt, das heißt für ein Publikum, an das der
Inhaber des Urheberrechts nicht gedacht hatte, als er die
ursprüngliche öffentliche Wiedergabe seines Werks erlaubte",
weiterhin allgemeine Gültigkeit hat, oder ob das verwendete
technische Verfahren nur noch in Fällen Bedeutung hat, in
denen eine Weiterübertragung von zunächst terrestrisch,
satelliten- oder kabelgestützt empfangenen Inhalten (anders
als im Streitfall) in das offene Internet stattfindet.
• Ferner ist bislang nicht
eindeutig geklärt, ob es sich um ein "neues Publikum" im
Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union zum Begriff der "öffentlichen Wiedergabe" gemäß Art. 3
Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG handelt, wenn der zu
Erwerbszwecken handelnde Betreiber eines Seniorenwohnheims
über eine eigene Satellitenempfangsanlage empfangene
Rundfunkprogramme zeitgleich, unverändert und vollständig
durch sein Kabelnetz an die vorhandenen Anschlüsse für
Fernsehen und Hörfunk in den Zimmern der Heimbewohner
weitersendet.
• Fraglich ist insbesondere,
ob es für diese Beurteilung von Bedeutung ist, ob die
Bewohner unabhängig von der Kabelsendung die Möglichkeit
haben, die Fernseh- und Rundfunkprogramme in ihren Zimmern
terrestrisch zu empfangen, sowie, ob die Rechtsinhaber
bereits für die Zustimmung zur ursprünglichen Sendung eine
Vergütung erhalten.
• Das Verfahren I ZR 35/23 hat
der Bundesgerichtshof bis zu einer Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union in dem Verfahren I ZR
34/23 ausgesetzt.
Vorinstanzen: I ZR 34/23 LG
Frankenthal - Urteil vom 13. Juli 2022 - 6 O 272/21 OLG
Zweibrücken - Urteil vom 16. März 2023 - 4 U 101/22 und I ZR
35/23 LG Frankenthal - Urteil vom 13. Juli 2022 - 6 O 318/21
OLG Zweibrücken - Urteil vom 16. März 2023 - 4 U 102/22
• Die maßgeblichen
Vorschriften lauten: § 15 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 3 UrhG
Der Urheber hat … das ausschließliche
Recht, sein Werk in unkörperlicher Form öffentlich
wiederzugeben (Recht der öffentlichen Wiedergabe). Das Recht
der öffentlichen Wiedergabe umfasst insbesondere … 3. das
Senderecht § 20 UrhG Das Senderecht ist das Recht, das Werk
durch Funk, wie Ton- und Fernsehrundfunk, Satellitenrundfunk,
Kabelfunk oder ähnliche technische Mittel, der Öffentlichkeit
zugänglich zu machen. § 20b Abs. 1 Satz 1 UrhG Das Recht, ein
gesendetes Werk im Rahmen eines zeitgleich, unverändert und
vollständig weiterübertragenen Programms weiterzusenden
(Weitersendung), kann nur durch eine Verwertungsgesellschaft
geltend gemacht werden. Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2001/29/EG
Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern
das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder
drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke … zu erlauben
oder zu verbieten.
|
Januar 2024 |
Klage der Deutschen Umwelthilfe
zur Fortschreibung des Nationalen Aktionsprogramms zum Schutz
von Gewässern vor Verunreinigung durch Nitrat erfolglos
Münster, 25. Januar 2024 - Die Deutsche Umwelthilfe e. V.
(DUH) hat mit ihrer Klage zur Verpflichtung der
Bundesrepublik Deutschland, den düngebezogenen Teil des
Nationalen Aktionsprogramms zum Schutz von Gewässern vor
Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen
fortzuschreiben, keinen Erfolg. Das hat das
Oberverwaltungsgericht heute entschieden.
Die
europarechtliche Richtlinie 91/676/EWG, die sogenannte
"Nitratrichtlinie", bezweckt die Verringerung und Vorbeugung
von Gewässerverunreinigungen und gibt insbesondere einen
maximalen Nitratwert für das Grundwasser von 50 mg/l vor. Sie
verpflichtet die Mitgliedsstaaten, Aktionsprogramme
aufzustellen, die die Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele
der "Nitratrichtlinie" festlegen. Diese Aktionsprogramme sind
alle vier Jahre fortzuschreiben.
Die DUH begehrte
mit ihrer Klage die Verpflichtung der Bundesrepublik
Deutschland, den düngebezogenen Teil des Nationalen
Aktionsprogramms zum Schutz von Gewässern vor Verunreinigung
durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen
fortzuschreiben. Sie vertrat die Auffassung, dass die
beklagte Bundesrepublik Deutschland ihren Verpflichtungen aus
der "Nitratrichtlinie" nicht nachgekommen sei. Insbesondere
würden die bislang vorgesehenen Pflichtmaßnahmen nicht
entsprechend den besten verfügbaren wissenschaftlichen
Erkenntnissen umgesetzt und es seien keine wirksamen
zusätzlichen Maßnahmen ergriffen worden, um die Ziele der
"Nitratrichtlinie" zu verwirklichen.
Mit ihrer
Klage hatte die DUH keinen Erfolg. Zur Begründung seiner
Entscheidung führte der 20. Senat im Wesentlichen aus: Die
Klage der DUH ist zwar zulässig. So ist die DUH nach den
Regeln des Umweltrechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) klagebefugt.
Die DUH kann auch eine Fortschreibung des Nationalen
Aktionsprogramms zum Gegenstand eines Klageverfahrens machen
- eine im deutschen Recht noch recht neue, dem Europarecht
entstammende Form staatlichen Handelns.
Die Klage hat aber keinen Erfolg,
da die DUH mit ihrem Klagevorbringen nach § 7 Abs. 3 UmwRG
ausgeschlossen (präkludiert) ist. Nach dieser Vorschrift kann
eine Umweltschutzvereinigung wie die DUH in bestimmten
Umweltangelegenheiten - wie hier in Bezug auf das Nationale
Aktionsprogramm - zwar klagen, ist aber im gerichtlichen
Verfahren mit allen Einwendungen ausgeschlossen, die sie
während der Öffentlichkeitsbeteiligung nicht oder nicht
rechtzeitig geltend gemacht hat, aber hätte geltend machen
können.
Diese Bestimmung findet auf die Klage der
DUH Anwendung und ist mit dem nationalen Verfassungsrecht,
mit europarechtlichen Vorgaben und mit dem völkerrechtlichen
"Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die
Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den
Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten", der
sogenannten "Aarhus Konvention", vereinbar.
Die
Voraussetzungen für das Eingreifen dieser Vorschrift liegen
vor, weil sich die DUH zwar gemeinsam mit anderen
Umweltschutzvereinigungen im Rahmen von
Öffentlichkeitsbeteiligungen zu Änderungen des Nationalen
Aktionsprogramms geäußert hat, allerdings nicht so
hinreichend substantiiert und umfangreich, wie es nach den
gesetzlichen Vorgaben erforderlich gewesen wäre.
Da die DUH mit ihrem Klagevorbringen schon ausgeschlossen
ist, hatte das Oberverwaltungsgericht nicht darüber zu
entscheiden, ob das Nationale Aktionsprogramm im Hinblick auf
die "Nitratrichtlinie" aktuell hinreichende Maßnahmen
beinhaltet. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision zum
Bundesverwaltungsgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung
zugelassen.
Aktenzeichen: 20 D 8/19.AK
Die Partei Die Heimat (vormals
NPD) ist für die Dauer von sechs Jahren von der staatlichen
Parteienfinanzierung ausgeschlossen
Bundesverfassungsgericht Karlsruhe, 23. Januar 2024 - Mit
heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Partei Die
Heimat (HEIMAT, vormals: Nationaldemokratische Partei
Deutschlands – NPD) für die Dauer von sechs Jahren von der
staatlichen Finanzierung nach § 18 Parteiengesetz (PartG)
ausgeschlossen ist. Art. 21 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz (GG)
sieht den Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von der
staatlichen Teilfinanzierung vor.
Ausgeschlossen
sind Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer
Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche
demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu
beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu
gefährden. Auf dieser Grundlage beantragten Bundestag,
Bundesrat und Bundesregierung, die Partei Die Heimat von der
staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen.
Die Voraussetzungen eines Finanzierungsausschlusses gemäß
Art. 21 Abs. 3 Satz 1 GG liegen vor: Die Partei Die Heimat
missachtet die freiheitliche demokratische Grundordnung und
ist nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Mitglieder und
Anhänger auf deren Beseitigung ausgerichtet. Sie zielt auf
eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen
an der ethnischen „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten
autoritären Staat.
Ihr politisches Konzept
missachtet die Menschenwürde aller, die der ethnischen
„Volksgemeinschaft“ nicht angehören, und ist zudem mit dem
Demokratieprinzip unvereinbar. Dass die Partei Die Heimat auf
die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen
Grundordnung ausgerichtet ist, wird insbesondere durch ihre
Organisationsstruktur, ihre regelmäßige Teilnahme an Wahlen
und sonstigen Aktivitäten sowie durch ihre Vernetzung mit
nationalen und internationalen Akteuren des
Rechtsradikalismus belegt. Die Entscheidung ist einstimmig
ergangen.
Bundesratspräsidentin Manuela
Schwesig zum NPD/Die Heimat-Urteil des
Bundesverfassungsgerichts: Die Instrumente der wehrhaften
Demokratie wirken Berlin, 23. Januar 2024 - Auf
Antrag von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung hat das
Bundesverfassungsgericht heute die Partei NPD/Die Heimat von
der staatlichen Finanzierung ausgeschlossen.
Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig begrüßt das Urteil:
„Parteien, die sich gegen die Demokratie und unsere
Verfassung wenden, dürfen kein Geld vom Staat erhalten. Dies
hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt.
Das
Urteil zeigt - die Instrumente der wehrhaften Demokratie
wirken und schützen unsere verfassungsrechtliche Ordnung im
Sinne der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Nun muss
geprüft werden, welche Konsequenzen für die AfD gezogen
werden können, die bereits in Teilen als rechtsextrem
eingestuft ist."
Verfassungsfeindlichkeit belegt
Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung konnten in dem
Gerichtsverfahren darlegen, dass die Verfassungsfeindlichkeit
der NPD, die sich bei Identitätswahrung zwischenzeitlich in
„Die Heimat" umbenannt hat, unverändert fortbesteht.
Gemeinsam hatten die drei Verfassungsorgane im Juli 2019
einen Antrag auf Ausschluss der Partei von der staatlichen
Parteienfinanzierung nach Artikel 21 Absatz 3 des
Grundgesetzes beim Bundesverfassungsgericht eingebracht.
Im Zuge des zuvor vom Bundesrat initiierten
Parteienverbotsverfahrens hatte das Bundesverfassungsgericht
im Januar 2017 festgestellt, dass die NPD gegen die
Menschenwürde verstößt, den Kern des Demokratieprinzips
missachtet und eine Wesensverwandtschaft mit dem historischen
Nationalsozialismus aufweist. Mit der Begründung, dass ihr
das Potential fehle, ihre verfassungsfeindlichen Ziele auch
zu verwirklichen, verbot das Gericht die Partei damals jedoch
nicht.
Auch Steuerprivilegien fallen weg
Die NPD hatte nach dem Urteil im Verbotsverfahren 2017 noch
einige Jahre jährlich bis zu sechsstellige Beträge aus
unmittelbarer staatlicher Parteienfinanzierung erhalten und
profitiert bis heute von den damit verbundenen
Steuerprivilegien. Angesichts mangelnder Wahlerfolge sind
diese Zahlungen 2021 ausgelaufen. Jedoch erhält die Partei
vergleichsweise hohe Mitgliedsbeiträge und bis zu 700.000
Euro Spenden pro Jahr sowie Erbschaften, die bisher
vollständig steuerfrei waren. Auch dieses Steuerprivileg ist
mit dem heutigen Tag weggefallen.
Verlegung der Termine zur mündlichen Verhandlung in Sachen
AfD gegen Bundesamt für Verfassungsschutz
Münster, 23. Januar 2024 - Das Oberverwaltungsgericht wird in
den Verfahren der Alternative für Deutschland (AfD) gegen die
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für
Verfassungsschutz (BfV), nicht im Februar, sondern am
12.03.2024 und ggf. am 13.03.2024, beginnend jeweils um 9.00
Uhr, in der Halle des Oberverwaltungsgerichts mündlich
verhandeln. Soweit nach dem Verlauf der mündlichen
Verhandlung möglich, wird der Senat am Ende der letzten
Sitzung eine Entscheidung verkünden.
Mit der
Verlegung der ursprünglich für den 27.02.2024 und ggf.
28.02.2024 angesetzten Termine kommt der Senat einem Antrag
der AfD nach, den diese mit Blick auf umfangreiche Unterlagen
gestellt hat, die das BfV Anfang des Jahres übermittelt hat.
In den drei Berufungsverfahren geht es um die Einstufung der
AfD als Verdachtsfall nach dem Bundesverfassungsschutzgesetz
(Aktenzeichen 5 A 1218/22), die Einstufung des sogenannten
„Flügel“ als Verdachtsfall und als „gesichert extremistische
Bestrebung“ (5 A 1216/22) sowie um die Einstufung der Jungen
Alternative für Deutschland (Junge Alternative) als
Verdachtsfall (5 A 1217/22).
Beim
Verwaltungsgericht Köln hatten die Klagen im März 2022
überwiegend keinen Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht
verhandelt über die Berufungen der AfD und der Jungen
Alternative. Weitere Informationen zum
Akkreditierungsverfahren für Medienvertreter wird das
Oberverwaltungsgericht voraussichtlich Mitte Februar 2024
veröffentlichen. Platzreservierungen für interessierte
Bürgerinnen und Bürger wird es voraussichtlich nicht geben.
Aktenzeichen: 5 A 1216/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K
207/20), 5 A 1217/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 208/20), 5 A
1218/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 326/21)
Bundesgerichtshof entscheidet über Verurteilung wegen
Verstoßes gegen ein Vereinigungsverbot ("Geeinte deutsche
Völker und Stämme") Beschluss vom 14. November
2023 - 3 StR 141/23
Karlsruhe, 23. Januar 2024 - Das
Landgericht Lüneburg hat die Angeklagte mit Urteil vom 22.
November 2022 wegen Verstoßes gegen ein Vereinigungsverbot in
Tateinheit mit Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger
Organisationen, Volksverhetzung und Missbrauch von
Berufsbezeichnungen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren
und sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es unter Verweis
auf die Anklageschrift nicht näher bezeichnete Gegenstände
eingezogen. Das Landgericht hat festgestellt, dass die
Angeklagte 2016 federführend die Organisation "Geeinte
deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) gründete.
In
der Überzeugung, dass die Bundesrepublik Deutschland kein
Staat sei, sondern nur ein "Handelskonstrukt" ohne
"Legitimität", beabsichtigte die Gruppe, ein eigenes
staatliches System auf einem Territorium in den Grenzen des
Deutschen Reichs von 1871 bis 1914 zu errichten. Alle, die
nicht "deutscher Abstammung" sind, sollten entrechtet und
vertrieben werden. Gegen Zahlung von 500 € stellte die GdVuSt
sogenannte Lebendbekundungen aus, durch die Interessenten ihr
beitreten und sich von der Bundesrepublik Deutschland als
Staat lossagen konnten. G
anze geographische
Regionen sollten durch eine von der Vereinigung beurkundete,
ebenfalls gebührenpflichtige "Erhebung naturstaatlicher
Landschaften" Teil der GdVuSt werden können. Im Frühjahr 2020
verbot das Bundesinnenministerium die Organisation sowie die
Nutzung ihrer Kennzeichen wegen Verstoßes gegen die
verfassungsgemäße Ordnung. Gleichwohl setzte die Angeklagte
ihr Wirken als zentrale Führungsfigur der in ihrer
ideologischen Ausrichtung unveränderten GdVuSt fort. Sie
verbreitete die Vereinsideologie auf Veranstaltungen und warb
dafür im Internet unter Nutzung der verbotenen Symbole.
Außerdem stellte sie weiter die genannten Urkunden
aus, wodurch sie im Tatzeitraum wenigstens 80.000 €
vereinnahmte. Als "Generalbevollmächtigte" der GdVuSt
beziehungsweise "Rechtsanwältin Dr. Wonneberger" auftretend,
verfasste und verbreitete die Angeklagte zudem Texte, in
denen sie unter anderem jüdische und muslimische Mitbürger
als "unmoralische, unethische Wesen" bezeichnete und ihnen
ihr Existenzrecht als gleichwertige Personen der deutschen
Gesellschaft absprach. Zuletzt zählte die Gruppe etwa 500
Mitglieder.
Auf Telegram folgten der Angeklagten
über 2.000 Nutzer. Der für Staatsschutzsachen zuständige 3.
Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die hiergegen
gerichtete Revision der Angeklagten verworfen, was den
Schuldspruch angeht. Diesen hat er lediglich sprachlich dahin
präzisiert, dass die Angeklagte den Verstoß gegen das
Vereinigungsverbot "als Rädelsführer" beging. Den
Rechtsfolgenausspruch hat er auf Antrag des
Generalbundesanwalts aufgehoben.
Der
Einziehungsausspruch hat rechtlicher Überprüfung nicht
standgehalten, weil die einzuziehenden Objekte in der
Urteilsformel nicht hinreichend bezeichnet sind, unklar
geblieben ist, ob es sich dabei um der Angeklagten gehörende
oder zustehende Tatmittel handelte, und das Landgericht kein
Ermessen ausgeübt hat. Dieser Rechtsfehler hat sich auch auf
den Strafausspruch ausgewirkt. Über die Einziehung und die
Strafzumessung wird deshalb eine andere Strafkammer des
Landgerichts neu zu entscheiden haben.
Vorinstanz: LG Lüneburg – 21 KLs/5104 Js 40311/21 (13/22) –
Urteil vom 22. November 2022 Maßgebliche Strafvorschriften: §
85 Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot (1) Wer als
Rädelsführer oder Hintermann im räumlichen Geltungsbereich
dieses Gesetzes den organisatorischen Zusammenhalt 1. einer
Partei oder Vereinigung, von der im Verfahren nach § 33 Abs.
3 des Parteiengesetzes unanfechtbar festgestellt ist, dass
sie Ersatzorganisation einer verbotenen Partei ist, oder 2.
einer Vereinigung, die unanfechtbar verboten ist, weil sie
sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den
Gedanken der Völkerverständigung richtet, oder von der
unanfechtbar festgestellt ist, dass sie Ersatzorganisation
einer solchen verbotenen Vereinigung ist, aufrechterhält,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft.
Der Versuch ist strafbar.
(2) Wer sich in einer Partei oder Vereinigung der in Absatz 1
bezeichneten Art als Mitglied betätigt oder wer ihren
organisatorischen Zusammenhalt oder ihre weitere Betätigung
unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
mit Geldstrafe bestraft. (3) § 84 Abs. 4 und 5 gilt
entsprechend. § 86 Verbreiten von Propagandamitteln
verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (1)
Wer Propagandamittel 1. (…) 2. einer Vereinigung,
die unanfechtbar verboten ist, weil sie sich gegen die
verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der
Völkerverständigung richtet, oder von der unanfechtbar
festgestellt ist, dass sie Ersatzorganisation einer solchen
verbotenen Vereinigung ist, 3. (…) 4. (…) im Inland
verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder zur
Verbreitung im Inland oder Ausland herstellt, vorrätig hält,
einführt oder ausführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (…) § 86a Verwenden von
Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer
Organisationen (1)
Mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. im
Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4
oder Absatz 2 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen
verbreitet oder öffentlich, in einer Versammlung oder in
einem von ihm verbreiteten Inhalt (§ 11 Absatz 3) verwendet
oder 2. einen Inhalt (§ 11 Absatz 3), der ein derartiges
Kennzeichen darstellt oder enthält, zur Verbreitung oder
Verwendung im Inland oder Ausland in der in Nummer 1
bezeichneten Art und Weise herstellt, vorrätig hält, einführt
oder ausführt.
(2) Kennzeichen im Sinne des
Absatzes 1 sind namentlich Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke,
Parolen und Grußformen. Den in Satz 1 genannten Kennzeichen
stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.
(...) § 130 Volksverhetzung (1) Wer in einer Weise, die
geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. gegen
eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre
ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der
Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen
Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem
Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder
Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer
dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile
der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen dessen
Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem
Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht
oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten
bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Mit
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird
bestraft, wer 1. einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) verbreitet oder
der Öffentlichkeit zugänglich macht oder einer Person unter
achtzehn Jahren einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) anbietet,
überlässt oder zugänglich macht, der a) zum Hass gegen eine
in Absatz 1 Nummer 1 bezeichnete Gruppe, gegen Teile der
Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen
Zugehörigkeit zu einer in Absatz 1 Nummer 1 bezeichneten
Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung aufstachelt,
b) zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen in Buchstabe a
genannte Personen oder Personenmehrheiten auffordert oder c)
die Menschenwürde von in Buchstabe a genannten Personen oder
Personenmehrheiten dadurch angreift, dass diese beschimpft,
böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden oder 2.
einen in Nummer 1 Buchstabe a bis c bezeichneten Inhalt (§ 11
Absatz 3) herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält,
anbietet, bewirbt oder es unternimmt, diesen ein- oder
auszuführen, um ihn im Sinne der Nummer 1 zu verwenden oder
einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen.
(…)
§ 132a Missbrauch von Titeln,
Berufsbezeichnungen und Abzeichen (1) Wer unbefugt 1.
inländische oder ausländische Amts- oder Dienstbezeichnungen,
akademische Grade, Titel oder öffentliche Würden führt, 2.
die Berufsbezeichnung Arzt, Zahnarzt, Psychologischer
Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut,
Psychotherapeut, Tierarzt, Apotheker, Rechtsanwalt,
Patentanwalt, Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer,
Steuerberater oder Steuerbevollmächtigter führt, (…) wird mit
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe
bestraft. (2) Den in Absatz 1 genannten Bezeichnungen,
akademischen Graden, Titeln, Würden, Uniformen,
Amtskleidungen oder Amtsabzeichen stehen solche gleich, die
ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.
Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung bei Vorbeifahrt an
einem Müllabfuhrfahrzeug Urteil vom 12. Dezember
2023 - VI ZR 77/23
Bundesgerichtshof Karlsruhe, 23.
Januar 2024 - Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über
Ansprüche aus Unfällen zuständige VI. Zivilsenat hat über
einen Fall entschieden, in dem eine Pkw-Fahrerin an einem
Müllabfuhrfahrzeug vorbeifuhr und mit einem gerade entleerten
Müllcontainer kollidierte. Der Senat hat in diesem Fall einen
Verstoß der Fahrerin gegen die Straßenverkehrsordnung bejaht.
Sachverhalt Die Klägerin, ein Pflegedienst,
macht gegen einen für die Abfallwirtschaft zuständigen
kommunalen Zweckverband Schadensersatzansprüche nach einem
Verkehrsunfall geltend, bei dem eines ihrer
Pflegedienstfahrzeuge beschädigt wurde. Eine Mitarbeiterin
der Klägerin fuhr mit diesem Fahrzeug aus der Gegenrichtung
kommend an einem Müllabfuhrfahrzeug des beklagten
Zweckverbandes vorbei, das mit laufendem Motor, laufender
Schüttung und eingeschalteten gelben Rundumleuchten sowie
Warnblinkanlage in der Straße stand. Dabei kam es zu einer
Kollision des klägerischen Fahrzeugs mit einem Müllcontainer,
den ein bei dem Beklagten angestellter Müllwerker hinter dem
Müllabfuhrfahrzeug quer über die Straße schob.
Mit der Klage hat die Klägerin Erstattung der
Fahrzeugreparaturkosten verlangt. Bisheriger Prozessverlauf
Das Landgericht hat der Klage gegen den Beklagten unter
Zugrundelegung einer Haftungsquote von 50 zu 50 teilweise
stattgegeben. Auf die Berufung der Klägerin hat das
Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts teilweise
abgeändert und den Beklagten unter Zugrundelegung einer
Haftungsquote von 75 (Beklagter) zu 25 (Klägerin) zu weiterem
Schadensersatz verurteilt. Es ist dabei davon ausgegangen,
dass der Fahrerin des Pkw kein Verstoß gegen die
Straßenverkehrsordnung anzulasten sei.
Entscheidung des Senats: Die Revision des Beklagten hatte
Erfolg. Das Urteil des Berufungsgerichts wurde aufgehoben und
die Sache an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und
Entscheidung zurückverwiesen. Der Klägerin steht gegen den
Beklagten als Halter des Müllabfuhrfahrzeugs ein
Schadensersatzanspruch aus § 7 StVG zu, da das Fahrzeug der
Klägerin "bei dem Betrieb" des Müllabfuhrfahrzeugs beschädigt
worden ist. Die Gefahr, die von einer gerade entleerten
Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer
ausgeht, ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen.
Bei der Entscheidung über die Haftungsverteilung
hat das Berufungsgericht zu Recht dem Müllwerker einen
schuldhaften Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vorgeworfen, weil
er hinter dem Müllabfuhrfahrzeug einen Müllcontainer quer
über die Straße schob, ohne auf den Verkehr und das Fahrzeug
der Klägerin zu achten, welches für ihn - hätte er den
Müllcontainer nicht vor sich hergeschoben - erkennbar gewesen
wäre.
Allerdings ist entgegen der Ansicht des
Berufungsgerichts auch der Mitarbeiterin der Klägerin als
Fahrerin des Pkw ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung
vorzuwerfen: Das Hauptaugenmerk der mit dem Holen, Entleeren
und Zurückbringen von Müllcontainern befassten Müllwerker ist
auf ihre Arbeit gerichtet, die sie überwiegend auf der Straße
und effizient, das heißt in möglichst kurzer Zeit und auf
möglichst kurzen Wegen, zu erledigen haben. Wer an einem
Müllabfuhrfahrzeug vorbeifährt, das erkennbar im Einsatz ist,
darf daher nicht uneingeschränkt auf ein verkehrsgerechtes
Verhalten der Müllwerker vertrauen.
Er muss damit
rechnen, dass Müllwerker plötzlich vor oder hinter dem
Müllabfuhrfahrzeug hervortreten und unachtsam einige Schritte
weiter in den Verkehrsraum tun, bevor sie sich über den
Verkehr vergewissern. Auf diese typischerweise mit dem
Einsatz von Müllabfuhrfahrzeugen verbundenen Gefahren hat der
vorbeifahrende Verkehrsteilnehmer sein Fahrverhalten
einzurichten. Lässt sich ein ausreichender Seitenabstand zum
Müllabfuhrfahrzeug, durch den die Gefährdung eines plötzlich
vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortretenden
Müllwerkers vermieden werden kann, nicht einhalten, so ist
die Geschwindigkeit gemäß § 1, § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO so weit
zu drosseln, dass der Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug
notfalls sofort zum Stehen bringen kann.
Den
dargelegten Anforderungen genügte die vom Berufungsgericht
festgestellte Fahrweise der Fahrerin des klägerischen
Fahrzeugs nicht. Bei einem Seitenabstand von maximal 50 cm
zum Müllabfuhrfahrzeug war die Ausgangsgeschwindigkeit von 13
km/h zu hoch, als dass die Fahrerin das Fahrzeug notfalls
sofort zum Stehen hätte bringen können.
Vorinstanzen: Landgericht Hannover - Urteil vom 01.08.2022 -
12 O 103/21 Oberlandesgericht Celle - Urteil vom 15.02.2023 -
14 U 111/22 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 1 der
Straßenverkehrs-Ordnung (StVO): Grundregeln (1) Die Teilnahme
am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und
gegenseitige Rücksicht.
(2) Wer am Verkehr
teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer
geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen
unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. § 3 StVO
Geschwindigkeit (1) Wer ein Fahrzeug führt, darf nur so
schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird.
Die Geschwindigkeit ist insbesondere den Straßen-, Verkehrs-,
Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen
Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung
anzupassen….
|
|
|