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Dezember 2024

Bundesgerichtshof bestätigt Rechtmäßigkeit der Zweiten Berliner Mietenbegrenzungsverordnung vom 19. Mai 2020 - VIII ZR 16/23

Karlsruhe, 18. Dezember 2024 - Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass die Verordnung des Landes Berlin vom 19. Mai 2020 zur zulässigen Miethöhe bei Mietbeginn (Zweite Berliner Mietenbegrenzungsverordnung) rechtmäßig ist und insbesondere auf einer verfassungsgemäßen Ermächtigungsgrundlage - der Vorschrift des § 556d Abs. 2 BGB in der seit dem 1. April 2020 geltenden Fassung des Gesetzes zur Verlängerung und Verbesserung der Regelungen über die zulässige Miethöhe bei Mietbeginn vom 19. März 2020 - beruht.

Sachverhalt und Verfahrensgang:
Die Kläger sind seit September 2015 Mieter einer Wohnung der Beklagten in Berlin.
Die Wohnung unterlag zunächst aufgrund der durch Rechtsverordnung des Senats von Berlin vom 28. April 2015 (Erste Berliner Mietenbegrenzungsverordnung) mit Wirkung bis zum 31. Mai 2020 erfolgten Ausweisung der gesamten Stadt als Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt den Vorschriften der §§ 556d ff. BGB zur Begrenzung der Miethöhe bei der Wiedervermietung (sogenannte Mietpreisbremse) in der Fassung des Mietrechtsnovellierungsgesetzes vom 21. April 2015.

Am 19. Mai 2020 erließ der Senat von Berlin - nunmehr gestützt auf die Vorschrift des § 556d Abs. 2 BGB in der durch das Gesetz vom 1. April 2020 verlängerten Fassung - die Zweite Berliner Mietenbegrenzungsverordnung, die zum 1. Juni 2020 in Kraft trat und mit Wirkung bis zum 31. Mai 2025 erneut die gesamte Stadt als Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt ausweist.

Die Kläger sind der Ansicht, die in ihrem Mietvertrag für den Zeitraum von Januar bis September 2022 vereinbarte Mietstaffel, welche eine Nettokaltmiete von monatlich 1.931 € vorsieht, verstoße gegen die vorgenannten Vorschriften zur Mietpreisbremse. Sie begehren unter anderem die Feststellung, dass sich die von ihnen in diesem Zeitraum geschuldete Nettokaltmiete - entsprechend der bei Beendigung des Vormietverhältnisses geltenden Mietstaffel - lediglich auf monatlich 1.280 € belaufe.

Die Beklagte hält hingegen die Vorschriften zur Mietpreisbremse in der verlängerten Fassung für verfassungswidrig und die hierauf gestützte Zweite Berliner Mietenbegrenzungsverordnung für unwirksam. Jedenfalls sei aber bei Anwendung dieser Vorschriften zur Bestimmung der höchstzulässigen Miete auf die von ihr mit dem Vormieter für denselben Zeitraum vereinbarte - höhere - Mietstaffel abzustellen, auch wenn diese wegen der Beendigung des Vormietverhältnisses nicht mehr zur Geltung gelangt sei.

Die Klage hatte insoweit vor dem Amtsgericht Erfolg. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht insoweit zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiter.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Die Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg. Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die zulässige Höhe der von den Parteien vereinbarten Mietstaffel (auch) in dem vom Feststellungsbegehren umfassten Zeitraum anhand der (verlängerten) Vorschriften zur Mietpreisbremse zu beurteilen ist und die von den Klägern danach geschuldete Nettokaltmiete - weil es gemäß § 556e Abs. 1 Satz 1 BGB auf die bei Beendigung des Vormietverhältnisses geltende Höhe der Mietstaffel ankommt - nicht mehr als monatlich 1.280 € betrug.

Die gesetzlichen Vorschriften zur Begrenzung der Wiedervermietungsmiete in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt (§§ 556d ff. BGB) - und damit die vom Senat von Berlin für den Erlass der Zweiten Berliner Mietenbegrenzungsverordnung herangezogene Ermächtigungsgrundlage des § 556d Abs. 2 BGB - genügen auch in der seit dem 1. April 2020 geltenden verlängerten Fassung den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

Insbesondere verstoßen sie nicht gegen die in Art. 14 Abs. 1 GG verbürgte Eigentumsgarantie, sondern erweisen sich als zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, die durch Gründe des öffentlichen Interesses unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gerechtfertigt ist.

Der Gesetzgeber verfolgt mit der gesetzlichen Miethöhenregulierung (weiterhin) ein legitimes, im öffentlichen Interesse liegendes Regelungsziel, nämlich auf angespannten Wohnungsmärkten dem überdurchschnittlich starken Anstieg der Mieten bei der Wiedervermietung von Bestandswohnungen entgegenzuwirken und hierdurch den Zugang der Bevölkerung zu bezahlbaren Mietwohnungen in ihrem bisherigen Wohnviertel zu sichern.

Die gesetzliche Regelung ist zur Erreichung dieses Ziels auch (weiterhin) geeignet und erforderlich. Insoweit verfügt der Gesetzgeber über einen (weiten) Beurteilungs- und Prognosespielraum. Aus den von ihm herangezogenen Untersuchungen ergibt sich, dass die für die Einführung der gesetzlichen Miethöhenregulierung maßgebliche Ausgangslage im Wesentlichen fortbesteht und sich die angespannte Lage in vielen Gebieten bislang noch nicht (ausreichend) deutlich gebessert hat, wenngleich durch die Miethöhenregulierung eine Verlangsamung der Mietdynamik erreicht wurde. Ein anderes gleichwertiges, zweifelsfrei - auch kurzfristig - vergleichbar wirksames (milderes) Mittel, mit dem die weiterhin angestrebte rasche Verlangsamung des Anstiegs der Wiedervermietungsmieten bis zum Wirksamwerden der regelmäßig erst mittel- bis langfristig wirkenden wohnungsmarktpolitischen Maßnahmen erreicht werden könnte, ist nicht ersichtlich.

Die in der geänderten Verordnungsermächtigung gemäß § 556d Abs. 2 BGB vorgesehene Verlängerung der gesetzlichen Miethöhenregulierung bis längstens zum 31. Dezember 2025 stellt auch eine im Verhältnis zu dem angestrebten Zweck angemessene Maßnahme dar. Der Gesetzgeber hat die Grenzen des ihm insoweit zustehenden Gestaltungsspielraums nicht überschritten. Das Regelungskonzept der §§ 556d ff. BGB einschließlich der dort vorgesehenen Ausnahmen trägt auch den Interessen der Vermieter hinreichend Rechnung. Insbesondere kann trotz der fortschreitenden Geltungsdauer nicht festgestellt werden, dass die vom Vermieter nach den §§ 556d ff. BGB erzielbare Wiedervermietungsmiete einen hinreichenden Marktbezug nicht mehr aufweisen würde.

Die Verlängerung der Geltung der Vorschriften zur Mietpreisbremse wahrt zudem die Grenze der Zumutbarkeit und begegnet auch im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere konnten Vermieter nicht davon ausgehen, dass die mit dem Mietrechtsnovellierungsgesetz eingeführten Regelungen zur Begrenzung der Wiedervermietungshöhe mit dem Auslaufen der zeitlichen Geltungsdauer der jeweiligen Landesverordnung entfallen und damit künftig Neuabschlüsse von Mietverträgen beziehungsweise künftig fällig werdende Mietstaffeln in bestehenden Mietverträgen einer gesetzlichen Miethöhenregulierung nicht mehr unterliegen würden.

Die auf der nach alledem verfassungsgemäßen Ermächtigungsgrundlage des § 556d Abs. 2 BGB erlassene Zweite Berliner Mietenbegrenzungsverordnung hält sich im Rahmen des dem Senat von Berlin von der gesetzlichen Ermächtigung eingeräumten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums und genügt ihrerseits den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Insbesondere ist sie in einer den Anforderungen des § 556d Abs. 2 Satz 5 bis 7 BGB entsprechenden Art und Weise begründet.

Vorinstanzen:
AG Mitte - 21 C 261/21 - Urteil vom 30. Juni 2022
LG Berlin - 67 S 180/22 - Urteil vom 15. Dezember 2022 (veröffentlicht in WuM 2023, 208)
Die maßgeblichen Vorschriften lauten:
Bürgerliches Gesetzbuch
§ 556d Zulässige Miethöhe bei Mietbeginn; Verordnungsermächtigung

(1) Wird ein Mietvertrag über Wohnraum abgeschlossen, der in einem durch Rechtsverordnung nach Absatz 2 bestimmten Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt liegt, so darf die Miete zu Beginn des Mietverhältnisses die ortsübliche Vergleichsmiete (§ 558 Absatz 2) höchstens um 10 Prozent übersteigen.

(2) Die Landesregierungen werden ermächtigt, Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten durch Rechtsverordnung für die Dauer von jeweils höchstens fünf Jahren zu bestimmen. Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten liegen vor, wenn die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen in einer Gemeinde oder einem Teil der Gemeinde zu angemessenen Bedingungen besonders gefährdet ist. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn

1. die Mieten deutlich stärker steigen als im bundesweiten Durchschnitt,

2. die durchschnittliche Mietbelastung der Haushalte den bundesweiten Durchschnitt deutlich übersteigt,

3. die Wohnbevölkerung wächst, ohne dass durch Neubautätigkeit insoweit erforderlicher Wohnraum geschaffen wird, oder

4. geringer Leerstand bei großer Nachfrage besteht.

Eine Rechtsverordnung nach Satz 1 muss spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 2025 außer Kraft treten. Sie muss begründet werden. Aus der Begründung muss sich ergeben, auf Grund welcher Tatsachen ein Gebiet mit einem angespannten Wohnungsmarkt im Einzelfall vorliegt. Ferner muss sich aus der Begründung ergeben, welche Maßnahmen die Landesregierung in dem nach Satz 1 durch die Rechtsverordnung jeweils bestimmten Gebiet und Zeitraum ergreifen wird, um Abhilfe zu schaffen.

§ 556e Berücksichtigung der Vormiete oder einer durchgeführten Modernisierung
(1) Ist die Miete, die der vorherige Mieter zuletzt schuldete (Vormiete), höher als die nach § 556d Absatz 1 zulässige Miete, so darf eine Miete bis zur Höhe der Vormiete vereinbart werden. […]

§ 557a Staffelmiete
[…]
(4) Die §§ 556d bis 556g sind auf jede Mietstaffel anzuwenden. […]
Grundgesetz
Artikel 14 [Eigentum, Erbrecht und Enteignung]
(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.
(2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen. […]



Geschwisterregelungen beim Elternbeitrag gelten auch für Halbgeschwister
Oberverwaltungsgericht Münster, 12. Dezember 2024 - Besuchen Halbgeschwister, die mit dem gemeinsamen Elternteil zusammenleben, gleichzeitig im Stadtgebiet Kindertageseinrichtungen, sind bei der Festsetzung von Elternbeiträgen hierfür satzungsrechtliche Geschwisterermäßigungen oder -befreiungen zu berücksichtigen; dies gilt unabhängig davon, ob die Halbgeschwister neben dem gemeinsamen Elternteil auch mit dem anderen Elternteil des einen Kindes in häuslicher Gemeinschaft zusammenleben.


Das hat das Oberverwaltungsgericht durch heute bekanntgegebenes Urteil vom 27. November 2024 entschieden und damit eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Arnsberg geändert. Die gemeinsame, im Juli 2019 geborene Tochter der Kläger nahm im Schuljahr 2021/2022 das Betreuungsangebot einer Kindertageseinrichtung in der beklagten Stadt Witten wahr.


Mit ihr und ihren Eltern lebte seinerzeit ein weiteres von der Klägerin, nicht aber vom Kläger abstammendes Kind in der gemeinsamen Wohnung, das dieselbe Kindertageseinrichtung besuchte, wofür wegen Vollendung des vierten Lebensjahres aufgrund einer landesrechtlichen Bestimmung kein Elternbeitrag zu leisten war. Die Stadt setzte gegenüber den Klägern auf Basis ihres gemeinsamen Jahreseinkommens einen monatlichen Elternbeitrag in Höhe von 313 Euro fest.


Hiergegen wandten sich die Kläger und beriefen sich auf eine Vorschrift der Elternbeitragssatzung (im Folgenden nur: Satzung) der beklagten Stadt. Danach entfällt bei Eingreifen einer landesrechtlich - für die letzte Zeit in Tagesbetreuung vor der Einschulung - im Kinderbildungsgesetz (KiBiz) angeordneten Beitragsbefreiung "auch der Beitrag für das zweite und jedes weitere Kind".


Diese Regelung folgt auf eine in sonstigen Fällen maßgebliche "Geschwisterregelung" in der Satzung, wonach "nur ein Beitrag zu leisten" ist, wenn "aus einer Familie […] mehr als ein Kind Betreuungsangebote […] in Anspruch" nimmt. Die auf Aufhebung der Beitragsfestsetzung gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Arnsberg ab. Die dagegen eingelegte Berufung der Kläger hatte vor dem Oberverwaltungsgericht Erfolg.


Der 12. Senat hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen angeführt: Das gemeinsame Kind der Kläger ist als weiteres Kind der Familie im Sinne der Geschwisterregelungen in der Satzung zu berücksichtigen. Die Gemeinschaft zweier leiblicher Kinder derselben Mutter mit dieser und deren neuem Partner, der Vater nur eines der beiden Kinder ist, ist bereits unter Zugrundelegung eines verfassungsrechtlichen Begriffsverständnisses als eine Familie anzusehen.


Ein anderes Verständnis des Familien- bzw. Geschwisterbegriffs lässt sich weder der städtischen Satzung noch höherrangigem Recht entnehmen. Die auf einer Ermächtigung des Landesgesetzgebers beruhende allgemeine Geschwisterregelung in der Satzung - bei mehreren Kindern nur ein Elternbeitrag - entspricht im Kern einer früheren landesgesetzlichen Regelung. Dieser lag allgemein eine Entlastung von Familien mit mehreren Kindern zugrunde, ohne dass etwa nach Voll- oder Halbgeschwistern unterschieden wurde.


Bei dem Umstand, dass mehrere mit einem oder beiden Elternteilen in einem Haushalt zusammenlebende Kinder Angebote der Tagesbetreuung in Anspruch nehmen, für die jedenfalls der gemeinsame Elternteil grundsätzlich beitragspflichtig wäre, handelt es sich um einen Gesichtspunkt der sozialen Staffelung der Kostenbeiträge.


Diese ist sowohl im Bundes- als auch im Landesrecht angelegt und ermöglicht neben der - mit dem Einkommen korrespondierenden - wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Beitragspflichtigen auch die Berücksichtigung anderer Aspekte wie der Zahl der im gemeinsamen Haushalt lebenden und in Kindertageseinrichtungen zu betreuenden Kinder. Vor diesem Hintergrund kommt eine Differenzierung danach, dass beide Kläger für das mit ihnen zusammenlebende gemeinsame Kind beitragspflichtig sind, während das ältere Kind allein von der Klägerin abstammt und nur diese insoweit beitragspflichtig sein kann, nicht in Betracht.


Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen kann Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden. Aktenzeichen: 12 A 1627/22 (I. Instanz: VG Arnsberg 9 K 3249/21)


Bundesgerichtshof entscheidet zur Höhe des angemessenen Selbstbehalts beim Elternunterhalt
- Beschluss vom 23. Oktober 2024 - XII ZB 6/24
Karlsruhe, 4. Dezember 2024 - Der unter anderem für das Familienrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat sich erneut mit der Frage befasst, in welchem Umfang Kinder im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit (§ 1603 Abs. 1 BGB) zu Unterhaltsleistungen für ihre Eltern herangezogen werden können.

Sachverhalt:
Der Antragsteller ist Sozialhilfeträger. Er nimmt den Antragsgegner aus übergegangenem Recht für den Zeitraum von Juli bis Dezember 2020 auf Elternunterhalt für dessen pflegebedürftige Mutter in Anspruch. Die 1940 geborene Mutter lebt in einer vollstationären Pflegeeinrichtung und kann die Kosten ihrer Heimunterbringung mit ihrer Sozialversicherungsrente und den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung nicht vollständig decken.

Der Antragsteller erbrachte für sie im genannten Zeitraum Sozialhilfeleistungen in monatlicher Höhe von rund 1.500 €. Der Antragsgegner ist verheiratet und bewohnte im fraglichen Zeitraum mit seiner nicht erwerbstätigen Ehefrau und zwei volljährigen Kindern ein den Ehegatten gehörendes Einfamilienhaus. Das Jahresbruttoeinkommen des Antragsgegners belief sich im Jahr 2020 auf gut 133.000 €.

Bisheriger Verfahrensverlauf:
Das Amtsgericht hat den auf Zahlung von 7.126 € gerichteten Antrag zurückgewiesen. Die Beschwerde des Antragstellers ist vor dem Oberlandesgericht ohne Erfolg geblieben. Das Oberlandesgericht hat das Bruttoeinkommen des Antragsgegners um Steuern und Sozialabgaben, Unterhaltspflichten für eines der volljährigen Kinder, berufsbedingte Aufwendungen, Versicherungen sowie Altersvorsorgeaufwendungen bereinigt und die unterhaltsrelevanten Nettoeinkünfte des Antragsgegners mit Monatsbeträgen zwischen 5.451 € und 6.205 € ermittelt.


Auf dieser Grundlage hat es den Antragsgegner für nicht leistungsfähig gehalten. Denn der Mindestselbstbehalt beim Elternunterhalt müsse sich nun mit Blick auf § 94 Abs. 1a Satz 1 und 2 SGB XII an dem Nettobetrag orientieren, der sich überschlägig aus einem Jahresbruttoeinkommen von 100.000 € nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben errechnen lasse, so dass ein Mindestselbsthalt von 5.000 € für Alleinstehende und ein Familienmindestselbstbehalt von 9.000 € für Verheiratete als angemessen anzusehen sei.

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der Bundesgerichtshof hat die angefochtene Entscheidung auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Die vom Oberlandesgericht für angemessen erachtete Ausrichtung des Mindestselbstbehalts an der Einkommensgrenze des durch das Angehörigen-Entlastungsgesetz vom 10. Dezember 2019 eingeführten § 94 Abs. 1a SGB XII beruht auf einem unterhaltsrechtlich systemfremden Bemessungsansatz, der rechtsfehlerhaft ist und in dieser Form auch nicht mit gesetzlichen Wertungen gerechtfertigt werden kann.

Nach § 94 Abs. 1a Satz 1 und 2 SGB XII ist der Anspruchsübergang auf Sozialhilfeträger gegenüber solchen Kindern ausgeschlossen, deren steuerrechtliches Jahresbruttoeinkommen 100.000 € nicht überschreitet. Der Gesetzgeber hat bewusst darauf verzichtet, die bürgerlich-rechtlichen Unterhaltspflichten der Kinder gegenüber ihren hilfebedürftig gewordenen Eltern zu ändern. Der Umfang der sozialhilferechtlichen Rückgriffsmöglichkeiten kann grundsätzlich nicht für den Umfang der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht maßgeblich sein.

Denn der Regress (und der Verzicht darauf) knüpfen gerade an das Bestehen eines bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsanspruchs an. Dem Angehörigen-Entlastungsgesetz kann deshalb keine gesetzgeberische Wertung entnommen werden, die gebieten würde, den unterhaltspflichtigen Kindern Freibeträge zu gewähren, mit denen der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch der Eltern gegenüber Kindern mit einem Jahresbruttoeinkommen von 100.000 € schon im Vorfeld des Regressverzichts regelmäßig an der mangelnden unterhaltsrechtlichen Leistungsfähigkeit scheitern müsste.

Überschreitet das unterhaltspflichtige Kind die Jahreseinkommensgrenze des § 94 Abs. 1a Satz 1 SGB XII, gehen nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut die gesamten Unterhaltsansprüche des Elternteils nach § 94 Abs. 1 SGB XII auf den Sozialhilfeträger über (und nicht nur der Teil, der sich auf das über 100.000 € liegende Einkommen bezieht). Hätte der Gesetzgeber etwas anderes gewollt, hätte er dies anordnen können, wovon er aber abgesehen hat.


Der vom Oberlandesgericht für angemessen angesehene Mindestselbstbehalt von 5.000 € für Alleinlebende bzw. von 9.000 € für Verheiratete würde schon allein wegen der großzügigen unterhaltsrechtlichen Maßstäbe bei der Vorwegbereinigung des Nettoeinkommens um Altersvorsorgeaufwendungen des unterhaltspflichtigen Kindes faktisch zu einer ganz erheblichen und so ersichtlich nicht intendierten Erhöhung der den Unterhaltsrückgriff ausschließenden Jahreseinkommensgrenze von 100.000 € führen.

Jeder Einkommensgrenze ist immanent, dass die Normadressaten, die sie (knapp) verfehlen, dadurch von einer gewissen Härte betroffen sind. Eine darüberhinausgehende Härte beim Unterhaltsrückgriff auf besonders gutverdienende Kinder hat der Bundesgerichtshof auch in den sogenannten Geschwisterfällen verneint.

Für das weitere Verfahren hat der Bundesgerichtshof zum einen klargestellt, dass die in den Leitlinien einiger Oberlandesgerichte über das Jahr 2020 hinaus fortgeschriebenen Mindestselbsthalte - zuletzt 2.650 € für das Jahr 2024 - derzeit keinen rechtlichen Bedenken begegnen.

An der vom Gesetzgeber durch das Angehörigen-Entlastungsgesetz geschaffenen Rechtslage muss auch das Unterhaltsrecht nicht vollständig vorbeigehen, so dass es künftig aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden sein dürfte, wenn dem unterhaltspflichtigen Kind nach Inkrafttreten des Angehörigen-Entlastungsgesetzes ein über die Hälfte hinausgehender Anteil - etwa 70 % - des seinen Mindestselbstbehalt übersteigenden bereinigten Einkommens zusätzlich belassen wird.

Vorinstanzen:
OLG Düsseldorf - Beschluss vom 4. Dezember 2023 - 3 UF 78/23
AG Rheinberg - Beschluss vom 4. April 2023 - 9a F 76/22
Die maßgeblichen Vorschriften lauten:
§ 1603 BGB:
(1) Unterhaltspflichtig ist nicht, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. (…)
§ 1606 BGB:
(3) 1Mehrere gleich nahe Verwandte haften anteilig nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen. (…)
§ 94 SGB XII

November 2024
Bundesgerichtshof erklärt Online-Eheschließung für unwirksam
Beschluss vom 25. September 2024 - XII ZB 244/22
Karlsruhe, 27. November 2024 - Der unter anderem für das Familienrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat über die Wirksamkeit einer von Deutschland aus per Videotelefonie vor einem Standesbeamten in Utah/USA geschlossenen Ehe entschieden.


Sachverhalt: Die Antragsteller des Personenstandsverfahrens sind nigerianische Staatsangehörige mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland. Sie schlossen im Mai 2021 per Videotelefonie die Ehe vor einer Behörde in Utah/USA. Während der Eheschließung befanden sich beide Antragsteller in Deutschland und gaben ihre Erklärungen im Wege der zeitgleichen Übertragung in Bild und Ton gegenüber der Behörde in Utah ab. Sie erhielten anschließend eine amerikanische Eheurkunde mit Apostille.


Nachdem die Eheschließung von einer deutschen Meldebehörde nicht als wirksam angesehen wurde, haben die Antragsteller die beabsichtigte (erneute) Eheschließung beim zuständigen Standesamt angemeldet. Das Standesamt hat eine Zweifelsvorlage beim Amtsgericht eingereicht mit der Frage, ob die Eheschließung in Utah einer erneuten Eheschließung in Deutschland entgegensteht.


Bisheriger Verfahrensverlauf: Das Amtsgericht hat das Standesamt angewiesen, die Anmeldung zur Eheschließung nicht mit der Begründung zurückzuweisen, dass die Antragsteller die Ehe in Utah geschlossen haben. Denn diese Eheschließung sei unwirksam. Das Oberlandesgericht hat die Beschwerde der Standesamtsaufsicht zurückgewiesen. Hiergegen hat sich die Standesamtsaufsicht mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde gewendet.


Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung des Oberlandesgerichts bestätigt. Gemäß Art. 13 Abs. 4 Satz 1 EGBGB kann eine (verschiedengeschlechtliche) Ehe im Inland nur in der hier vorgeschriebenen Form geschlossen werden. Danach müssen die Erklärungen der Eheschließenden vor dem Standesbeamten persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit abgegeben werden. Findet die Eheschließung dagegen im Ausland statt, kann das gegebenenfalls weniger strenge Recht des Eheschließungsorts angewendet werden.


Für die Eheschließung steht nach deutschem Rechtsverständnis der Konsens der Eheschließenden im Mittelpunkt. Daher ist auf den Ort der Abgabe der Eheschließungserklärungen abzustellen. Es genügt, dass eine der Erklärungen in Deutschland abgegeben wurde, weil damit ein wesentlicher Teil der Eheschließung im Inland verwirklicht wurde. Der hiervon abweichende Ort des Zugangs der Eheschließungserklärungen oder der ausländische Sitz des Trauungsorgans, an das die Erklärungen übermittelt werden, führen zu keiner anderen rechtlichen Bewertung.


Die Missachtung der gesetzlich vorgeschriebenen Inlandsform hat zur Folge, dass die Online-Eheschließung vor der ausländischen Behörde im Inland unwirksam ist. Da hier die Eheschließungserklärungen in Deutschland abgegeben wurden, hätte die nach inländischem Recht vorgeschriebene Form eingehalten werden müssen. Das war nicht der Fall, so dass die unwirksame Eheschließung der jetzt angemeldeten rechtlich nicht entgegensteht.

Vorinstanzen: AG Köln - Beschluss vom 30. Dezember 2021 - 378 III 248/21 OLG Köln - Beschluss vom 8. März 2022 - 26 Wx 3/22 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: Art. 13 EGBGB:


Bundesgerichtshof zur Haftung des Betreibers einer Waschanlage
Urteil vom 21. November 2024 - VII ZR 39/24
Karlsruhe, 21. November 2024 - Der unter anderem für das Werkvertragsrecht zuständige VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat über die Haftung des Betreibers einer Autowaschanlage für einen Fahrzeugschaden entschieden.


Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf
Der Kläger verlangt Schadensersatz wegen der Beschädigung seines Fahrzeugs in einer von der Beklagten betriebenen Autowaschanlage, einer sogenannten Portalwaschanlage. In der Waschanlage befindet sich ein Hinweisschild, das auszugsweise wie folgt lautet: "Allgemeine Geschäftsbedingungen Autowaschanlagen/Portalwaschanlagen Die Reinigung der Fahrzeuge in der Waschanlage erfolgt unter Zugrundelegung der nachfolgenden Bedingungen: (…).


Die Haftung des Anlagenbetreibers entfällt insbesondere dann, wenn ein Schaden durch nicht ordnungsgemäß befestigte Fahrzeugteile oder durch nicht zur Serienausstattung des Fahrzeugs gehörende Fahrzeugteile (z.B. Spoiler, Antenne, Zierleisten o.ä.) sowie dadurch verursachte Lackkratzer verursacht worden ist, außer den Waschanlagenbetreiber oder sein Personal trifft grobe Fahrlässigkeit oder Vorsatz."

 Unter diesem Hinweisschild befindet sich ein Zettel mit der Aufschrift: "Achtung Keine Haftung für Anbauteile und Heckspoiler!".


Der Kläger fuhr Ende Juli 2021 mit seinem Pkw der Marke Land Rover in die Waschanlage ein, stellte das Fahrzeug ordnungsgemäß ab, verließ die Waschhalle und startete den Waschvorgang. Während des Waschvorgangs wurde der zur serienmäßigen Fahrzeugausstattung gehörende, an der hinteren Dachkante angebrachte Heckspoiler abgerissen, wodurch das Fahrzeug beschädigt wurde.


Deswegen verlangt der Kläger von der Beklagten Schadensersatz in Höhe von insgesamt 3.219,31 €, eine Nutzungsausfallentschädigung (119 €) für den Tag der Fahrzeugreparatur sowie die Freistellung von Rechtsanwaltskosten. Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landgericht die Klage abgewiesen.


 Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die Revision des Klägers war erfolgreich. Sie führte zur Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils. Dem Kläger steht wegen der Beschädigung seines Fahrzeugs gegen die Beklagte ein vertraglicher Schadensersatzanspruch in der geltend gemachten Höhe zu. Der Vertrag über die Reinigung eines Fahrzeugs umfasst als Nebenpflicht die Schutzpflicht des Waschanlagenbetreibers, das Fahrzeug des Kunden vor Beschädigungen beim Waschvorgang zu bewahren.


Geschuldet sind diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Anlagenbetreiber für notwendig und ausreichend halten darf, um andere vor Schäden zu bewahren. Hierbei trägt grundsätzlich der Gläubiger die Beweislast dafür, dass der Schuldner eine ihm obliegende Pflicht verletzt und diese Pflichtverletzung den Schaden verursacht hat.


Abweichend davon hat sich allerdings der Schädiger nicht nur hinsichtlich seines Verschuldens zu entlasten, sondern muss er auch darlegen und gegebenenfalls beweisen, dass ihn keine Pflichtverletzung trifft, wenn die für den Schaden in Betracht kommenden Ursachen allein in seinem Obhuts- und Gefahrenbereich liegen. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Die Ursache für die Beschädigung des klägerischen Fahrzeugs liegt allein im Obhuts- und Gefahrenbereich der Beklagten.


Nach den außer Streit stehenden Feststellungen des Berufungsgerichts kam es zu der Beschädigung, weil die Waschanlage konstruktionsbedingt nicht für das serienmäßig mit einem Heckspoiler ausgestattete Fahrzeug des Klägers geeignet war. Das Risiko, dass eine Autowaschanlage für ein marktgängiges Fahrzeug wie dasjenige des Klägers mit einer serienmäßigen Ausstattung wie dem betroffenen Heckspoiler konstruktionsbedingt nicht geeignet ist, fällt in den Obhuts- und Gefahrenbereich des Anlagenbetreibers.


Daneben kommt keine aus dem Obhuts- und Gefahrenbereich des Klägers stammende Ursache für den Schaden in Betracht. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war das Fahrzeug des Klägers vor dem Einfahren in die Waschanlage unbeschädigt und der serienmäßige Heckspoiler ordnungsgemäß angebracht sowie fest mit dem Fahrzeug verbunden.


Der Kläger, dem mit seinem marktgängigen, serienmäßig ausgestatteten und in ordnungsgemäßem Zustand befindlichen Fahrzeug von der Beklagten als Betreiberin die Nutzung der Waschanlage eröffnet wurde, konnte berechtigt darauf vertrauen, dass sein Fahrzeug so, wie es ist, also mitsamt den serienmäßig außen angebrachten Teilen, unbeschädigt aus dem Waschvorgang hervorgehen werde.

Dieses Vertrauen war insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Risikobeherrschung gerechtfertigt, weil nur der Anlagenbetreiber Schadensprävention betreiben kann, wohingegen der Kunde regelmäßig sein Fahrzeug der Obhut des Betreibers überantwortet, ohne die weiteren Vorgänge selbst beeinflussen zu können.


Anders als der Betreiber, der es in der Hand hat, bestimmte Fahrzeugmodelle, die er für schadensanfällig hält, von der Benutzung seiner Anlage auszuschließen und dadurch das Risiko einer Beschädigung zu verringern, ist es dem Kunden regelmäßig nicht möglich, solche Waschanlagen von vornherein zu identifizieren und zu meiden, die konstruktionsbedingt nicht geeignet sind, sein Fahrzeug ohne ein erhöhtes Schadensrisiko zu reinigen.


Die hiernach gegen sie streitende Vermutung der Pflichtverletzung hat die Beklagte nicht widerlegt und den ihr obliegenden Nachweis fehlenden Verschuldens nicht geführt. Ihr Vortrag, die Gefahr der Schädigung des serienmäßig angebrachten Heckspoilers sei ihr nicht bekannt gewesen, weil sich ein solcher Vorfall bislang in der Waschanlage nicht ereignet habe, sie habe diese Gefahr auch nicht kennen müssen und hierfür keine konkreten Anhaltspunkte gehabt, eine hypothetische Erkundigung hätte zudem an dem konkreten Schadensereignis nichts geändert, genügt zu ihrer Entlastung nicht.


Es fehlt schon an der Darlegung, ob die Beklagte - die sich ausweislich der in der Waschanlage angebrachten Schilder der Gefahr einer Beschädigung insbesondere von Heckspoilern grundsätzlich bewusst war - sich darüber informiert hat, für welche Fahrzeuge ihre Anlage konstruktionsbedingt ungeeignet ist und daher ein erhöhtes Schadensrisiko besteht. Ebenso wenig ist dargetan, dass sie keine Informationen bekommen hätte, auf deren Grundlage die Beschädigung des klägerischen Fahrzeugs vermieden worden wäre.


Die Beklagte hat sich ferner nicht durch einen ausreichenden Hinweis auf die mit dem Waschvorgang verbundenen Gefahren entlastet. Das in der Waschanlage angebrachte, mit "Allgemeine Geschäftsbedingungen Autowaschanlagen/Portalwaschanlagen" überschriebene Schild reicht als Hinweis schon deshalb nicht aus, weil es ausdrücklich nur "nicht ordnungsgemäß befestigte Fahrzeugteile oder (…) nicht zur Serienausstattung des Fahrzeugs gehörende Fahrzeugteile (z.B. Spoiler…)" erwähnt.


Nicht nur fällt der Heckspoiler des klägerischen Fahrzeugs nicht hierunter, weil er zur Serienausstattung gehört und ordnungsgemäß befestigt war, sondern die ausdrückliche Beschränkung auf nicht serienmäßige Fahrzeugteile ist sogar geeignet, bei dem Nutzer das Vertrauen zu begründen, mit einem serienmäßig ausgestatteten Pkw die Anlage gefahrlos benutzen zu können.


Ebenso wenig stellt der darunter befindliche Zettel mit der Aufschrift "Keine Haftung für Anbauteile und Heckspoiler!" einen ausreichenden Hinweis dar. Angesichts des darüber befindlichen Schildes mit der ausdrücklichen Beschränkung auf nicht zur Serienausstattung gehörende Teile wird für den Waschanlagennutzer schon nicht hinreichend klar, dass - gegebenenfalls - von diesem Hinweis auch die Nutzung der Waschanlage durch Fahrzeuge mit serienmäßigem Heckspoiler erfasst sein soll.

Vorinstanzen: AG Ibbenbüren - Urteil vom 20. Dezember 2022 - 3 C 268/21 LG Münster - Urteil vom 14. Februar 2024 - 1 S 4/23



Bundesgerichtshof entscheidet über die Rückzahlung von Bankentgelten
Urteil vom 19. November 2024 - XI ZR 139/23
Karlsruhe, 19. November 2024 - Der u.a. für das Bank- und Kapitalmarktrecht zuständige XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Urteil vom 19. November 2024 über die Rückzahlung von Bankentgelten entschieden, die aufgrund einer unwirksamen Zustimmungsfiktionsklausel vereinbart werden sollten. Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf: Der Kläger begehrt Rückzahlung von geleisteten Kontoführungsentgelten und Gebühren für eine Girokarte.


Nach einer in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der beklagten Sparkasse enthaltenen unwirksamen Regelung gilt die Zustimmung des Kunden zu angebotenen Änderungen von Vertragsbedingungen oder Entgelten für Bankleistungen als erteilt, wenn der Kunde der Beklagten seine Ablehnung nicht innerhalb einer bestimmten Frist anzeigt (Zustimmungsfiktionsklausel). Die Beklagte informierte den Kläger im Oktober 2017 darüber, dass für dessen zwei Girokonten ab dem 1. Januar 2018 Kontoführungsentgelte und Gebühren für eine Girokarte zu zahlen seien. Daraufhin kündigte der Kläger eines der Girokonten.


Die Bekalgte erhob ab dem 1. Januar 2018 eine Grundgebühr für die Führung des anderen Girokontos in Höhe von monatlich 3,50 € und eine Gebühr für eine SparkassenCard in Höhe von jährlich 6 €. Der Kläger stimmte diesen Änderungen der Bedingungen nicht aktiv zu. Die Beklagte buchte die Entgelte in der Folgezeit vom Konto des Klägers ab. Im Juli 2021 widersprach dieser der Erhebung der Entgelte.


Mit seiner Klage begehrt er die Rückzahlung der in den Jahren 2018 bis 2021 erhobenen Entgelte in Höhe von insgesamt 192 € sowie die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger jeden weiteren künftigen Schaden zu ersetzen, der ihm durch die Einziehung nicht vereinbarter Bankentgelte nach dem Jahr 2021 entstehe. Das Amtsgericht und das Landgericht haben die Klage jeweils abgewiesen. Mit der – vom Berufungsgericht zugelassenen – Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.


 Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Er hat entschieden, dass der Kläger Rückzahlung der Kontoführungsentgelte und des Entgelts für die Girokarte verlangen kann. Der Kläger hat einen Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB, weil die Beklagte die Entgelte ohne Rechtsgrund vereinnahmt hat.


Der Kläger hat der von der Beklagten beabsichtigten Änderung der Entgeltbedingungen nicht konkludent durch die fortgesetzte Nutzung des Girokontos zugestimmt. Die fortlaufende Nutzung eines Girokontos hat keinen objektiven Erklärungswert dahin, dass der Wille des Kontoinhabers neben dem Willen, einen konkreten Kontovorgang auszulösen, auch die Zustimmung zu geänderten Kontobedingungen der Sparkasse oder Bank umfasst.


Der Zugang zu einem Girokonto ist in der Regel eine unabdingbare Voraussetzung für die Teilnahme am unbaren Zahlungsverkehr und von essentieller Bedeutung für die uneingeschränkte Teilhabe am wirtschaftlichen und sozialen Leben. Die Nutzung des Girokontos allein ist deshalb kein Ausdruck des Einverständnisses mit der Änderung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen durch die Sparkasse oder Bank, sondern entspricht lediglich den Erfordernissen und Usancen des modernen Geschäfts- und Wirtschaftsverkehrs im Alltag.


Die von der Beklagten erhobenen Entgelte sind auch nicht durch eine Fiktion der Zustimmung des Klägers zu den geänderten Kontobedingungen der Beklagten vereinbart worden. Der Senat hat bereits mit Urteil vom 27. April 2021 (XI ZR 26/20) entschieden, dass eine Klausel in den Geschäftsbedingungen von Banken und Sparkassen, die eine solche Fiktion vorsieht, im Verkehr mit Verbrauchern unwirksam ist. Auch der Umstand, dass der Kläger die von der Beklagten erhobenen Entgelte über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren widerspruchslos gezahlt hat, führt nicht dazu, dass die Sparkasse die Entgelte behalten darf.


Die vom VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs im Zusammenhang mit unwirksamen Preisanpassungsklauseln in Energielieferungsverträgen angewandte sogenannte Dreijahreslösung (Urteil vom 14. März 2012 – VIII ZR 113/11) ist nicht auf unwirksame Zustimmungsfiktionsklauseln von Banken und Sparkassen übertragbar.


Nach der Dreijahreslösung kann ein Kunde die Unwirksamkeit von Preiserhöhungen, die auf unwirksame Preisanpassungs-klauseln in Energielieferungsverträgen gestützt sind, nicht mehr mit Erfolg geltend machen, wenn er sie nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der Jahresabrechnung, in der die Preiserhöhung erstmals berücksichtigt worden ist, beanstandet hat.


Die dieser Rechtsprechung zugrundeliegenden Erwägungen tragen vorliegend nicht. Denn der Inhalt eines Vertrags selbst wird durch die unwirksame Zustimmungsfiktionsklausel – anders als durch Preisanpassungsklauseln – nicht bestimmt. Die durch den Wegfall der Zustimmungsfiktionsklausel entstandene Vertragslücke ist auch nicht wie die mit der unwirksamen Preisanpassungsklausel verbundene Vertragslücke im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen, sondern gemäß § 306 Abs. 2 BGB durch das dispositive Gesetzesrecht, das mit den § 311 Abs. 1, §§ 145 ff. BGB konkrete Regelungen zur konsensualen Änderung eines Vertrags zur Verfügung stellt.


Danach hat die Zustimmung zu einer von der Bank oder Sparkasse angetragenen Vertragsänderung, die durch die unwirksame Zustimmungsfiktionsklausel fingiert werden sollte, durch eine Willenserklärung des Kunden zu erfolgen. Eine dreijährige Frist, binnen derer der Bankkunde die Erhebung von unwirksamen Bankentgelten beanstandet haben muss, um nicht an das von der Bank oder Sparkasse Angetragene gebunden zu sein, sieht das nach § 306 Abs. 2 BGB maßgebende dispositive Gesetzesrecht demgegenüber nicht vor. Sparkassen und Banken werden angesichts der bestehenden gesetzlichen Verjährungsregelungen, die eine dreijährige Verjährungsfrist vorsehen (§ 195 BGB), und angesichts der bestehenden Möglichkeit, Verträge zu kündigen, auch nicht unzumutbar belastet.


Vorinstanzen: Amtsgericht Ingolstadt - Urteil vom 11. August 2022 - 13 C 1691/21 Landgericht Ingolstadt - Urteil vom 23. Juni 2023 - 13 S 1539/22 p Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 145 BGB Wer einem anderen die Schließung eines Vertrags anträgt, ist an den Antrag gebunden, es sei denn, dass er die Gebundenheit ausgeschlossen hat.

§ 195 BGB Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre. § 306 Abs. 2 BGB (2) Soweit die Bestimmungen nicht Vertragsbestandteil geworden oder unwirksam sind, richtet sich der Inhalt des Vertrags nach den gesetzlichen Vorschriften. § 311 Abs. 1 BGB (1) Zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB (1) Wer durch die Leistung eines anderen oder in sonstiger Weise auf dessen Kosten etwas ohne rechtlichen Grund erlangt, ist ihm zur Herausgabe verpflichtet.


Bundesgerichtshof entscheidet über Ansprüche im Zusammenhang mit einem Datenschutzvorfall beim sozialen Netzwerk Facebook (sog. Scraping)
Karlsruhe, 18. November 2024: Urteil - VI ZR 10/24

Sachverhalt: Die Beklagte betreibt das soziale Netzwerk Facebook. Anfang April 2021 wurden Daten von ca. 533 Millionen Facebook-Nutzern aus 106 Ländern im Internet öffentlich verbreitet. Unbekannte Dritte hatten sich zuvor den Umstand zu Nutze gemacht, dass die Beklagte es in Abhängigkeit von den Suchbarkeits-Einstellungen des jeweiligen Nutzers ermöglicht, dass dessen Facebook-Profil mithilfe seiner Telefonnummer gefunden werden kann.


Die unbekannten Dritten ordneten durch die in großem Umfang erfolgte Eingabe randomisierter Ziffernfolgen über die Kontakt-Import-Funktion Telefonnummern den zugehörigen Nutzerkonten zu und griffen die zu diesen Nutzerkonten vorhandenen öffentlichen Daten ab (sog. Scraping). Von diesem Scraping-Vorfall waren auch Daten des Klägers (Nutzer-ID, Vor- und Nachname, Arbeitsstätte und Geschlecht) betroffen, die auf diese Weise mit dessen Telefonnummer verknüpft wurden.


Der Kläger macht geltend, die Beklagte habe keine ausreichenden Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, um eine Ausnutzung des Kontakt-Tools zu verhindern. Ihm stehe wegen des erlittenen Ärgers und des Kontrollverlusts über seine Daten Ersatz für immaterielle Schäden zu. Darüber hinaus begehrt der Kläger die Feststellung, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm in diesem Zusammenhang auch alle künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, und nimmt die Beklagte auf Unterlassung und Auskunft in Anspruch.


Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat der Klage teilweise stattgegeben und dem Kläger aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO Schadensersatz in Höhe von 250 € zugesprochen; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klage unter Zurückweisung der Anschlussberufung des Klägers insgesamt abgewiesen. Weder reiche der bloße Kontrollverlust zur Annahme eines immateriellen Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1 DSGVO aus noch habe der Kläger hinreichend substantiiert dargelegt, über den Kontrollverlust als solchen hinaus psychisch beeinträchtigt worden zu sein.


Mit Beschluss vom 31. Oktober hat der Bundesgerichtshof das Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren gemäß § 552b ZPO n.F. bestimmt (Pressemitteilung 206/24). Nachdem die Revision nicht zurückgenommen wurde oder sich anderweitig erledigt hat, hat der Bundesgerichtshof jedoch am 11. November 2024 mündlich zur Sache verhandelt und nach allgemeinen Regeln durch Urteil über die Revision des Klägers entschieden.


Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die Revision des Klägers war teilweise erfolgreich. Der Anspruch des Klägers auf Ersatz immateriellen Schadens lässt sich mit der Begründung des Berufungsgerichts nicht verneinen. Nach der für die Auslegung des Art. 82 Abs. 1 DSGVO maßgeblichen Rechtsprechung des EuGH kann auch der bloße und kurzzeitige Verlust der Kontrolle über eigene personenbezogene Daten infolge eines Verstoßes gegen die Datenschutz-Grundverordnung ein immaterieller Schaden im Sinne der Norm sein.


Weder muss insoweit eine konkrete missbräuchliche Verwendung dieser Daten zum Nachteil des Betroffenen erfolgt sein noch bedarf es sonstiger zusätzlicher spürbarer negativer Folgen. Erfolg hatte die Revision auch, soweit das Berufungsgericht die Anträge des Klägers auf Feststellung einer Ersatzpflicht für zukünftige Schäden, auf Unterlassung der Verwendung seiner Telefonnummer, soweit diese nicht von seiner Einwilligung gedeckt ist, und auf Ersatz seiner vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten abgewiesen hat.


Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts fehlt es nicht an dem notwendigen Feststellungsinteresse des Klägers, da die Möglichkeit des Eintritts künftiger Schäden unter den Umständen des Streitfalles ohne Weiteres besteht. Der genannte Unterlassungsanspruch ist hinreichend bestimmt und dem Kläger fehlt insoweit auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Im Übrigen (weiterer Unterlassungsantrag und Auskunftsantrag) blieb die Revision hingegen ohne Erfolg.


Im Umfang des Erfolges der Revision hat der Bundesgerichtshof die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Für die weitere Prüfung hat der Bundesgerichtshof das Berufungsgericht zum einen darauf hingewiesen, dass die von der Beklagten vorgenommene Voreinstellung der Suchbarkeitseinstellung auf "alle" nicht dem Grundsatz der Datenminimierung entsprochen haben dürfte, wobei das Berufungsgericht ergänzend die Frage einer wirksamen Einwilligung des Klägers in die Datenverarbeitung durch die Beklagte zu prüfen haben wird.


Zum anderen hat der Bundesgerichtshof Hinweise zur Bemessung (§ 287 ZPO) des immateriellen Schadens aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO erteilt und ausgeführt, warum unter den Umständen des Streitfalles von Rechts wegen keine Bedenken dagegen bestünden, den Ausgleich für den bloßen Kontrollverlust in einer Größenordnung von 100 € zu bemessen.

Vorinstanzen: LG Bonn - Urteil vom 29. März 2023 - 13 O 125/22 OLG Köln - Urteil vom 7. Dezember 2023 - 15 U 67/23 Die maßgebliche Vorschrift lautet: Artikel 82 Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) - Haftung und Recht auf Schadenersatz (1) Jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen diese Verordnung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, hat Anspruch auf Schadenersatz gegen den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter.



Eilantrag gegen das Verbot des Vereins Palästina Solidarität Duisburg (PSDU) erfolglos
Münster, 15. November 2024 - Das Oberverwaltungsgericht hat heute den Eilantrag des Vereins PSDU, das Verbot des Vereins durch das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (IM NRW) vorläufig auszusetzen, abgelehnt.


Mit Verbotsverfügung vom 18.03.2024 stellte das IM NRW unter Anordnung der sofortigen Vollziehung fest, dass der Verein PSDU sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richte, deshalb verboten sei und aufgelöst werde. Der dagegen gerichtete Eilantrag des Vereins PSDU, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Verbotsverfügung wiederherzustellen, hatte beim erstinstanzlich zuständigen Oberverwaltungsgericht keinen Erfolg.


Zur Begründung hat der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts im Wesentlichen ausgeführt: Nach der Prüfung im Eilverfahren trifft die Annahme des IM NRW zu, dass der Verein PSDU sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, indem er kontinuierlich gegen den Staat Israel hetzt und damit Hass und Gewalt in das Verhältnis von Israelis und Palästinensern hineinträgt.


Eine Gesamtbetrachtung der in der angefochtenen Verbotsverfügung aufgeführten Indizien belegt, dass der Verein PSDU sich nicht, wie er vorträgt, für ein friedliches Zusammenleben der Völker einsetzt und lediglich die gewaltsamen Zustände, Kriegs- und Menschenrechtsverletzungen etc. kritisiert sowie vom Völkerrecht gedeckte Positionen vertritt. In der Verbotsverfügung wird ihm auch nachgewiesen, dass er konkrete Gewalthandlungen, die nicht vom Völkerrecht gedeckt sind, gebilligt hat.


Diese Einschätzung ergibt sich bereits daraus, dass der Verein PSDU die HAMAS unterstützt, die ihrerseits durch Ausübung von Gewalt das friedliche Miteinander der Völker beeinträchtigt. Die HAMAS ist von der Europäischen Union als terroristische Vereinigung gelistet und das Bundesministerium des Innern und für Heimat hat mit Verfügung vom 02.11.2023 ein Betätigungsverbot gegenüber der HAMAS erlassen, weil ihre Tätigkeit in Deutschland Strafgesetzen zuwiderläuft und sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet.

Der Verein PSDU sympathisiert und solidarisiert sich mit den Angriffen der HAMAS. Er unterstützt diese terroristische Vereinigung, indem er sie und die von ihr verübten völkerrechtswidrigen Angriffe verherrlicht, propagiert und legitimiert. Darüber hinaus verneint der Verein PSDU das Existenzrecht des Staates Israel und ruft zu seiner gewaltsamen Beseitigung auf. Erweist sich die Verbotsverfügung schon deshalb als rechtmäßig, kommt es auf die weiteren von dem IM NRW in der Verbotsverfügung angeführten Gründe und die entsprechenden Einwände des Vereins nicht an. Der Beschluss ist unanfechtbar. Aktenzeichen: 5 B 558/24


September 2024

Wettbewerbsrechtlicher Beseitigungsanspruch umfasst nicht die Rückzahlung zu Unrecht einbehaltener Geldbeträge an Verbraucher - I ZR 168/23
Karlsruhe, 11. September 2024 - Der unter anderem für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass ein Verbraucherverband mit dem wettbewerbsrechtlichen Beseitigungsanspruch nicht die Rückzahlung aufgrund unwirksamer Allgemeiner Geschäftsbedingungen einbehaltener Geldbeträge an die betroffenen Verbraucher verlangen kann.


Sachverhalt: Der Kläger ist der Dachverband deutscher Verbraucherzentralen. Der Beklagte veranstaltete ein Festival. Zur Bezahlung auf dem Festivalgelände konnten die Besucher ein Armband erwerben und mit Geldbeträgen aufladen. Der Beklagte bot eine Rückerstattung nicht verbrauchter Geldbeträge in seinen Nutzungsbedingungen wie folgt an: "Bei der Auszahlung des restlichen Guthabens nach dem Festival durch das Eventportal wird eine Rückerstattungsgebühr von 2,50 € fällig".


Der Kläger hält die Erhebung einer solchen Rückerstattungsgebühr (Payout Fee) für unlauter und nimmt den Beklagten insbesondere auf Rückzahlung der einbehaltenen Beträge an die betroffenen Verbraucher in Anspruch. Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die vom Kläger eingelegte Berufung hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Anträge weiter.


Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die zulässige Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Ein Beseitigungsanspruch lässt sich - wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat - nicht aus § 1 UKlaG herleiten. Diese Vorschrift begründet nur einen Anspruch auf Unterlassung, nicht aber auch auf Beseitigung. Dem Kläger steht gegen den Beklagten auch kein Beseitigungsanspruch auf Rückzahlung der einbehaltenen Payout Fee an die betroffenen Verbraucher gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 unter dem Gesichtspunkt des Rechtsbruchs gemäß §§ 3, 3a UWG in Verbindung mit § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB zu.


Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Nutzungsbedingungen des Beklagten Allgemeine Geschäftsbedingungen sind und die darin enthaltene Klausel über die Erhebung einer Payout Fee in Höhe von 2,50 € bei Auszahlung nicht verbrauchten Guthabens gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam ist. Denn der Beklagte erbringt mit der Rückerstattung nicht verbrauchter Geldbeträge keine eigenständige vergütungsfähige Leistung, sondern erfüllt eine ohnehin bestehende vertragliche Verpflichtung.


Das Berufungsgericht hat ebenso zutreffend gemeint, dass der darin liegende Verstoß gegen §§ 3, 3a UWG geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern spürbar zu beeinträchtigen, da diese durch die Klausel davon abgehalten werden könnten, Rückzahlungsansprüche gegenüber dem Beklagten geltend zu machen.


Zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, dass der Kläger mit dem wettbewerbsrechtlichen Beseitigungsanspruch vom Beklagten keine Rückzahlung der aufgrund der unwirksamen Klausel einbehaltenen Payout Fee an dessen Kunden verlangen kann. Ein solcher Anspruch steht mit der Systematik des kollektiven Rechtsschutzes nach dem geltenden Recht nicht im Einklang.


Der Gesetzgeber hat im Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb einen verschuldensabhängigen Gewinnabschöpfungsanspruch zu Gunsten des Bundeshaushalts und einen ebenfalls verschuldensabhängigen Verbraucherschadensersatz vorgesehen. Im Jahr 2023 hat der Gesetzgeber durch das Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz die Abhilfeklage eingeführt, mit der qualifizierte Verbraucherverbände gegen Unternehmer gerichtete Ansprüche von Verbrauchern auf Leistung geltend machen können.


Das sich daraus ergebende Konzept des kollektiven Rechtsschutzes würde durch einen aus § 8 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UWG abgeleiteten verschuldensunabhängigen Beseitigungsanspruch von qualifizierten Verbraucherverbänden unterlaufen, mit dem ein Unternehmer zur Rückzahlung der von ihm zu Lasten einer Vielzahl von Verbrauchern einbehaltenen Geldbeträge an die betroffenen Verbraucher verpflichtet werden könnte.


Vorinstanzen: LG Rostock - Urteil vom 15. Dezember 2020 - 3 O 1091/19 OLG Rostock - Urteil vom 15. November 2023 - 2 U 15/21

Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 1 UKlaG Wer in Allgemeinen Geschäftsbedingungen Bestimmungen, die nach den §§ 307 bis 309 des Bürgerlichen Gesetzbuchs unwirksam sind, verwendet oder für den rechtsgeschäftlichen Verkehr empfiehlt, kann auf Unterlassung und im Fall des Empfehlens auch auf Widerruf in Anspruch genommen werden. § 3 Abs. 1 UWG (1) Unlautere geschäftliche Handlungen sind unzulässig. […]

§ 3a UWG Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen.


§ 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Nr. 3 UWG (1) Wer eine nach § 3 oder § 7 unzulässige geschäftliche Handlung vornimmt, kann auf Beseitigung und bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. […] (3) Die Ansprüche aus Absatz 1 stehen zu: […] 3. den qualifizierten Verbraucherverbänden, die in der Liste nach § 4 des Unterlassungsklagengesetzes eingetragen sind, und den qualifizierten Einrichtungen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die in dem Verzeichnis der Europäischen Kommission nach Artikel 5 Absatz 1 Satz 4 der Richtlinie (EU) 2020/1828 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2020 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher und zur Aufhebung der Richtlinie 2009/22/EG (ABl. L 409 vom 4.12.2020, S. 1) eingetragen sind, […] § 307 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 1 BGB (1)


Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. (2) Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung 1. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist […].

75 Jahre nordrhein-westfälische Verwaltungsgerichtsbarkeit – Festakt im Oberverwaltungsgericht in Münster


Münster, Freitag, 6. September 2024 - Im Juli 1949, und damit vor 75 Jahren, fand der Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit des Landes Nordrhein-Westfalen mit der Gründung des Oberverwaltungsgerichts in Münster seinen Abschluss. In einem Festakt mit rund 200 Gästen aus vielfältigen Bereichen staatlichen Lebens und den Verwaltungsgerichten wurde dieses Jubiläum am 05.09.2024 in der voll besetzten Halle des Oberverwaltungsgerichts gefeiert.


Sebastian Beimesche, Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, blickte in seiner Begrüßungsansprache auf die Anfangsjahre zurück: „Als 1949 eine kleine Schar von Richtern und eine Richterin die Arbeit in der Verwaltungsgerichtsbarkeit aufnahm“, sei nicht absehbar gewesen, „dass wir 75 Jahre später eine stabile und institutionell gefestigte Verfassungs- und Verwaltungskultur haben, in der die Bürgerinnen und Bürger nicht als bloße Objekte obrigkeitlicher Autorität, sondern als Subjekte im Mittelpunkt staatlichen Handelns stehen“.


Eine funktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit sei unverzichtbar: Sie leiste einen „essentiellen Beitrag zur Verwirklichung der Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes und zur Durchsetzung unserer Rechtsordnung - und zwar sowohl im Interesse des Einzelnen als auch der Allgemeinheit“. Alle in der Justiz Tätigen wüssten, „dass das Vertrauen in die Gerichte der Stabilität des Gemeinwesens dient. Das galt vor 75 Jahren und das gilt - vielleicht sogar wieder in besonderem Maße - heute.“


Dr. Benjamin Limbach, Minister der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, verwies in seinem Grußwort darauf, dass seine eigene berufliche Laufbahn am Verwaltungsgericht Köln begonnen habe. Er dankte Vizepräsident Beimesche dafür, dass dieser das Oberverwaltungsgericht während der bislang dreijährigen Vakanz der Präsidentenstelle „exzellent nach innen und außen vertreten“ habe. Es bestehe die berechtigte Erwartung, dass diese Position „bald wieder besetzt wird“.


Limbach strich heraus, es mache die Stärke unseres grundgesetzlichen Systems aus, dass jede Maßnahme der Exekutive gerichtlich überprüfbar sei. Bei den Bürgerinnen und Bürgern genieße die Verwaltungsgerichtsbarkeit ein hohes Ansehen. Sie stehe aber auch vor großen Herausforderungen, so etwa bei der Bewältigung der Vielzahl von Asylverfahren. Markus Lewe erklärte in seinem Grußwort, er sei als Oberbürgermeister der Stadt Münster „nicht ganz unstolz“ darauf, dass die nordrhein-westfälische Verwaltungsgerichtsgerichtsbarkeit mit dem Oberverwaltungsgericht und dem örtlichen Verwaltungsgericht in seiner Stadt vertreten sei.


Spektakuläre Entscheidungen hätten Münster in den Fokus gestellt, wie zuletzt vor allem die Urteile des OVG in Sachen AfD, auf die „ganz Deutschland“ geschaut habe. Lewe betonte die Bedeutung des Vertrauens in staatliche Institutionen. Das Gemeinwesen insgesamt müsse sich daher überlegen, welche Prioritäten es bei den vielfältigen Zielkonflikten setzen wolle, um die Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen nicht zu überfordern. Was von den Verwaltungsgerichten geleistet werde, sei großartig. Um die aktuellen und künftigen Herausforderungen bewältigen zu können, müsse die Gerichtsbarkeit allerdings gestärkt werden.


Rechtsanwalt Dr. Michael Oerder, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Verwaltungsrecht NRW im Deutschen Anwaltverein, verwies darauf, dass er sehr gerne Anwalt im Verwaltungsrecht sei. Das liege „auch und gerade an den Verwaltungsgerichten“, deren Arbeitsweise und dem Umgang zwischen Richter- und Anwaltschaft. Ein „echter Wermutstropfen“ seien jedoch die Verfahrenslaufzeiten. Gleichwohl arbeite die nordrhein-westfälische Verwaltungsgerichtsbarkeit erkennbar an einer Effizienzsteigerung. Erforderlich sei eine „ausreichende Ausstattung der Gerichte, insbesondere mit qualifiziertem Personal“.


Dr. Holger Wöckel, Richter des Bundesverfassungsgerichts (und früherer Richter am OVG in Münster, widmete seinen Festvortrag der These, dass gerade die Verwaltungsgerichte nach 1949 den freiheitlichen Rechtsstaat des Grundgesetzes geprägt und damit der Verfassung Gestalt gegeben hätten.


August 2024
Verfassungsbeschwerden gegen mehrere Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes erfolglos
Karlsruhe, 27. August 2024 - Mit den heute bekanntgegebenen Beschlüssen hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zwölf Verfassungsbeschwerden, die sich gegen Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) richten, nicht zur Entscheidung angenommen.

Die Beschwerdeführenden sind Wählerinnen und Wähler sowie Personen, die eine Kandidatur als (unabhängige oder von einer Partei aufgestellte) Wahlkreisbewerber beabsichtigen. Sie wenden sich überwiegend gegen das Zweitstimmendeckungsverfahrenin § 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 BWahlG, teilweise auch und teilweise allein gegen die 5 %-Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG und teilweise gegen weitere Bestimmungen des BWahlG.


Mit Urteil vom 30. Juli 2024 entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren mit dem Grundgesetz vereinbar ist und die 5 %-Sperrklausel derzeit gegen das Grundgesetz verstößt, jedoch mit bestimmten Maßgaben fortgilt.


Juli 2024

Vorzeitiges Bekanntwerden der schriftlichen Urteilsgründe in Sachen „Bundeswahlgesetz 2023“
Karlsruhe, 30. Juli 2024 - Am heutigen Tag hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts sein Urteil in Sachen „Bundeswahlgesetz 2023“ (Aktenzeichen 2 BvF 1/23 u.a.) verkündet (vgl. Pressemitteilung Nr. 64/2024 vom 30. Juli 2024). Das Bundesverfassungsgericht bedauert, dass offenbar bereits am gestrigen Tag eine Version der schriftlichen Urteilsgründe vorübergehend über das Internet öffentlich zugänglich war.

Es gibt derzeit Anhaltspunkte dafür, dass dies eine technische Ursache hatte. Der Direktor beim Bundesverfassungsgericht ist damit beauftragt, die genauen Umstände aufzuklären und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die einen solchen Fall in Zukunft verhindern.


Das Bundeswahlgesetz 2023 ist überwiegend verfassungsgemäß – allein die 5 %-Sperrklausel ist derzeit verfassungswidrig, gilt aber mit bestimmten Maßgaben fort
Karlsruhe, 30. Juli 2024 - Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass das Zweitstimmendeckungsverfahren in § 1 Abs. 3, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 Bundeswahlgesetz (BWahlG) mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist. Die 5 %-Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verstößt aber derzeit gegen Art. 21 Abs. 1 und Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG.


Bis zu einer Neuregelung gilt sie mit der Maßgabe fort, dass bei der Sitzverteilung Parteien mit weniger als 5 % der Zweitstimmen nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn ihre Bewerber in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen auf sich vereinigt haben. Die Bayerische Staatsregierung, 195 Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die CSU richten ihre Anträge insbesondere gegen das neu geregelte Verfahren der Zweitstimmendeckung.


Danach erhalten Wahlkreisbewerber mit den meisten Erststimmen nur dann ein Bundestagsmandat, wenn es von dem aus dem Zweitstimmenergebnis ermittelten Sitzkontingent ihrer Partei gedeckt ist. Außerdem greifen die Antragstellenden sowie DIE LINKE, DIE LINKE-Bundestagsfraktion und weitere Einzelpersonen die 5 %-Sperrklausel an. Wegen ihr ziehen nur Bewerber solcher Parteien in den Bundestag ein, die mindestens 5 % der bundesweiten Zweitstimmen erhalten haben.


Nach dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätten dafür, wie auch bisher, alternativ drei Wahlkreissiege genügt. Das Zweitstimmendeckungsverfahren ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Entschluss des Gesetzgebers, das Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an besondere Voraussetzungen gebunden. Die 5 %-Sperrklausel ist unter den geltenden rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen nicht in vollem Umfang erforderlich, um die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Die Entscheidung zur Zweitstimmendeckung ist einstimmig und zur Sperrklausel mit 7:1 Stimmen ergangen.

Sachverhalt
Am 17. März 2023 beschloss der Bundestag mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen Änderungen des BWahlG. Danach sieht das BWahlG für die Bundestagswahl Folgendes vor:

Jeder Wähler hat zwei Stimmen: die Erststimme für die Wahl eines Wahlkreiskandidaten und die Zweitstimme für die Wahl der Landesliste einer Partei. Zunächst werden die 630 Bundestagssitze (§ 1 Abs. 1 Satz 1 BWahlG) auf die Parteien und ihre Landeslisten verteilt: Jede Partei erhält die ihr nach dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis zustehende Sitzzahl (§ 4 Abs. 2 BWahlG). Diese Sitze werden dann auf die Landeslisten der jeweiligen Partei anhand ihrer jeweiligen Anteile an dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis verteilt (§ 4 Abs. 3 BWahlG). Sodann wird die Besetzungsreihenfolge für diese Sitzkontingente bestimmt: Die erfolgreichen Wahlkreisbewerber – also diejenigen mit den meisten Erststimmen ihres Wahlkreises – rücken in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste ihrer Partei und werden bei der Vergabe der Sitze zuerst berücksichtigt.


Übersteigt die Zahl der einer Landesliste nach dem Zweitstimmenergebnis zustehenden Sitze die Zahl ihrer erfolgreichen Wahlkreisbewerber, werden die übrigen Sitze an Listenbewerber vergeben. Übersteigt die Zahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerber einer Landesliste die Zahl ihrer nach Zweitstimmen gedeckten Sitze, so erhalten die Wahlkreisbewerber mit den geringsten Erststimmenanteilen keinen Sitz zugeteilt (Zweitstimmendeckungsverfahren, § 6 Abs. 1, Abs. 4 Sätze 1, 2 BWahlG).

Nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG werden Parteien, die bundesweit weniger als 5 % der Zweitstimmen erhalten haben, nicht bei der Verteilung der Sitze berücksichtigt (5 %-Sperrklausel). Ihre Kandidaten ziehen daher nicht in den Bundestag ein.

Gegen das Zweitstimmendeckungsverfahren und die 5 %-Sperrklausel als nunmehr alleinige Zugangshürde zum Sitzverteilungsverfahren haben die Bayerische Staatsregierung und 195 Mitglieder CDU/CSU-Bundestagsfraktion Normenkontrolle beantragt. Die CSU hat als Partei Organklage gegen den Bundestag wegen des Erlasses des Gesetzes zur Änderung des BWahlG erhoben und greift ebenfalls diese Regelungen an; die CDU ist dieser Organklage beigetreten.


Zwei weitere Organklagen der Partei DIE LINKE und der damaligen Bundestagsfraktion DIE LINKE gegen den Bundestag sowie eine Verfassungsbeschwerde von 212 ihrer „Wähler/Sympathisanten“ wenden sich inhaltlich gegen die nicht mehr mit einer „Grundmandatsklausel“ versehene Sperrklausel. Gegen die Sperrklausel als solche haben auch 4.242 Personen Verfassungsbeschwerde eingelegt.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

A. Die Normenkontrollverfahren sind zulässig. Die Organklagen und Verfassungsbeschwerden sind nur teilweise zulässig.

Unzulässig ist insbesondere der Organklageantrag der damaligen Fraktion DIE LINKE. Dabei kann offenbleiben, welche Folgen die Auflösung der Fraktion zum 6. Dezember 2023 für die zuvor eingereichte Organklage hat. Denn es fehlt an der Antragsbefugnis. Eine Fraktion hat weder ein Recht, auch nach der nächsten Wahl im Bundestag vertreten zu sein, noch kann sie sich als Fraktion auf das in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wurzelnde Abgeordnetenrecht auf Beratung und Beschlussfassung im Bundestag berufen.

B. Die Regelungen des Verfahrens der Zweitstimmendeckung sind mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 und Art. 21 Abs. 1 GG vereinbar. Die 5 %-Sperrklausel ist mit diesen Maßstäben unvereinbar.

I. In formeller Hinsicht sind die angegriffenen Normen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere weist das Gesetzgebungsverfahren keine Umstände auf, die dafür sprechen, dass der Deutsche Bundestag seinen Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung der Verfahrensabläufe im Parlament überschritten haben könnte. Zwar ist die Wahlrechtsreform nicht im Konsens beschlossen worden, sondern lediglich mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen. Diese Möglichkeit ist dem Gesetzgeber durch Art. 38 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG jedoch ausdrücklich eröffnet.

Auch der Umstand, dass die im Gesetzentwurf vorgesehene „angepasste Grundmandatsklausel“ (erst) im Zuge der abschließenden Ausschussberatungen gestrichen wurde, stellt keine Missachtung der Abgeordnetenrechte oder des Öffentlichkeitsgrundsatzes dar. Die parlamentarische Beratung dient gerade der Möglichkeit, einen Gesetzentwurf zu verändern.


Im vorliegend zu beurteilenden Gesetzgebungsverfahren standen den Abgeordneten ohnehin genügend Informationen über die Bedeutung der „angepassten Grundmandatsklausel“ bzw. Wahlkreisklausel und ihres Fehlens zur Verfügung.

II. Die Normenkontrollanträge haben teilweise Erfolg.

1. Für das Wahlrecht weist Art. 38 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Aufgabe der näheren Ausgestaltung zu. Ihre Grenzen findet die gesetzgeberische Gestaltungsbefugnis in den Wahlgrundsätzen nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet dabei, dass alle Wahlberechtigten das aktive und passive Wahlrecht möglichst in formal gleicher Weise ausüben können.

Zudem muss der Wahlgesetzgeber die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) wahren. Danach müssen jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen.

Die Grundsätze der Wahlgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien unterliegen keinem absoluten Differenzierungsverbot. Dem Gesetzgeber verbleibt bei der Ordnung des Wahlrechts ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen.

2. Nach diesen Maßstäben ist das Zweitstimmendeckungsverfahren mit dem Grundgesetz vereinbar.

a) Der Gesetzgeber kann Neuerungen einführen, die dem bisherigen Wahlrecht fremd waren und Wählerinnen und Wählern ebenso wie Bewerbern und Parteien ein Umdenken abverlangen. Sein Entschluss, das Wahlrecht zu reformieren, ist nicht an besondere Voraussetzungen gebunden.

aa) Das Zweitstimmendeckungsverfahren stellt keine Abkehr von den Grundzügen des bisherigen Wahlrechts dar. Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums für die Beibehaltung der Wahlkreiswahl sowie der Verhältniswahl nach Landeslisten entschieden.

Den damit zwingend verbundenen Ausgleich zwischen den Ergebnissen der Wahlkreiswahl und der Verhältniswahl hat er hingegen — ebenfalls im Rahmen seines weiten Gestaltungsspielraums — neu gestaltet. Nach altem Recht wurden Bundestagsmandate sowohl nach dem Ergebnis der Wahlkreiswahl als auch nach dem Ergebnis der Listenwahl zugeteilt: Zunächst erhielten erfolgreiche Wahlkreisbewerber ein Mandat (Direktmandat). Der Ausgleich erfolgte anschließend, indem beim Sitzzuteilungsverfahren an die Parteien die Wahlkreismandate auf die Sitze der Landeslisten angerechnet wurden.

Nach dem Zweitstimmendeckungsverfahren werden vor dem Ausgleich keine Mandate vergeben. Zunächst erfolgt die Verteilung der 630 Sitze auf die Parteien und ihre Landeslisten. Sodann wird die Besetzungsreihenfolge für jedes dieser Sitzkontingente bestimmt. Hier rücken erfolgreiche Wahlkreisbewerber in der Rangfolge ihrer Stimmanteile an die Spitze der Landesliste. Erst im letzten Schritt erhalten alle Bewerberinnen und Bewerber in dieser Reihenfolge ihre Mandate.

Die Kritik, dass sich der Gesetzgeber nicht entweder für ein reines Mehrheits- oder für ein reines Verhältniswahlrecht entschieden habe, übersieht, dass er nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verhältniswahl mit Elementen der Personenwahl verbinden darf. Aus der Beibehaltung einer Kombination von Verhältniswahl und Wahlkreiswahl folgt jedoch nicht, dass auch das bisherige Ausgleichsverfahren beibehalten werden müsste und nicht neu konzipiert werden könnte. Der Gesetzgeber darf sich für eine andere Kombination entscheiden. Soweit geltend gemacht wird, das Zweitstimmendeckungsverfahren verstoße gegen ein Gebot der Regionalisierung oder der Wahlkreisrepräsentation, finden solche Gebote im Grundgesetz und im bisherigen Wahlrecht keine Stütze.

bb) Die weiter geübte Kritik, die Neuregelung enthalte Widersprüche und dem Zweitstimmendeckungsverfahren fehle es an Folgerichtigkeit, läuft schon deshalb ins Leere, weil sie auf dem gedanklichen Festhalten an Grundsätzen beruht, die den bisherigen Regelungen des Ausgleichs entnommen werden.

Wenn aus einigen Wahlkreisen nicht der Wahlkreisbewerber mit den meisten Stimmen in den Bundestag einzieht, sondern der Wahlkreis durch andere (Listen-)Abgeordnete im Bundestag vertreten wird, kann darin ein Widerspruch nur erkannt werden, wenn für die Wählerinnen und Wähler in einem Wahlkreis die Wahlkreiswahl als die allein maßgebliche Wahl für die Zuteilung eines Mandats angesehen würde.

Nach dem Zweitstimmendeckungsverfahren ist jedoch die Wahlkreiswahl gerade nicht allein entscheidend für den Erhalt eines Mandats. Es sorgt vielmehr dafür, dass jeder Abgeordnete des Bundestages durch die Zweitstimmen für seine Partei legitimiert ist.

b) Das Zweitstimmendeckungsverfahren verletzt die Wahlgleichheit gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht.

aa) Zwar werden Wahlstimmen für einen unabhängigen Bewerber im Fall seines Erfolges anders behandelt als Wahlstimmen für Wahlkreisbewerber einer Partei. Insbesondere erhält der unabhängige Bewerber ein Bundestagsmandat gemäß § 6 Abs. 2 BWahlG unabhängig vom Sitzvergabeverfahren nach dem Zweitstimmenergebnis.

Diese Ungleichbehandlung ist jedoch gerechtfertigt. Das Zweistimmenwahlrecht des BWahlG sieht einen Ausgleich zwischen dem Erst- und dem Zweitstimmenergebnis vor. Ist ein solcher Ausgleich ausgeschlossen, weil zwischen Wahlkreisbewerber und Landesliste kein Ausgleichszusammenhang hergestellt werden kann, ist eine besondere Berücksichtigung dieser Konstellation zwingend.

Die Möglichkeit, unabhängige Wahlkreisbewerber vorzuschlagen, sichert das Wahlvorschlagsrecht aller Wahlberechtigten unabhängig von politischen Parteien als Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl.

bb) Darüber hinaus führt das Zweitstimmendeckungsverfahren nicht zur Ungleichbehandlung von Wahlstimmen. Alle Wahlstimmen haben den gleichen Zählwert. Soweit Wählerinnen und Wähler mit ihrer Erststimme einen Wahlkreisbewerber einer Partei wählen, wird diese Stimme bei der Auszählung als eine Stimme für diesen Wahlkreisbewerber ausgewiesen.

Auch die Erfolgschancen der Erststimmen sind gleich. Jede Erststimme führt dann zu einem Mandat für den Wahlkreisbewerber, wenn zum einen der Bewerber die meisten Erststimmen im Wahlkreis und zum anderen die Landesliste seiner Partei so viele Zweitstimmen erhält, dass ihr Sitzkontingent für alle ihre erfolgreichen Wahlkreisbewerber mit dem gleichen oder besseren Erststimmenanteil ausreicht. Beide Bedingungen sind ausschließlich vom Wahlergebnis abhängig.

Auch die Stimmen für einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber, der ein Mandat im Zweitstimmendeckungsverfahren erhält, und die Stimmen für einen erfolgreichen Bewerber in einem anderen Wahlkreis, der kein Mandat erhält, werden nicht ungleich behandelt. Die Nichtzuteilung des Mandats an den erfolgreichen Bewerber ohne Zweitstimmendeckung ist das Ergebnis des vom Gesetzgeber gewählten Zuteilungsmechanismus, der von zwei Voraussetzungen abhängig ist (Erlangung der meisten Erststimmen im Wahlkreis und Zweitstimmendeckung durch die Landesliste). Der Erfolgswert der Wahlstimmen bestimmt sich entsprechend nach diesen beiden Voraussetzungen.

c) Das Gebot der Unmittelbarkeit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG wird durch das Zweitstimmendeckungsverfahren ebenfalls nicht verletzt. Dieses ändert nichts daran, dass die Erststimme jeder Wählerin und jedes Wählers einem bestimmten Wahlkreisbewerber zugerechnet werden kann. Bei der Stimmabgabe ungewiss ist allein der Stimmerfolg. Er richtet sich ausschließlich nach dem – einheitlichen – Wahlvorgang und dem daran anschließenden gesetzlich vorgesehenen Sitzzuteilungsverfahren. Die Entscheidung, in welcher Reihenfolge erfolgreiche Wahlkreisbewerber ein Mandat oder bei fehlender Zweitstimmendeckung kein Mandat erhalten, ist damit allein durch das Wahlergebnis und das Wahlgesetz festgelegt.

d) Das Zweitstimmendeckungsverfahren verstößt nicht gegen die Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG). Die Einschätzung, es belaste die Oppositionsparteien in besonderer Weise, teilt der Senat nicht. Das Zweitstimmendeckungsverfahren dient der Zusammensetzung des Bundestages nach Parteienproporz ebenso wie das bislang geltende System der Ausgleichsmandate. Anders als der Begriff der „Kappung“ suggeriert, wird Parteien durch das Zweitstimmendeckungsverfahren kein ihnen bereits zugeteiltes Sitzkontingent gekürzt. Die damit erreichte Einhaltung der gesetzlichen Größe des Bundestages führt lediglich dazu, dass im kommenden Deutschen Bundestag von jeder Partei – bei unterstellt gleichbleibenden Wahlergebnissen – weniger Abgeordnete vertreten sein werden, als dies nach dem bisherigen Wahlrecht der Fall gewesen wäre.

3. Die Sperrklausel des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist in ihrer geltenden Form mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

a) Durch sie werden Parteien, die nach ihrem Zweitstimmenergebnis rechnerisch Bundestagssitze erhalten könnten, bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt, wenn sie im Bundesgebiet weniger als 5 % der gültigen Zweitstimmen erreicht haben. Dies ist eine Ungleichbehandlung gegenüber Wahlstimmen für Parteien mit einem höheren Zweitstimmenergebnis.

b) Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht kann die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments einen legitimen Rechtfertigungsgrund darstellen. Maßgeblich für die Beurteilung einer Sperrklausel bei der Wahl zum Deutschen Bundestag sind die ihm in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zugewiesenen zentralen Funktionen.

c) Die Sperrklausel ist geeignet, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Mit einer Sperrklausel verhindert das Wahlrecht eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen und sichert damit die Funktions- und Arbeitsbedingungen des Bundestages. Sie schafft die Voraussetzungen dafür, dass Zusammenschlüsse von Abgeordneten mit gleichgerichteten politischen Zielen im Bundestag (Fraktionen) grundsätzlich eine bestimmte Mindestgröße haben. Die Höhe der Sperrklausel von 5 % der bundesweiten gültigen Zweitstimmen ist für diesen Zweck sachgerecht. Die in ständiger Rechtsprechung bestätigte Beurteilung hat auch angesichts der zwischenzeitlich eingetretenen rechtlichen und tatsächlichen Änderungen Bestand.

d) Unter den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen ist die Ausgestaltung der Sperrklausel in § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG jedoch nicht in vollem Umfang erforderlich. Zur Sicherstellung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages ist es nicht notwendig, eine Partei bei der Sitzverteilung unberücksichtigt zu lassen, deren Abgeordnete eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten einer anderen Partei bilden würden, wenn beide Parteien gemeinsam das Fünf-Prozent-Quorum erreichen würden.

aa) Tatsächlich besteht die Möglichkeit, dass die CSU bei der nächsten Bundestagswahl mangels Überschreitens der bundesweiten 5 %-Sperrklausel bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt wird. Im Fall ihrer Berücksichtigung würden ihre Abgeordneten jedoch hinreichend sicher eine gemeinsame Fraktion mit den Abgeordneten der CDU bilden. Grundlage hierfür ist eine auf Dauer angelegte Kooperation der beiden Parteien.

bb) Die Kooperation der CSU mit der CDU zeichnet sich letztlich durch drei Elemente aus: erstens die Absicht, aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele eine Fraktion zu bilden, zweitens den Umstand, dass schon bisher eben eine solche gemeinsame Fraktion im Bundestag bestand, und drittens den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Landeslisten nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden.

CDU und CSU machen seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Wahlkampf deutlich, dass sie gleichgerichtete Ziele verfolgen und eine gemeinsame Fraktion bilden wollen. Insbesondere wirbt die CSU regelmäßig für den Spitzenkandidaten oder die Spitzenkandidatin der CDU. Seit 1976 stellen beide Parteien ausdrücklich ein gemeinsames Wahlprogramm für Bundestagswahlen auf. Seit 1949 bilden ihre Abgeordneten auch eine gemeinsame Fraktion im Bundestag. Während die CSU nur in Bayern zur Wahl antritt, verzichtet die CDU dort auf eine Vertretung.

cc) Das Ziel der Sperrklausel wird in gleicher Weise erreicht, wenn die Zweitstimmenergebnisse von Parteien, die in dieser Form kooperieren, gemeinsam berücksichtigt werden. Darin liegende Ungleichbehandlungen sind gerechtfertigt.

Eine solche Kooperation verändert die Rahmenbedingungen der parlamentarischen Arbeit, auf deren Sicherung die Sperrklausel abzielt, nicht. Ihr Ziel ist eine Fraktionsgemeinschaft. Damit geht sie über ein reines Wahlbündnis hinaus, das lediglich erreichen will, dass beide Parteien im Parlament vertreten sind. Auch bezieht sie sich im Unterschied zu einer Koalitionsaussage nicht lediglich auf eine Zusammenarbeit im Fall der Regierungsübernahme, sondern gilt auch für den Fall der Opposition. Die Kooperation betrifft also unmittelbar die Tätigkeit im Bundestag selbst und umfasst sämtliche Parlamentsfunktionen. Durch die Bildung einer gemeinsamen Fraktion ordnen sich die Abgeordneten der beteiligten Parteien den parlamentarischen Organisationsstrukturen unter, indem sie nicht einzeln, sondern nur gemeinsam die Rechte und Pflichten einer Fraktion wahrnehmen. Dies bezweckt, gemeinsam eine politische Strömung im Parlament zu repräsentieren.

Werden Parteien, die in dieser Form kooperieren, bei der Anwendung der Sperrklausel gemeinsam berücksichtigt, stellt dies eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Parteien dar. Sie erhalten – anders als andere Parteien – auch dann Bundestagsmandate, wenn jede Partei für sich die Voraussetzung des § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG nicht erfüllt.

Es kann offen bleiben, inwieweit die gemeinsame Berücksichtigung von Parteien bei der Überwindung der Sperrklausel gerechtfertigt ist, wenn lediglich einzelne der drei Voraussetzungen vorliegen. Jedenfalls gemeinsam rechtfertigen sie unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen die Bevorzugung einer Kooperation, wie sie CSU und CDU praktizieren.

e) Der Gesetzgeber ist zwar verpflichtet, die Sperrklausel so auszugestalten, dass sie unter den derzeitigen rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen nicht über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundestages Erforderliche hinausgeht. Er ist aber nicht auf die Einführung einer Möglichkeit der gemeinsamen Berücksichtigung zweier, in der dargestellten Form kooperierender Parteien beschränkt. Vielmehr kann er die Sperrklausel auch in anderer Weise modifizieren.

C. Die Verfassungsbeschwerden sind – soweit sie zulässig sind – begründet. § 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BWahlG verletzt das Recht der Beschwerdeführenden aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG.

D. I. Der Organklageantrag der CSU ist begründet. Der Beschluss des Bundestages am 17. März 2023, mit dem er das Gesetz zur Änderung des BWahlG angenommen hat, verletzt sie in ihrem Recht auf Chancengleichheit. Die Bedingungen, unter denen die Sperrklausel über das zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments Erforderliche hinausgeht, treffen auf sie zu.

II. Der Organklageantrag der Partei DIE LINKE ist unbegründet. Sie wird durch den festgestellten Verfassungsverstoß nicht in ihren eigenen Rechten verletzt. Ihre Abgeordneten bilden keine gemeinsame Fraktion mit denen einer anderen Partei. Es ist auch nicht erkennbar, dass sie eine solche beabsichtigt.

E. Die Maßgabe zur Fortgeltung der Sperrklausel unter Rückgriff auf die Wahlkreisklausel des Gesetzentwurfs ist den Parteien sowie den Wählerinnen und Wählern bekannt und stärkt überdies das Vertrauen darauf, dass die Wahlrechtsreform keine Partei benachteiligt.


Kein Anspruch auf Ausnahmegenehmigung für Gesichtsschleier (Niqab) am Steuer
Oberverwaltungsgericht Münster, 5. Juli 2024 - Eine muslimische Glaubensangehörige aus Neuss, die aus religiösen Gründen auch beim Führen eines Kraftfahrzeugs ihr Gesicht mit Ausnahme eines Sehschlitzes für die Augenpartie mit einem Gesichtsschleier in Form eines Niqab bedecken möchte, hat keinen Anspruch auf Befreiung vom Verhüllungsverbot am Steuer.


Die Bezirksregierung Düsseldorf muss aber über ihren Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung erneut entscheiden. Das hat das Oberverwaltungsgericht heute entschieden und der Berufung der Klägerin gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 01.12.2021 teilweise stattgegeben.


Zur Urteilsbegründung hat die Vorsitzende des 8. Senats ausgeführt: Die im Jahr 2017 in Kraft getretene Regelung der Straßenverkehrsordnung, nach der derjenige, der ein Kraftfahrzeug führt, sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken darf, dass er nicht mehr erkennbar ist, ist verfassungsgemäß. Das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot verfolgt den Zweck, die Erkennbarkeit und damit die Feststellbarkeit der Identität von Kraftfahrzeugführern bei automatisierten Verkehrskontrollen zu sichern, um diese bei Verkehrsverstößen heranziehen zu können. Außerdem schützt es die Rundumsicht des Kraftfahrzeugführers.


Mit dieser Zielrichtung dient es dem Schutz hochrangiger Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Eigentum) anderer Verkehrsteilnehmer. Ein allgemeiner Vorrang der Religionsfreiheit vor diesen Rechtsgütern besteht nicht. Individuellen Belangen kann mit der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung Rechnung getragen werden. Auf eine solche Ausnahmegenehmigung hat die Klägerin keinen unmittelbaren Anspruch. Die Entscheidung steht im Ermessen der Behörde.


Allerdings hat die Bezirksregierung Düsseldorf das ihr eingeräumte Ermessen bei der Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung bislang nicht fehlerfrei ausgeübt. Deshalb muss sie über den Antrag nochmals entscheiden. Bei ihrer Ablehnungsentscheidung hat die Behörde die Religionsfreiheit nicht hinreichend mit den Verbot sprechenden Belangen abgewogen.


Zu Unrecht hat sie etwa darauf abgestellt, dass das Verhüllungs- und Verdeckungsverbot auch die nonverbale Kommunikation im Straßenverkehr sichert. Diese ist, soweit sie im Straßenverkehr überhaupt erforderlich ist, durch den Niqab nicht beeinträchtigt. Die Annahme der Behörde, dass ein Niqab die Rundumsicht beeinträchtigt, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu, wovon sich der Senat in der mündlichen Verhandlung, an der die Klägerin persönlich teilgenommen hat, überzeugen konnte.


Zudem hat die Behörde alternative Möglichkeiten, um die Ziele des Verbots jedenfalls annähernd zu erreichen, wie etwa die Sicherstellung der Identifizierbarkeit der Klägerin durch ein Fahrtenbuch, bislang nicht hinreichend erwogen. Der Senat hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen kann Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden. Aktenzeichen: 8 A 3194/21 (I. Instanz: VG Düsseldorf 6 K 6386/20)


Bundesamt für Verfassungsschutz darf AfD und JA als Verdachtsfall beobachten - Bekanntgabe der Urteilsgründe
Münster, 2. Juli 2024 - Mit drei Urteilen vom 13.05.2024 hatte das Oberverwaltungsgericht nach sieben Verhandlungstagen die Berufungen der Partei „Alternative für Deutschland (AfD)“ und ihrer Jugendorganisation „Junge Alternative für Deutschland (JA)“ gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts Köln vom 08.03.2022 zurückgewiesen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf die Klägerinnen damit als Verdachtsfall beobachten und die Öffentlichkeit hierüber unterrichten.


Auch die Beobachtung des sogenannten „Flügel“ in der Vergangenheit - zunächst als Verdachtsfall, später als „erwiesen extremistische Bestrebung“ - und deren Bekanntgabe war rechtmäßig. Der Vorsitzende des 5. Senats hatte die Urteile zunächst mündlich begründet (vgl. Pressemitteilung vom 13.05.2024). Nunmehr sind in allen drei Berufungsverfahren den Beteiligten die schriftlichen Urteilsgründe übermittelt worden. Sie können im Volltext auf der Internetseite des Oberverwaltungsgerichts abgerufen werden und werden in Kürze u. a. in der kostenfrei zugänglichen Rechtsprechungsdatenbank NRWE (www.nrwe.de) veröffentlicht.


Der Senat hat in allen drei Verfahren die Revision nicht zugelassen; hiergegen kann innerhalb eines Monats nach Zustellung der vollständigen Urteile Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden, die innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung zu begründen ist.


Aktenzeichen: 5 A 1216/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 207/20), 5 A 1217/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 208/20), 5 A 1218/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 326/21)


Weitere Hinweise
Anhängig ist bei dem Oberverwaltungsgericht noch die Beschwerde der AfD und der JA (5 B 131/24) gegen den Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 05.02.2024. Gegenstand dieses Verfahrens ist der beantragte Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend die „Hochstufung“ der JA zur „erwiesen extremistischen Bestrebung“ und deren Bekanntgabe durch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Wann in diesem Verfahren eine Entscheidung ergeht, ist aktuell noch nicht abzusehen.


Juni 2024

Zu den Voraussetzungen eines Anspruchs von Anwohnern gegen die Straßenverkehrsbehörde auf Einschreiten gegen verbotswidrig auf den Gehwegen geparkte Fahrzeuge

Leipzig, 6. JUni 2024 - Anwohner können bei einer erheblichen Beeinträchtigung der bestimmungsgemäßen Gehwegbenutzung einen räumlich begrenzten Anspruch gegen die Straßenverkehrsbehörde auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über das Einschreiten gegen das verbotswidrige Gehwegparken haben. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Die Kläger begehren von der Beklagten ein straßenverkehrsbehördliches Einschreiten gegen Fahrzeuge, **die aufgesetzt auf den Gehwegen in drei Bremer Straßen geparkt werden.


Die Kläger sind Eigentümer von Häusern in den betreffenden Straßen. Die drei Straßen sind Einbahnstraßen. Die Fahrbahnen sind zwischen 5,00 und 5,50 Metern breit; auf beiden Seiten verlaufen Gehwege mit einer Breite zwischen 1,75 und 2,00 Metern. Verkehrszeichen mit Regelungen zum Halten und Parken sind nicht angeordnet. Seit Jahren wird unter anderem in den drei Straßen auf beiden Seiten nahezu durchgehend verbotswidrig aufgesetzt auf den Gehwegen geparkt.


Die gegen die Straßenverkehrsbehörde der beklagten Freien Hansestadt Bremen gerichteten Anträge der Kläger, Maßnahmen gegen das Parken auf den Gehwegen in den Straßen zu ergreifen, lehnte die Beklagte ab. Verkehrszeichen und -einrichtungen seien nicht - wie für deren Anordnung geboten - zwingend erforderlich. Das Gehwegparken sei bereits auf der Grundlage von § 12 Abs. 4 und 4a der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) verboten.


Auf die hiergegen nach erfolglosem Widerspruch erhobenen Klagen hat das Verwaltungsgericht Bremen die Beklagte unter Aufhebung der angegriffenen Bescheide verpflichtet, die Kläger unter Beachtung seiner Rechtsauffassung neu zu bescheiden; im Übrigen hat es die Klagen abgewiesen. § 12 Abs. 4 und 4a StVO habe eine drittschützende Wirkung zu ihren Gunsten. Wegen der Dauer und Häufigkeit der Beeinträchtigungen sei das Entschließungsermessen der Beklagten auf Null reduziert; die Beklagte sei zum Einschreiten verpflichtet.


Gegen dieses Urteil haben die Kläger und die Beklagte Berufung eingelegt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht Bremen die erstinstanzliche Entscheidung dahin geändert, dass eine erneute Entscheidung über die Anträge der Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts zu erfolgen habe; im Übrigen hat es die Berufungen zurückgewiesen. Wie das Verwaltungsgericht hat das Oberverwaltungsgericht eine drittschützende Wirkung von § 12 Abs. 4 und 4a StVO zugunsten der Kläger bejaht. Die Beklagte habe über das Begehren der Kläger nicht ermessensfehlerfrei entschieden.


Anders als das Verwaltungsgericht war das Oberverwaltungsgericht aber der Auffassung, dass das Entschließungsermessen der Beklagten nicht auf Null reduziert sei. Eine Pflicht, auf die Anträge der Kläger in den drei Straßen unmittelbar einzuschreiten, bestehe jedenfalls derzeit nicht. Es sei nicht zu beanstanden, wenn sie zunächst den Problemdruck in den am stärksten belasteten Quartieren zu ermitteln und ein Konzept für ein stadtweites Vorgehen umzusetzen gedenke.


Gegen das Berufungsurteil haben die Kläger und die Beklagte Revision eingelegt. Auf die Revision der Beklagten hat das Bundesverwaltungsgericht die angefochtenen Urteile geändert und die Beklagte verpflichtet, die Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts neu zu bescheiden; im Übrigen hat es die Revisionen zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat ohne Bundesrechtsverstoß angenommen, dass das § 12 Abs. 4 und 4a StVO zu entnehmende Gehwegparkverbot eine drittschützende Wirkung zugunsten der Kläger hat.


Das Verbot des Gehwegparkens schützt nicht nur die Allgemeinheit, sondern auch Anwohner, die in der Nutzung des an ihr Grundstück grenzenden Gehwegs erheblich beeinträchtigt werden. Nach den vom Oberverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen ist diese Voraussetzung bei den Klägern erfüllt. Die weitere Annahme des Berufungsgerichts, das Entschließungsermessen der Beklagten sei nicht auf Null reduziert, sie sei also noch nicht zu einem unmittelbaren Einschreiten verpflichtet, verstößt nicht gegen Bundesrecht.

Da das unerlaubte Gehwegparken nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in der gesamten Stadt, insbesondere in den innerstädtischen Lagen weit verbreitet ist, ist es nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte zunächst die am stärksten belasteten Quartiere ermittelt, Straßen mit besonders geringer Restgehwegbreite priorisiert und ein entsprechendes Konzept für ein stadtweites Vorgehen umsetzt. Auf die Revision der Beklagten waren die angefochtenen Urteile zu ändern, soweit sie den Klägern einen Anspruch in Bezug auf die "streitgegenständlichen Straßen" zuerkannt haben.


Die drittschützende Wirkung des Gehwegparkverbots aus § 12 Abs. 4 und 4a StVO ist regelmäßig - und so auch hier - auf den Gehweg beschränkt, der auf der "eigenen" Straßenseite des Anwohners verläuft; umfasst ist in der Regel auch nur der Straßenabschnitt bis zur Einmündung "seiner" Straße in die nächste (Quer-)Straße. In Bezug auf weitere Abschnitte des Gehwegs sind die Anwohner Teil des allgemeinen Kreises der Gehwegbenutzer und nicht mehr hinreichend von der Allgemeinheit unterscheidbar. Unter Beachtung der insoweit vom Berufungsurteil abweichenden Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts hat die Beklagte erneut über die Anträge der Kläger zu entscheiden.  


Maßgebliche Rechtsnormen § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO Fahrzeuge müssen die Fahrbahnen benutzen, von zwei Fahrbahnen die rechte. § 12 Abs. 4 Satz 1 StVO Zum Parken ist der rechte Seitenstreifen, dazu gehören auch entlang der Fahrbahn angelegte Parkstreifen, zu benutzen, wenn er dazu ausreichend befestigt ist, sonst ist an den rechten Fahrbahnrand heranzufahren. § 12 Abs. 4a StVO Ist das Parken auf dem Gehweg erlaubt, ist hierzu nur der rechte Gehweg, in Einbahnstraßen der rechte oder linke Gehweg, zu benutzen.  


§ 45 Abs. 1 Satz 1 StVO Die Straßenverkehrsbehörden können die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten und den Verkehr umleiten. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist.
BVerwG 3 C 5.23 - Urteil vom 06. Juni 2024

Vorinstanzen: OVG Bremen, OVG 1 LC 64/22 - Urteil vom 13. Dezember 2022 - VG Bremen, VG 5 K 1968/19 - Urteil vom 11. November 2021 -


Mai 2024

Bundesgerichtshof zu "Mogelpackungen" Urteil vom 29. Mai 2024 - I ZR 43/23
Karlsruhe, 29. Mai 2024 - Der unter anderem für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die Verpackung eines Produkts in der Regel nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der darin enthaltenen Füllmenge steht ("Mogelpackung") wenn sie nur zu etwa zwei Dritteln gefüllt ist.


Sachverhalt: Die Klägerin ist ein Verbraucherschutzverband. Die Beklagte vertreibt Kosmetik- und Körperpflegeprodukte. Die Beklagte bewarb auf ihrer Internetseite ein Herrenwaschgel in einer aus Kunststoff bestehenden Tube mit einer Füllmenge von 100 ml. In der Online-Werbung ist die Tube auf dem Verschlussdeckel stehend abgebildet. Sie ist im unteren Bereich des Verschlussdeckels transparent und gibt den Blick auf den orangefarbigen Inhalt frei.


Der darüber befindliche, sich zum Falz der Tube stark verjüngende Bereich ist nicht durchsichtig, sondern silbern eingefärbt. Die Tube ist nur im durchsichtigen Bereich bis zum Beginn des oberen, nicht durchsichtigen Bereichs mit Waschgel befüllt. Die Klägerin hält diese Werbung für unlauter, weil sie eine tatsächlich nicht gegebene nahezu vollständige Befüllung der Tube mit Waschgel suggeriere, und nimmt die Beklagte auf Unterlassung in Anspruch.

Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Das Berufungsgericht war der Auffassung, dass die Verpackung zwar dann entgegen § 3a UWG in Verbindung mit § 43 Abs. 2 MessEG ihrer Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge als vorhanden vortäusche, wenn der Verbraucher sie im Rahmen des Erwerbs im Laden in Originalgröße wahrnehme.

Im Falle des hier vorliegenden Online-Vertriebs fehle es jedoch an der Spürbarkeit eines Verstoßes gegen § 43 Abs. 2 MessEG, weil dem Verbraucher die konkrete Größe der Produktverpackung im Zeitpunkt der Beschäftigung mit dem Angebot und dem Erwerb des Produkts verborgen bleibe. Auch eine Irreführung nach § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG unter dem Gesichtspunkt der Täuschung über den Hohlraum in der Verpackung liege nicht vor. Mit ihrer vom Bundesgerichtshof zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Unterlassungsanspruch weiter.


Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die Revision hat Erfolg.
Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Nr. 3, § 3 Abs. 1, § 3a UWG in Verbindung mit § 43 Abs. 2 MessEG kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht verneint werden. Insbesondere täuscht die beanstandete Produktgestaltung entgegen § 43 Abs. 2 MessEG ihrer Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge vor, als in ihr enthalten ist.


Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt auch eine spürbare Interessenbeeinträchtigung vor. Der für diese Frage entscheidende Schutzzweck des § 43 Abs. 2 MessEG besteht darin, den Verkehr vor Fehlannahmen über die relative Füllmenge einer Fertigpackung ("Mogelpackung") zu schützen.


Dieser Schutzzweck ist unabhängig vom Vertriebsweg stets betroffen, wenn - wie im Streitfall - eine Fertigpackung ihrer Gestaltung und Befüllung nach in relevanter Weise über ihre relative Füllmenge täuscht. Der Bundesgerichtshof hat in der Sache selbst entschieden und die Beklagte zur Unterlassung gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Nr. 3, § 3 Abs. 1 und 2, § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG verurteilt.


Der Senat konnte dahinstehen lassen, ob die übrigen Voraussetzungen des § 43 Abs. 2 MessEG erfüllt sind, insbesondere, ob die Werbung für ein Produkt oder das bloße Angebot unter den Begriff der Bereitstellung auf dem Markt im Sinne des § 2 Nr. 1 MessEG fällt.


Denn soweit - wie hier - Handlungen von Unternehmen gegenüber Verbrauchern betroffen sind, kommt die Vorschrift des § 43 Abs. 2 MessEG aufgrund der vollharmonisierenden Wirkung von Art. 3 und 4 der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken nicht zur Anwendung, und die Beurteilung der Irreführung über die relative Füllmenge einer Fertigpackung hat alleine nach § 5 UWG zu erfolgen. Die beanstandete Internetwerbung für das Waschgel verstößt gegen § 5 Abs. 1 und 2 Nr. 1 UWG.


Eine wettbewerblich relevante Irreführung über die relative Füllmenge einer Fertigpackung liegt unabhängig von dem konkret beanstandeten Werbemedium grundsätzlich vor, wenn die Verpackung eines Produkts nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der darin enthaltenen Füllmenge steht. Dies ist hier der Fall, da die Waschgel-Tube nur zu etwa zwei Dritteln gefüllt ist und weder die Aufmachung der Verpackung das Vortäuschen einer größeren Füllmenge zuverlässig verhindert noch die gegebene Füllmenge auf technischen Erfordernissen beruht.


Vorinstanzen: LG Düsseldorf - Urteil vom 30. November 2021 - 37 O 42/20 OLG Düsseldorf - Urteil vom 23. März 2023 - 20 U 176/21


Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 43 Abs. 2 Mess- und Eichgesetz (MessEG) Es ist verboten, Fertigpackungen herzustellen, herstellen zu lassen, in den Geltungsbereich dieses Gesetzes zu verbringen, in Verkehr zu bringen oder sonst auf dem Markt bereitzustellen, wenn sie ihrer Gestaltung und Befüllung nach eine größere Füllmenge vortäuschen als in ihnen enthalten ist.

 § 3a Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen.

§ 5 UWG (1) Unlauter handelt, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt, die geeignet ist, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte.

 (2) Eine geschäftliche Handlung ist irreführend, wenn sie unwahre Angaben enthält oder sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über folgende Umstände enthält:

1. die wesentlichen Merkmale der Ware oder Dienstleistung wie Verfügbarkeit, Art, Ausführung, Vorteile, Risiken, Zusammensetzung, Zubehör, Verfahren oder Zeitpunkt der Herstellung, Lieferung oder Erbringung, Zwecktauglichkeit, Verwendungsmöglichkeit, Menge, Beschaffenheit, Kundendienst und Beschwerdeverfahren, geographische oder betriebliche Herkunft, von der Verwendung zu erwartende Ergebnisse oder die Ergebnisse oder wesentlichen Bestandteile von Tests der Waren oder Dienstleistungen; (…)

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG über unlautere Geschäftspraktiken Diese Richtlinie gilt für unlautere Geschäftspraktiken im Sinne des Artikels 5 zwischen Unternehmen und Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.

 Art. 4 der Richtlinie 2005/29/EG Die Mitgliedstaaten dürfen den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Warenverkehr nicht aus Gründen, die mit dem durch diese Richtlinie angeglichenen Bereich zusammenhängen, einschränken. Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29/EG Unlautere Geschäftspraktiken sind insbesondere solche, die a) irreführend im Sinne der Artikel 6 und 7 (…) sind.

Haltung von Hahn "Big Foot" im Wohngebiet zu Recht untersagt
Münster, 29. Mai 2024 - Die Stadt Düsseldorf hat Hühnerhaltern in der Tannenhofsiedlung in DüsseldorfVennhausen zu Recht aufgegeben, die Haltung des Hahns „Bigfoot“ auf ihrem Grundstück einzustellen. Dies hat das Oberverwaltungsgericht in einem Eilverfahren entschieden und eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf bestätigt. Die Antragsteller sind Eigentümer eines Grundstücks in einem allgemeinen Wohngebiet in Düsseldorf-Vennhausen. Sie halten in ihrem Garten vier Hennen und einen Hahn namens „Bigfoot“.


Nach einer Nachbarbeschwerde forderte die Stadt Düsseldorf sie per Ordnungsverfügung auf, die Haltung des Hahns einzustellen und ihn innerhalb von zwei Wochen vom Grundstück zu entfernen, und untersagte die künftige Haltung eines oder mehrerer Hähne auf dem Grundstück. Die Haltung der Hennen beanstandete sie nicht. Den daraufhin gestellten Eilantrag der Tierhalter lehnte das Verwaltungsgericht Düsseldorf ab. Die dagegen erhobene Beschwerde hatte beim Oberverwaltungsgericht keinen Erfolg.


Zur Begründung hat der 10. Senat des Oberverwaltungsgerichts ausgeführt: Ob Nebenanlagen zur Tierhaltung in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig sind oder ob sie der Eigenart des Baugebiets widersprechen, beurteilt sich nach der örtlichen Situation im jeweiligen Einzelfall. Hier hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf angenommen, die Haltung eines Hahns im rückwärtigen Gartenbereich auf einer 220 m² großen Fläche (inklusive des Stallgebäudes) im unmittelbaren Grenzbereich zum Nachbargrundstück widerspreche der Eigenart dieses Wohngebiets mit - infolge einer Innenverdichtung - relativ kleinen Wohngrundstücken.


Mit ihren Einwänden gegen diese Einzelfallbewertung dringen die Antragsteller nicht durch. Dass es in der näheren Umgebung weitere Hühnerhaltungen mit Hähnen gebe, legen sie nicht substantiiert dar. Ob „Bigfoot“ viel oder wenig kräht, war für das Verwaltungsgericht nicht entscheidend. Da es alleine um eine baurechtliche Prüfung der Zulässigkeit der Tierhaltung geht, konnten die Antragsteller mit ihrer Argumentation nicht durchdringen, die Haltung des Hahns erfolge im Rahmen einer artgerechten und nachhaltigen Hühnerhaltung, weil der Hahn in der Gruppe für Ruhe sorge und diese vor Angriffen durch Greifvögel beschütze.

Ebenso kommt es nicht darauf an, dass die Antragsteller auch in einem allgemeinen Wohngebiet nachhaltig leben wollen, indem sie sich mit Eiern aus der eigenen Haltung versorgen, zumal es dazu keines Hahns bedarf. Der Beschluss ist unanfechtbar. Aktenzeichen: 10 B 368/24 (I. Instanz: VG Düsseldorf 4 L 2878/23)


Online-Kündigungsprozess von Verbraucherverträgen soll möglichst einfach sein Düsseldorf, 23. Mai 2024 - Der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf unter Leitung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Erfried Schüttpelz hat heute einer Unterlassungsklage eines Verbraucherschutzverbands stattgegeben und einem Versorgungsunternehmen untersagt, online eine Kündigungsbestätigungsseite vorzuhalten, die erst durch Eingabe von Benutzername und Passwort oder Eingabe von Vertragskontonummer und Postleitzahl der Verbrauchsstelle erreichbar und damit nicht unmittelbar und leicht zugänglich ist.


Die Beklagte bietet auf ihrer Website Verbraucherinnen und Verbrauchern den Abschluss von verschiedenen Strom- und Gasverträgen an. Auf ihrer Homepage findet sich am unteren Ende der Rubrik "Kontakt" eine Schaltfläche "Verträge kündigen". Wählen Verbraucherinnen und Verbraucher diese aus, gelangen sie zu einer Anmeldemaske, mithilfe derer sie sich zunächst identifizieren sollen, bevor sie in den Kündigungsbereich gelangen. Hierfür können sich registrierte Kundinnen und Kunden mit ihrem Benutzernamen und dem zugehörigen Passwort anmelden.


Nicht registrierte Kundinnen und Kunden müssen zunächst die Vertragskontonummer und die Postleitzahl der Verbrauchsstelle angeben, um sich zu legitimieren. Die Identifizierung, ob per Benutzername oder Vertragskontonummer, wird erst mit Bestätigung des Buttons "Anmelden" abgeschlossen. Eine Möglichkeit, den Vertrag direkt über eine Kündigungsschaltfläche zu kündigen, ohne sich auf eine der zwei vorgenannten Alternativen anmelden zu müssen, existiert nicht. Nach erfolgloser vorgerichtlicher Abmahnung beantragt der Verbraucherschutzverband u.a. die Untersagung des so gestalteten Kündigungsprozesses.


Der 20. Zivilsenat hat in seiner heute verkündeten Entscheidung ausgeführt, der von der Beklagten über ihre Website gestaltete Kündigungsprozess verstoße gegen die den Verbraucher schützende Regelung des § 312k Abs. 2 S. 3 BGB. Nach dieser gesetzlichen Regelung sei ein Kündigungsprozess zweistufig aufgebaut: Er beginne mit einer "Kündigungsschaltfläche", nach deren Betätigung der Verbraucher unmittelbar auf eine "Bestätigungsseite" geführt werde, auf der der Verbraucher Angaben zu seiner Kündigung machen könne und die wiederum einen Bestätigungsbutton mit einer eindeutigen Formulierung wie "jetzt kündigen" enthalte.


Die Beklagte habe die "Bestätigungsseite" nicht entsprechend dieser gesetzlichen Vorgaben gestaltet. Vielmehr sei diese dergestalt aufgespalten, dass Kundinnen und Kunden zunächst auf eine Website geleitet würden, auf der sie bestimmte Anmeldeinformationen zum Kundenkonto oder zu der sie identifizierenden Vertragskontonummer angegeben müssten. Diese Seite enthalte jedoch nicht die weiteren gesetzlich vorgeschriebenen Angaben und insbesondere keine Bestätigungsschaltfläche mit einer Formulierung wie "jetzt kündigen".


Auf eine diese Merkmale enthaltende gesonderte Website würden die Verbraucherinnen und Verbraucher vielmehr erst dann weitergeleitet, wenn sie sich erfolgreich angemeldet hätten. Eine solche Gestaltung der Website zur Kündigung des Versorgungsvertrages sei nicht zulässig. Die Betätigung der Kündigungsschaltfläche müsse vielmehr unmittelbar zu der Bestätigungsseite mit sämtlichen vorgeschriebenen Merkmalen - insbesondere der Bestätigungsschaltfläche "jetzt kündigen" führen. Dies setze voraus, dass die Bestätigungsseite aus einer einheitlichen Webseite bestehe.


Die Kündigung würde momentan dadurch erschwert, dass eine weitere – im Gesetz nicht vorgesehene – Schaltfläche eingebaut werde. Diese Aufspaltung der Bestätigungsseite in (zumindest) zwei unabhängige Webseiten führe zu einem (zumindest) dreistufigen Kündigungsprozess und laufe dem Bestreben des Gesetzgebers zugegen, eine möglichst einfache Kündigung zu ermöglichen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Der Senat hat die Revision zugelassen, weil bislang höchstrichterliche Rechtsprechung zu § 312k BGB fehlt.




Bundesamt für Verfassungsschutz darf AfD und JA als Verdachtsfall beobachten

Münster, 13. Mai 2024 - Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf die Partei „Alternative für Deutschland (AfD)“ und ihre Jugendorganisation „Junge Alternative für Deutschland (JA)“ als Verdachtsfall beobachten und die Öffentlichkeit hierüber unterrichten. Auch die Beobachtung des sogenannten „Flügel“ in der Vergangenheit - zunächst als Verdachtsfall, später als „erwiesen extremistische Bestrebung“ - und deren Bekanntgabe waren rechtmäßig.


Dies hat das Oberverwaltungsgericht nach sieben Verhandlungstagen heute mit drei Urteilen entschieden. Die Berufungen der AfD und der JA gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts Köln vom 08.03.2022 waren damit erfolglos. Zur Urteilsbegründung hat der Vorsitzende des 5. Senats ausgeführt: Die AfD hat keinen Anspruch auf Unterlassung der Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Die Regelungen des Bundesverfassungsschutzgesetzes stellen eine ausreichende rechtliche Grundlage für die Beobachtung als Verdachtsfall dar. Dies gilt auch für politische Parteien, welche unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes stehen.


  Die Befugnis zur nachrichtendienstlichen Beobachtung besteht, wenn ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die betroffene Vereinigung Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Bloße Vermutungen oder Spekulationen genügen nicht. Was für einen Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen ausreicht, führt aber auch nicht zwangsläufig zur Annahme einer erwiesen extremistischen Bestrebung.


  Nach Überzeugung des Senats liegen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass die AfD Bestrebungen verfolgt, die gegen die Menschenwürde bestimmter Personengruppen sowie gegen das Demokratieprinzip gerichtet sind. Es besteht der begründete Verdacht, dass es den politischen Zielsetzungen jedenfalls eines maßgeblichen Teils der AfD entspricht, deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuzuerkennen. Dies stellt eine nach dem Grundgesetz unzulässige Diskriminierung aufgrund der Abstammung dar, die mit der Menschenwürdegarantie nicht zu vereinbaren ist.


Verfassungswidrig und mit der Menschenwürde unvereinbar ist nicht die deskriptive Verwendung eines „ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“, aber dessen Verknüpfung mit einer politischen Zielsetzung, mit der die rechtliche Gleichheit aller Staatsangehörigen in Frage gestellt wird. Hier bestehen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für derartige diskriminierende Zielsetzungen. Dem Senat liegt eine große Anzahl von gegen Migranten gerichteten Äußerungen vor, mit denen diese auch unabhängig vom Ausmaß ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft systematisch ausgegrenzt werden und trotz ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ihre vollwertige Zugehörigkeit zum deutschen Volk in Frage gestellt wird.


Daneben bestehen hinreichende Anhaltspunkte für den Verdacht, dass die AfD Bestrebungen verfolgt, die mit einer Missachtung der Menschenwürde von Ausländern und Muslimen verbunden sind. In der AfD werden in großem Umfang herabwürdigende Begriffe gegenüber Flüchtlingen und Muslimen verwendet, zum Teil in Verbindung mit konkreten, gegen die gleichberechtigte Religionsausübung von Muslimen gerichteten Forderungen.


  Nach Auffassung des Senats liegen bei der AfD darüber hinaus Anhaltspunkte für demokratiefeindliche Bestrebungen vor, wenn auch nicht in der Häufigkeit und Dichte wie vom Bundesamt angenommen. Der Senat war nicht gehalten, weitere Aufklärungsmaßnahmen betreffend die sogenannte Staats- und Quellenfreiheit der AfD zu ergreifen. Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Parteiverbot bzw. zum Ausschluss von der Parteienfinanzierung folgt nicht, dass auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren über die Beobachtung durch den Verfassungsschutz etwaige Quellen „abgeschaltet“ werden müssen.


  Anhaltspunkte dafür, dass das Bundesamt bei der Einstufung und Beobachtung der AfD als Verdachtsfall aus sachwidrigen und parteipolitischen Motiven gehandelt hat oder handelt, liegen nicht vor. Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist auf der Grundlage des Bundesverfassungsschutzgesetzes auch berechtigt, die Öffentlichkeit über die Einstufung als Verdachtsfall zu informieren.

  Die bestehenden Anhaltspunkte sind, wie es das Gesetz vorsieht, hinreichend gewichtig. Dies gilt, obwohl die AfD durch die Bekanntgabe in ihren Rechtspositionen als politische Partei beeinträchtigt wird. Die maßgebliche Vorschrift ist durch den Gesetzgeber gerade im Hinblick auf die Verlautbarung von Verdachtsfällen geändert worden und soll auch diesen Fall umfassen. Eine sachlich richtige und weltanschaulich-politisch neutrale Bekanntgabe, dass das Bundesamt Informationen über mögliche verfassungsfeindliche Bestrebungen bei der AfD sammelt, belastet diese daher auch nicht unverhältnismäßig, jedenfalls solange mit der Bezeichnung als „Verdachtsfall“ in keiner Weise der Eindruck erweckt wird, es stehe fest, dass die AfD gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolgt.


Dass das Bundesamt und sein Präsident im Übrigen bei der Art und Weise der Information der Öffentlichkeit und ihrer sonstigen Öffentlichkeitsarbeit nicht völlig frei sind, sondern gerichtlicher Kontrolle unterliegen, ist selbstverständlich, aber nicht Gegenstand der hiesigen Verfahren. Auch die JA kann nicht verlangen, dass die Beobachtung als Verdachtsfall und die entsprechende Bekanntgabe unterbleiben. Es finden sich hier ebenso tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen, namentlich gegen die Menschenwürde von bestimmten Personengruppen.


  Es besteht der begründete Verdacht, dass die JA deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund die Anerkennung als gleichberechtigte Mitglieder der rechtlich verfassten Gemeinschaft versagen will. Dies ergibt sich im Ausgangspunkt aus dem bei Einstufung als Verdachtsfall noch geltenden „Deutschlandplan“ und den dortigen Ausführungen zur Migrationspolitik und Einwanderung. Die Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen sind in der Folge nicht entfallen, obgleich es im Programm der JA Änderungen gegeben hat. Ebenso besteht der begründete Verdacht, dass ihre politischen Vorstellungen auf eine Missachtung der Menschenwürde und eine glaubensbezogene Diskriminierung von Muslimen zielen.


  Auch in Bezug auf die JA erweist sich die Bekanntgabe der Einstufung auf der Grundlage des Bundesverfassungsschutzgesetzes als gerechtfertigt. Die Berufung der AfD betreffend den „Flügel“ hatte ebenfalls keinen Erfolg. Die - zwischenzeitlich eingestellte - Beobachtung des „Flügel“ als Verdachtsfall und später als „erwiesen extremistische Bestrebung“ waren rechtmäßig. Bei dem „Flügel“ handelte es sich um einen Personenzusammenschluss im Sinne des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Auch wenn keine formelle Mitgliedschaft bestand, besaß er eine hinreichend verfestigte Organisationsstruktur. Es bestand zunächst der Verdacht, dass sich die politischen Zielsetzungen des „Flügel“ gegen die Menschenwürde von bestimmten Personengruppen richteten.


Die dokumentierten Äußerungen rechtfertigten am 12.03.2020, dem Tag der Bekanntgabe der „Hochstufung“, auch die über den Verdacht hinausgehende Schlussfolgerung, die Ziele des „Flügel“ richteten sich tatsächlich gegen den Schutz der Menschenwürde, namentlich von Deutschen mit Migrationshintergrund sowie deutschen und ausländischen Staatsangehörigen islamischen Glaubens. Die Bekanntgabe der Einstufungen war ebenfalls rechtmäßig.


  Der Senat hat in allen drei Verfahren die Revision nicht zugelassen; hiergegen kann Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden.


Aktenzeichen: 5 A 1216/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 207/20), 5 A 1217/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 208/20), 5 A 1218/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 326/21)

Weitere Hinweise Anhängig ist bei dem Oberverwaltungsgericht noch die Beschwerde der AfD und der JA (5 B 131/24) gegen den Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 05.02.2024. Gegenstand dieses Verfahrens ist der beantragte Erlass einer einstweiligen Anordnung betreffend die „Hochstufung“ der JA zur „erwiesen extremistischen Bestrebung“ und deren Bekanntgabe durch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Wann in diesem Verfahren eine Entscheidung ergeht, ist aktuell noch nicht abzusehen.


April 2024

Konsumcannabisgesetz – Bundesgerichtshof setzt Grenzwert der nicht geringen Menge für Tetrahydrocannabinol (THC) auf 7,5 g fest
Karlsruhe, 23. April 2024 - Das Landgericht Ulm hatte die Angeklagten A. und M. wegen Betäubungsmitteldelikten im Zusammenhang mit dem Betrieb einer Marihuanaplantage nach der bisher geltenden Rechtslage jeweils zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.


Auf der Grundlage der vom Landgericht getroffenen Feststellungen hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil im Verfahren über die Revisionen der beiden Angeklagten entsprechend den zum 1. April 2024 in Kraft getretenen Bestimmungen des Konsumcannabisgesetzes (KCanG) im Schuldspruch jeweils neu gefasst. Zudem hat er den Grenzwert der nicht geringen Menge i.S. von § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4 KCanG auf 7,5 g Tetrahydrocannabinol (THC) festgesetzt.


Infolge des gegenüber der bisherigen Rechtslage niedrigeren Strafrahmens des § 34 Abs. 3 Satz 1 KCanG hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil im Strafausspruch aufgehoben und insoweit zur erneuten Strafbemessung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Beschluss vom 18. April 2024 - 1 StR 106/24


Vorinstanz: LG Ulm - Urteil vom 18. Dezember 2023 - 2 KLs 73 Js 9434/23 Die maßgeblichen Vorschriften des KCanG lauten: § 34 Strafvorschriften (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer 1. entgegen § 2 Absatz 1 Nummer 1 a)… b)…. c) mehr als drei lebende Cannabispflanzen besitzt, 2. … a)…. b)…. 3. …. 4.

entgegen § 2 Absatz 1 Nummer 4 mit Cannabis Handel treibt, …. (3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter 1. … 2. … 3. … 4.

eine Straftat nach Absatz 1 begeht und sich die Handlung auf eine nicht geringe Menge bezieht. § 2 Umgang mit Cannabis (1) Es ist verboten, 1. Cannabis zu besitzen, 2. Cannabis anzubauen, 3. Cannabis herzustellen, 4. mit Cannabis Handel zu treiben,




Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Journalisten gegen die gerichtliche Untersagung einer kritischen Äußerung über die Bundesregierung
Karlsruhe, 16. April 2024 - Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines Journalisten stattgeben. Dieser wendet sich gegen eine einstweilige Verfügung, durch die ihm eine kritische Äußerung gegenüber der Bundesregierung untersagt wurde.


Im August 2023 veröffentlichte der Beschwerdeführer auf der Kommunikationsplattform „X“ die Kurznachricht „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“. In der Kurznachricht verlinkt war der Artikel eines Online-Nachrichtenmagazins mit der Überschrift „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“.


Das Kammergericht untersagte dem Beschwerdeführer auf Antrag der Bundesregierung die Äußerung „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!).“


Die Äußerung sei eine unwahre Tatsachenbehauptung, die geeignet sei, das Vertrauen der Bevölkerung in die Tätigkeit der Bundesregierung zu gefährden. Hiergegen wendet sich dieser mit seiner Verfassungsbeschwerde.


Die Entscheidung des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Sie verfehlt erkennbar den Sinn der angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer Meinungsäußerung.
Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Indem das Kammergericht für seine Beurteilung die in der Kurznachricht wiedergegebene Schlagzeile ausblendet, verharrt seine Sinndeutung auf einer isolierten Betrachtung des Kurznachrichtentextes.


Verwaltungsgericht Aachen: Hautkrebs-Erkrankung eines Polizisten keine Berufskrankheit
Aachen, 15. April 2024 - Ein ehemaliger Polizist hat keinen Anspruch auf Anerkennung seiner Hautkrebserkrankung als Berufskrankheit infolge früher wahrgenommener Tätigkeiten u.a. im Streifendienst. Das hat das Verwaltungsgericht Aachen mit heute verkündetem Urteil entschieden.  


Der Kläger begründete seine Klage damit, er sei während seiner nahezu 46-jährigen Dienstzeit zu erheblichen Teilen im Außendienst eingesetzt gewesen, ohne dass sein Dienstherr ihm Mittel zum UV-Schutz zur Verfügung gestellt oder auch nur auf die Notwendigkeit entsprechender Maßnahmen hingewiesen habe. Infolgedessen leide er unter Hautkrebs am Kopf, im Gesicht und an den Unterarmen.  


Das Verwaltungsgericht hat die Ablehnung der Anerkennung als Berufskrankheit durch das LKA NRW bestätigt. Zur Begründung hat der Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Markus Lehmler als Vorsitzender u.a. ausgeführt:   Die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Dienstunfall liegen hier nicht vor. Erforderlich ist im Fall von durch UV-Strahlung ausgelöstem Hautkrebs, dass der betroffene Beamte bei der Ausübung seiner Tätigkeit der Gefahr der Erkrankung besonders ausgesetzt ist, d.h. das Erkrankungsrisiko aufgrund der dienstlichen Tätigkeit in entscheidendem Maß höher als das der Allgemeinbevölkerung ist.


Davon kann bei Polizeibeamten im Außendienst nicht die Rede sein. Polizisten bewegen sich im Außendienst in unterschiedlichen örtlichen Begebenheiten und nicht nur bei strahlendem Sonnenschein im Freien. Zudem gibt es keine Referenzfälle, obwohl das Thema Hautkrebs durch UV-Strahlung bereits seit Jahrzehnten bekannt ist.   Gegen das Urteil kann der Kläger einen Antrag auf Zulassung der Berufung stellen, über den das Oberverwaltungsgericht in Münster entscheidet.   Aktenzeichen: 1 K 2399/23

Erfolgreiches Organstreitverfahren wegen Nichtvorlage von Akten an den "PUA II – Hochwasserkatastrophe"

Verfassungsgerchtshof Münster, 9. April 2024 - Die Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen Ina Scharrenbach hat einen Beweisbeschluss zur Vorlage von Akten an den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss II der 18. Wahlperiode des nordrheinwestfälischen Landtags ("PUA II – Hochwasserkatastrophe") nur unzureichend erfüllt und dadurch die sich aus der Landesverfassung ergebenden Rechte der Ausschussminderheit verletzt.


Das hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster mit einem heute verkündeten Urteil entschieden. Der "PUA II – Hochwasserkatastrophe" soll mögliche Versäumnisse, Fehleinschätzungen und mögliches Fehlverhalten der damaligen Landesregierung, insbesondere der zuständigen Ministerien sowie der ihnen nachgeordneten Behörden während der Hochwasserkatastrophe untersuchen, die sich Mitte Juli 2021 insbesondere im Ahrtal und im Süden Nordrhein-Westfalens ereignet hatte. Er setzt die Arbeit des PUA V der 17. Wahlperiode fort.


Mit Beweisbeschlusses Nr. 13 forderte der Untersuchungsausschuss im November 2022 unter anderem bei der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung die in ihrem Geschäftsbereich vorhandenen Akten und sonstigen Unterlagen an, die mit dem Untersuchungsauftrag im Zusammenhang stehen. Die Ministerin legte daraufhin zehn Blatt Akten vor. Eine Vorlage weiterer Akten lehnte sie mit der Begründung ab, dass der Untersuchungsauftrag ausdrücklich auf die Phase während der Hochwasserkatastrophe beschränkt sei und damit lediglich den Zeitraum vom Einsetzen des Starkregens bis zum Abfließen der Wassermassen erfasse.


Die Antragstellerin, die im PUA II eine qualifizierte Minderheit bestehend aus den drei stimmberechtigten Mitgliedern der SPD-Fraktion bildet, hat im März 2023 vor dem Verfassungsgerichtshof ein Organstreitverfahren gegen die Ministerin (Antragsgegnerin) eingeleitet. Sie ist der Auffassung, der Text des aktuellen Untersuchungsauftrags müsse vor dem Hintergrund des bereits in der 17. Legislaturperiode ausgetragenen Konflikts um dessen Reichweite interpretiert werden. So sei der Terminus "zur Abwehr von Gefahren" aus dem Untersuchungsauftrag des PUA V der 17. Legislaturperiode ausdrücklich gestrichen worden, um den Untersuchungsauftrag auszuweiten.


Eine enge zeitliche Beschränkung sei mit diesem Erweiterungsgedanken nicht zu vereinbaren. Die Antragsgegnerin hält demgegenüber an ihrer Argumentation fest und macht darüber hinaus geltend, dass der zugrundeliegende Beweisbeschluss Nr. 13 zu unbestimmt sei.


Mit dem heute verkündeten Urteil hat der Verfassungsgerichtshof der Organklage der Antragstellerin stattgegeben. In ihrer mündlichen Urteilsbegründung hat die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Prof. Dr. Dr. h.c. Dauner-Lieb unter anderem ausgeführt:
Die Antragsgegnerin verletzt durch ihre Weigerung das Untersuchungsrecht der Antragstellerin aus Art. 41 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Art. 41 Abs. 2 Satz 3 LV.


Bei der Auslegung des Beweisbeschlusses ergibt sich, dass der Untersuchungsauftrag zeitlich nicht auf den Zeitraum bis zum Abfließen der Wassermassen beschränkt ist, sondern die Zeit vom 9. Juli bis zum 9. September 2021 erfasst. Denn dieser Untersuchungszeitraum wurde durch den Landtag im Einsetzungsbeschluss explizit festgehalten. Die weiteren Auslegungsmethoden führen zu keinem anderen Ergebnis. Insbesondere spricht der historische Kontext gegen die von der Antragsgegnerin vorgenommene zeitliche Einschränkung.


Die Rüge der Antragsgegnerin, der Beweisbeschluss Nr. 13 sei nicht hinreichend bestimmt, ist im vorliegenden Verfahren nicht Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung. Aufgrund des Grundsatzes der Organtreue hätte sie bereits vorprozessual ihre Entscheidung hiermit begründen müssen, damit die Antragstellerin die Berechtigung der Vorlageverweigerung insoweit hätte nachvollziehen und rechtliche Schritte prüfen können. Artikel 41 Absatz 1 Satz 1 und 2 LV


Der Landtag hat das Recht und auf Antrag von einem Fünftel der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Artikel 41 Absatz 2 LV Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet. Sie sind insbesondere verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen nachzukommen. Die Akten der Behörden und öffentlichen Körperschaften sind ihnen auf Verlangen vorzulegen. Aktenzeichen: VerfGH 31/23


Februar 2024

Abschuss der Wölfin Gloria im Kreis Wesel bleibt gestoppt: Oberverwaltungsgericht weist Beschwerden des Kreises zurück - Die drei Beschlüsse sind unanfechtbar
Münster, 9. Februar 2024 - Die Wölfin Gloria, für die der Kreis Wesel im Dezember 2023 eine bis zum 15.02.2024 befristete naturschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung zum Abschuss der unter strengem Artenschutz stehenden Wölfin Gloria erteilt hat, darf weiterhin nicht abgeschossen werden. Das hat das Oberverwaltungsgericht heute mit drei Beschlüssen entschieden.


Der Kreis hatte seine für sofort vollziehbar erklärte Ausnahmegenehmigung damit begründet, dass der Abschuss von Gloria erforderlich sei, um zu verhindern, dass diese weiterhin Weidetiere reiße und damit ernste landwirtschaftliche Schäden verursache. Auf die Anträge von drei Naturschutzverbänden stoppte das Verwaltungsgericht Düsseldorf die Vollziehung der Ausnahmegenehmigung mit Beschlüssen vom 17.01.2024. Zur Begründung führte es aus, der Kreis habe nicht schlüssig dargelegt, dass durch das Rissverhalten von Gloria ernste landwirtschaftliche Schäden drohten.


Die hiergegen gerichteten Beschwerden des Kreises hat das Oberverwaltungsgericht nunmehr zurückgewiesen und damit den Stopp der Vollziehung der Ausgenehmigung zum Abschuss von Gloria bestätigt. Zur Begründung hat der 21. Senat des Oberverwaltungsgerichts ausgeführt: Eine Vollziehung der Ausnahmegenehmigung kommt nicht in Betracht, weil diese an mehreren Fehlern leidet. Der Kreis hat nicht dargelegt, dass Gloria ein problematisches, auf geschützte Weidetiere ausgerichtetes Jagdverhalten zeigt.


Ferner ist die Schadensprognose des Kreises defizitär, weil sich aus ihr der Umfang der angenommenen zukünftigen Schäden nicht ergibt. Dies macht auch die Ermessensausübung des Kreises fehlerhaft, weil die von ihm vorgenommene Abwägung zwischen artenschutzrechtlichen und wirtschaftlichen Belangen ohne Benennung des Umfangs der zukünftigen Schäden nicht brauchbar ist.


Schließlich liegt auf der Hand, dass sich der Erhaltungszustand der lokalen Wolfspopulation im Westmünsterland durch den Abschuss von Gloria verschlechtert, weil dadurch der Umfang der Population um ein Drittel reduziert wird und zudem Gloria das einzige fortpflanzungsfähige Weibchen ist. Der vom Kreis angenommene Ausgleich in Gestalt des Zuzugs eines anderen Weibchens ist lediglich spekulativ. Auch bei einer reinen Vollzugsfolgenabwägung wäre die Vollziehung der Ausgenehmigung zu stoppen.


Der Abschuss von Gloria bedingte einen endgültigen artenschutzrechtlichen Schaden, der auch nicht ohne Weiteres kompensierbar wäre. Der auf der anderen Seite zu berücksichtigende landwirtschaftliche Schaden in Gestalt gerissener Weidetiere würde dagegen aufgrund bestehender Entschädigungsregelungen für Nutztierhalter kompensiert. Die damit einhergehende Belastung der Steuern zahlenden Allgemeinheit erscheint vergleichsweise marginal.

Die drei Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts sind unanfechtbar.
Aktenzeichen: 21 B 74/24, 21 B 75/24, 21 B 76/24 (I. Instanz: VG Düsseldorf 28 L 3333/23, 28 L 3345/23, 28 L 3349/23)


Zulässigkeit von baulichen Veränderungen des Gemeinschaftseigentums zur Barrierereduzierung Urteile vom 9. Februar 2024 – V ZR 244/22 und V ZR 33/23

Karlsruhe, 9. Februar 2024 - Der unter anderem für das Wohnungseigentumsrecht zuständige V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute auf der Grundlage des im Jahr 2020 reformierten Wohnungseigentumsrechts in zwei Verfahren über die Voraussetzungen und Grenzen baulicher Veränderungen des Gemeinschaftseigentums entschieden, die von einzelnen Wohnungseigentümern als Maßnahmen zur Barrierereduzierung (Errichtung eines Personenaufzugs bzw. Errichtung einer 65 Zentimeter erhöhten Terrasse nebst Zufahrtsrampe) verlangt wurden.


Verfahren V ZR 244/22 Sachverhalt: Die Kläger sind Mitglieder der beklagten Gemeinschaft der Wohnungseigentümer. Die Anlage besteht aus zwei zwischen 1911 und 1912 im Jugendstil errichteten Wohnhäusern und steht unter Denkmalschutz. Das Vorderhaus erhielt im Jahr 1983 den Fassadenpreis der Stadt München. Die Wohneinheiten der Kläger befinden sich im dritten und vierten Obergeschoss des Hinterhauses (ehemaliges "Gesindehaus"), bei dem die Fassade und das enge Treppenhaus im Vergleich zum Vorderhaus eher schlicht gehalten sind.


Ein Personenaufzug ist nur für das Vorderhaus vorhanden. In der Eigentümerversammlung vom 26. Juli 2021 wurde unter anderem ein Antrag der nicht körperlich behinderten Kläger abgelehnt, ihnen auf eigene Kosten die Errichtung eines Außenaufzugs am Treppenhaus des Hinterhauses als Zugang für Menschen mit Behinderungen zu gestatten. Mit der Beschlussersetzungsklage wollen die Kläger erreichen, dass die Errichtung des Personenaufzugs dem Grunde nach beschlossen ist. Bisheriger Prozessverlauf: Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen.


Auf die Berufung der Kläger hat das Landgericht durch Urteil den Beschluss ersetzt, dass am Hinterhaus auf der zum Innenhof gelegenen Seite ein Personenaufzug zu errichten ist. Dagegen wendet sich die Beklagte mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der Bundesgerichtshof hat die Revision zurückgewiesen. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde:
Mit einem Grundlagenbeschluss, den das Berufungsgericht ersetzt hat, wird eine verbindliche Regelung über die Errichtung des von den Klägern begehrten Personenaufzuges für das Hinterhaus begründet und die spätere Durchführung legitimiert. Der Klage ist zu Recht stattgegeben worden, weil der geltend gemachte Anspruch gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WEG auf eine Beschlussfassung besteht und nach § 20 Abs. 4 WEG die Grenzen einer zulässigen Bebauung eingehalten werden.


Bedenken gegen die Beschlusskompetenz bestehen nicht. Nach dem seit dem 1. Dezember 2020 geltenden Wohnungseigentumsrecht können die Wohnungseigentümer eine bauliche Veränderung grundsätzlich auch dann beschließen, wenn die Beschlussfassung die Zuweisung einer ausschließlichen Nutzungsbefugnis (§ 21 Abs. 1 Satz 2 WEG) an dem dafür vorgesehenen Gemeinschaftseigentum zur Folge hat, wie dies hier hinsichtlich des Aufzugs der Fall ist.

Die von den Klägern erstrebte Errichtung eines Personenaufzugs stellt eine angemessene bauliche Veränderung dar, die dem Gebrauch durch Menschen mit Behinderungen dient (§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WEG). Die Angemessenheit ist nur ausnahmsweise zu verneinen, wenn mit der Maßnahme Nachteile verbunden sind, die über die Folgen hinausgehen, die typischerweise mit der Durchführung einer privilegierten baulichen Veränderung einhergehen. Eingriffe in die Bausubstanz, übliche Nutzungseinschränkungen des Gemeinschaftseigentums und optische Veränderungen der Anlage etwa aufgrund von Anbauten können die Unangemessenheit daher regelmäßig nicht begründen.


Die Kosten der baulichen Veränderung sind für das Bestehen eines Anspruchs nach § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG grundsätzlich ohne Bedeutung, da sie gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 WEG von dem verlangenden Wohnungseigentümer zu tragen sind. Vor diesem Hintergrund bejaht das Berufungsgericht zu Recht die Angemessenheit der Maßnahme. Weiterer Vortrag war von den Klägern nicht zu verlangen. Zwar trägt die Darlegungs- und Beweislast für die tatsächlichen Umstände der Angemessenheit einer baulichen Veränderung der klagende Wohnungseigentümer.


Da der Gesetzgeber aber die Angemessenheit als Regel ansieht, obliegt der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer die Darlegung, warum ein atypischer Fall vorliegt. Hieran fehlt es. Eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage im Sinne von § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 1 WEG, die dem Anspruch entgegenstehen könnte, ist mit der Errichtung eines Aufzugs nicht verbunden. Insoweit ist zunächst zu beachten, dass nicht jede bauliche Veränderung, die nach § 22 Abs. 2 Satz 1 WEG aF die Eigenart der Wohnanlage änderte, auch im Sinne des neuen § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 1 WEG zu einer grundlegenden Umgestaltung führt.


Nach nunmehr geltendem Recht ist bei einer Maßnahme, die der Verwirklichung eines Zweckes i.S.d. § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG dient, eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage zumindest typischerweise nicht anzunehmen. Der von dem Gesetzgeber im gesamtgesellschaftlichen Interesse erstrebten Privilegierung bestimmter Kategorien von Maßnahmen - unter anderem zur Förderung der Barrierefreiheit - ist bei der Prüfung, ob eine grundlegende Umgestaltung vorliegt, im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses Rechnung zu tragen.


Außergewöhnliche Umstände, die eine solche Ausnahme von der Regel begründen könnten, liegen auf der Grundlage der Feststellungen des Berufungsgerichts nicht vor. Es lässt sich auch keine unbillige Benachteiligung eines Wohnungseigentümers im Sinne von § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 2 WEG feststellen. Mit dem Verbot, einen Wohnungseigentümer ohne sein Einverständnis gegenüber anderen unbillig zu benachteiligen, knüpft das Gesetz an die Regelung in § 22 Abs. 2 Satz 1 WEG aF zu den Grenzen der Zulässigkeit von Modernisierungsmaßnahmen an.


Die von dem Berufungsgericht insoweit vorgenommene tatrichterliche Würdigung weist keine Rechtsfehler auf. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass Verschattungen- und Lärmbeeinträchtigungen etwa durch den konkreten Standort der Aufzugsanlage, durch die Größe sowie die bauliche Gestaltung des Aufzugs einschließlich der verwendeten Materialien bis zu einem gewissen Grad noch bei der Entscheidung über die Art und Weise der Durchführung (§ 20 Abs. 2 Satz 2 WEG) steuerbar sind.


Verfahren V ZR 33/23 Sachverhalt: Die Kläger und die Streithelferin der Beklagten sind Mitglieder der beklagten Gemeinschaft der Wohnungseigentümer. Die Anlage besteht aus drei miteinander verbundenen Häusern mit jeweils zwei Wohnungen im Erdgeschoss und zwei weiteren Wohnungen im ersten Obergeschoss. Im rückwärtigen Teil des Anwesens befindet sich eine Gartenfläche, an der den Erdgeschosswohnungen zugewiesene Sondernutzungsrechte gebildet wurden. Nach der Teilungserklärung dürfen auf den Gartenflächen Terrassen in der Größe von maximal einem Drittel der Fläche des jeweiligen Sondernutzungsrechts errichtet werden. Mit Ausnahme der den beiden Eckwohnungen zugewiesenen Gartenflächen wurden jeweils gepflasterte Terrassen errichtet.


Auf Antrag der Streithelferin, die Sondereigentümerin einer der Eckwohnungen ist, beschlossen die Wohnungseigentümer in der Eigentümerversammlung vom 14. Oktober 2021, der Streithelferin als privilegierte Maßnahme gemäß § 20 Abs. 2 WEG zu gestatten, auf der Rückseite des Gebäudes eine Rampe als barrierefreien Zugang sowie eine etwa 65 Zentimeter aufzuschüttende Terrasse zu errichten und das Doppelfenster im Wohnzimmer durch eine verschließbare Tür zu ersetzen; ggf. soll ein aus Bodenplatten bestehender Zugang vom Hauseingang bis zur Terrasse errichtet werden. Hiergegen richtet sich die von den Klägern erhobene Anfechtungsklage.


Bisheriger Prozessverlauf: Das Amtsgericht hat den Beschluss für ungültig erklärt. Die Berufung der Beklagten war erfolglos. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision will die Streithelferin die Abweisung der Klage erreichen. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die Revision hat Erfolg gehabt. Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Anfechtungsklage abgewiesen.


Dabei hat er sich von folgenden Erwägungen leiten lassen: Beschließen die Wohnungseigentümer die Durchführung oder Gestattung einer baulichen Veränderung, die ein Wohnungseigentümer unter Berufung auf § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG verlangt, hängt die Rechtmäßigkeit des Beschlusses entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht davon ab, ob die Anspruchsvoraussetzungen des § 20 Abs. 2 WEG im Einzelnen vorliegen und ob die bauliche Veränderung insbesondere angemessen ist. Auf diese Voraussetzungen kommt es nur an, wenn der Individualanspruch des Wohnungseigentümers abgelehnt worden ist und sich dieser mit einer Anfechtungsklage gegen den Negativbeschluss wendet und/oder den Anspruch mit der Beschlussersetzungsklage weiterverfolgt, wie dies in dem Verfahren V ZR 244/22 der Fall war. Der Gesetzgeber hat durch das Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetz die Vorschriften über bauliche Veränderungen in §§ 20, 21 WEG neu gefasst und grundlegend geändert.


Die Neuregelung dient unter anderem dem Zweck, den baulichen Zustand von Wohnungseigentumsanlagen leichter verbessern und an sich ändernde Gebrauchsbedürfnisse der Wohnungseigentümer anpassen zu können. Nunmehr können die Wohnungseigentümer nach § 20 Abs. 1 WEG im Gegensatz zu der Regelung in § 22 WEG aF Maßnahmen, die über die ordnungsmäßige Erhaltung des gemeinschaftlichen Eigentums hinausgehen (bauliche Veränderungen), jeweils mit einfacher Stimmenmehrheit beschließen. Sie müssen dabei lediglich die Grenzen des § 20 Abs. 4 Halbs. 1 WEG, die bei jeder baulichen Veränderung einzuhalten sind, beachten. Infolgedessen dürfen die Wohnungseigentümer eine bauliche Veränderung auch dann durch Mehrheitsbeschluss gestatten, wenn sie die in § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG geregelten Anspruchsvoraussetzungen im Einzelnen nicht als gegeben ansehen oder jedenfalls Zweifel hieran hegen.


Da das Berufungsgericht zu Unrecht auf die Voraussetzungen des § 20 Abs. 2 WEG abgestellt hatte und es keiner weiteren Feststellungen bedurfte, konnte nunmehr der Bundesgerichtshof abschließend darüber entscheiden, ob mit der gestatteten baulichen Veränderung eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage im Sinne von § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 1 WEG verbunden ist. Diese Frage hat er verneint. Nach nunmehr geltendem Recht ist bei einer Maßnahme, die der Verwirklichung eines Zweckes i.S.d. § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG dient, eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage zumindest typischerweise nicht anzunehmen.


Der von dem Gesetzgeber im gesamtgesellschaftlichen Interesse erstrebten Privilegierung bestimmter Kategorien von Maßnahmen - unter anderem zur Förderung der Barrierefreiheit - ist bei der Prüfung, ob eine grundlegende Umgestaltung vorliegt, im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses Rechnung zu tragen. Da die von den Wohnungseigentümern hier beschlossene bauliche Veränderung ihrer Kategorie nach dem Gebrauch durch Menschen mit Behinderung dient (§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WEG), bedürfte es besonderer Umstände, um eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage anzunehmen. Hieran fehlt es.


Gestattet wird der Streithelferin lediglich die Errichtung eines untergeordneten Anbaus an ein bestehendes Gebäude einer Mehrhausanlage, wobei die Errichtung einer Terrasse schon nach der Teilungserklärung erlaubt ist. Weil der in der Eigentümerversammlung vom 14. Oktober 2021 gefasste Beschluss auch im Übrigen keine Mängel aufweist, konnte in der Sache abschließend entschieden und die Klage abgewiesen werden. Durch die Gestattung der baulichen Veränderung wird kein Wohnungseigentümer gegenüber anderen unbillig benachteiligt i.S.d. § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 2 WEG. Der Beschluss ist auch hinreichend bestimmt.


Vorinstanzen: V ZR 244/22 AG München - Urteil vom 10. Februar 2022 - 1294 C 13970/21 WEG LG München I - Urteil vom 8. Dezember 2022 - 36 S 3944/22 WEG V ZR 33/23 AG Bonn - Urteil vom 15. August 2022 - 211 C 47/21 LG Köln - Urteil vom 26. Januar 2023 - 29 S 136/22 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 20 WEG Bauliche Veränderungen (1) Maßnahmen, die über die ordnungsmäßige Erhaltung des gemeinschaftlichen Eigentums hinausgehen (bauliche Veränderungen, können beschlossen oder einem Wohnungseigentümer durch Beschluss gestattet werden. (2) Jeder Wohnungseigentümer kann angemessene bauliche Veränderungen verlangen, die 1. dem Gebrauch durch Menschen mit Behinderungen, 2. - 4. [...] dienen.


Über die Durchführung ist im Rahmen ordnungsmäßiger Verwaltung zu beschließen. (3) Unbeschadet des Absatzes 2 kann jeder Wohnungseigentümer verlangen, dass ihm eine bauliche Veränderung gestattet wird, wenn alle Wohnungseigentümer, deren Rechte durch die bauliche Veränderung über das bei einem geordneten Zusammenleben unvermeidliche Maß hinaus beeinträchtigt werden, einverstanden sind.

(4) Bauliche Veränderungen, die die Wohnanlage grundlegend umgestalten oder einen Wohnungseigentümer ohne sein Einverständnis gegenüber anderen unbillig benachteiligen, dürfen nicht beschlossen und gestattet werden; sie können auch nicht verlangt werden. § 21 WEG Nutzungen und Kosten bei baulichen Veränderungen (1) Die Kosten einer baulichen Veränderung, die einem Wohnungseigentümer gestattet oder die auf sein Verlangen nach § 20 Absatz 2 durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer durchgeführt wurde, hat dieser Wohnungseigentümer zu tragen.


Nur ihm gebühren die Nutzungen. (2) bis (5) […] § 22 WEG aF Besondere Aufwendungen, Wiederaufbau (1) [...] (2) Maßnahmen gemäß Absatz 1 Satz 1, die der Modernisierung entsprechend § 555b Nummer 1 bis 5 des Bürgerlichen Gesetzbuches oder der Anpassung des gemeinschaftlichen Eigentums an den Stand der Technik dienen, die Eigenart der Wohnanlage nicht ändern und keinen Wohnungseigentümer gegenüber anderen unbillig beeinträchtigen, können abweichend von Absatz 1 durch eine Mehrheit von drei Viertel aller stimmberechtigten Wohnungseigentümer im Sinne des § 25 Abs. 2 und mehr als der Hälfte aller Miteigentumsanteile beschlossen werden. […]



Bundesgerichtshof legt Gerichtshof der Europäischen Union Fragen zur weiteren Klärung des Begriffs der öffentlichen Wiedergabe vor


Karlsruhe, 8. Februar 2024 - I ZR 34/23 ("Seniorenwohnheim") und I ZR 35/23
Der unter anderem für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen vorgelegt, mit denen geklärt werden soll, ob der Betreiber eines Seniorenwohnheims, der über eine Satellitenempfangsanlage empfangene Rundfunkprogramme durch ein Kabelnetz an die Heimbewohner weitersendet, eine öffentliche Wiedergabe vornimmt.


Sachverhalt: Die Klägerinnen sind Verwertungsgesellschaften, die die urheberrechtlichen Nutzungsrechte von Musikurhebern (I ZR 34/23) und Sendeunternehmen (I ZR 35/23) wahrnehmen. Die Beklagte betreibt ein Senioren- und Pflegezentrum. In dessen Pflegebereich wohnen in 88 Einzel- und 3 Doppelzimmern auf Dauer 89 pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren, die umfassend pflegerisch versorgt und betreut werden. Zusätzlich zum Pflegebereich verfügt die Einrichtung über verschiedene Gemeinschaftsbereiche wie Speisesäle und Aufenthaltsräume.


Die Beklagte empfängt über eine eigene Satellitenempfangsanlage Rundfunkprogramme (Fernsehen und Hörfunk) und sendet diese zeitgleich, unverändert und vollständig durch ihr Kabelnetz an die Anschlüsse für Fernsehen und Hörfunk in den Zimmern der Heimbewohner weiter. Die Klägerinnen sehen in der Weitersendung der Rundfunkprogramme einen Eingriff in die von ihnen wahrgenommenen urheberrechtlichen Nutzungsrechte und haben die Beklagte deshalb - erfolglos - zum Abschluss von Lizenzverträgen aufgefordert.


Bisheriger Prozessverlauf: In beiden Verfahren hat das Landgericht den Klagen stattgegeben und der Beklagten dem Antrag der Klägerin entsprechend die Weitersendung der Rundfunkprogramme untersagt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Klagen abgewiesen. Die Weitersendung der Rundfunkprogramme erfülle nicht die Voraussetzungen einer öffentlichen Wiedergabe, weil sich die Wiedergabe auf den begrenzten Personenkreis der Bewohner der Einrichtung beschränke, die - ähnlich den Mitgliedern einer Wohnungseigentümergemeinschaft - einen strukturell sehr homogenen und auf dauernden Verbleib in der Einrichtung ausgerichteten stabilen Personenkreis mit eher niedriger Fluktuation bildeten.


Die Gemeinschaftsräume böten die Möglichkeit zu gemeinsamen Mahlzeiten, persönlichem Austausch und sozialem Miteinander der Bewohner. Anders als in einem Hotel oder einer Reha-Einrichtung bestehe durch die Wahl der Heimeinrichtung als Wohnung für den letzten Lebensabschnitt zwischen den Bewohnern eine enge Verbundenheit. Mit ihren Revisionen verfolgen die Klägerinnen ihre Klageanträge weiter.


Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: In dem Verfahren I ZR 34/23 hat der Bundesgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union drei Fragen zur Auslegung des in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft enthaltenen Begriffs der öffentlichen Wiedergabe vorgelegt.


Zunächst soll durch den Gerichtshof der Europäischen Union geklärt werden, ob es sich bei den Bewohnern eines kommerziell betriebenen Seniorenwohnheims, die in ihren Zimmern über Anschlüsse für Fernsehen und Hörfunk verfügen, an die der Betreiber des Seniorenwohnheims über eine eigene Satellitenempfangsanlage empfangene Rundfunkprogramme zeitgleich, unverändert und vollständig durch sein Kabelnetz weitersendet, im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Begriff der "öffentlichen Wiedergabe" gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG um eine "unbestimmte Anzahl potentieller Adressaten" (die - wie etwa Gäste eines Hotels oder Patienten eines Rehabilitationszentrums - eine Öffentlichkeit bilden können) oder um "besondere Personen, die einer privaten Gruppe angehören" (die keine Öffentlichkeit bilden) handelt.


Fraglich ist außerdem, ob die bisher vom Gerichtshof der Europäischen Union verwendete Definition, wonach die Einstufung als "öffentliche Wiedergabe" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG erfordert, dass "die Wiedergabe des geschützten Werks unter Verwendung eines technischen Verfahrens, das sich von dem bisher verwendeten unterscheidet (wie hier die Kabelweitersendung eines über eine Satellitenempfangsanlage empfangenen Rundfunkprogramms), oder ansonsten für ein neues Publikum erfolgt, das heißt für ein Publikum, an das der Inhaber des Urheberrechts nicht gedacht hatte, als er die ursprüngliche öffentliche Wiedergabe seines Werks erlaubte", weiterhin allgemeine Gültigkeit hat, oder ob das verwendete technische Verfahren nur noch in Fällen Bedeutung hat, in denen eine Weiterübertragung von zunächst terrestrisch, satelliten- oder kabelgestützt empfangenen Inhalten (anders als im Streitfall) in das offene Internet stattfindet.


Ferner ist bislang nicht eindeutig geklärt, ob es sich um ein "neues Publikum" im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Begriff der "öffentlichen Wiedergabe" gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG handelt, wenn der zu Erwerbszwecken handelnde Betreiber eines Seniorenwohnheims über eine eigene Satellitenempfangsanlage empfangene Rundfunkprogramme zeitgleich, unverändert und vollständig durch sein Kabelnetz an die vorhandenen Anschlüsse für Fernsehen und Hörfunk in den Zimmern der Heimbewohner weitersendet.


Fraglich ist insbesondere, ob es für diese Beurteilung von Bedeutung ist, ob die Bewohner unabhängig von der Kabelsendung die Möglichkeit haben, die Fernseh- und Rundfunkprogramme in ihren Zimmern terrestrisch zu empfangen, sowie, ob die Rechtsinhaber bereits für die Zustimmung zur ursprünglichen Sendung eine Vergütung erhalten.

Das Verfahren I ZR 35/23 hat der Bundesgerichtshof bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in dem Verfahren I ZR 34/23 ausgesetzt.


Vorinstanzen: I ZR 34/23 LG Frankenthal - Urteil vom 13. Juli 2022 - 6 O 272/21 OLG Zweibrücken - Urteil vom 16. März 2023 - 4 U 101/22 und I ZR 35/23 LG Frankenthal - Urteil vom 13. Juli 2022 - 6 O 318/21 OLG Zweibrücken - Urteil vom 16. März 2023 - 4 U 102/22

Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 15 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 3 UrhG


Der Urheber hat … das ausschließliche Recht, sein Werk in unkörperlicher Form öffentlich wiederzugeben (Recht der öffentlichen Wiedergabe). Das Recht der öffentlichen Wiedergabe umfasst insbesondere …
3. das Senderecht § 20 UrhG Das Senderecht ist das Recht, das Werk durch Funk, wie Ton- und Fernsehrundfunk, Satellitenrundfunk, Kabelfunk oder ähnliche technische Mittel, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. § 20b Abs. 1 Satz 1 UrhG Das Recht, ein gesendetes Werk im Rahmen eines zeitgleich, unverändert und vollständig weiterübertragenen Programms weiterzusenden (Weitersendung), kann nur durch eine Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden. Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2001/29/EG


Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke … zu erlauben oder zu verbieten.


Januar 2024

Klage der Deutschen Umwelthilfe zur Fortschreibung des Nationalen Aktionsprogramms zum Schutz von Gewässern vor Verunreinigung durch Nitrat erfolglos
Münster, 25. Januar 2024 - Die Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH) hat mit ihrer Klage zur Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, den düngebezogenen Teil des Nationalen Aktionsprogramms zum Schutz von Gewässern vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen fortzuschreiben, keinen Erfolg. Das hat das Oberverwaltungsgericht heute entschieden.


Die europarechtliche Richtlinie 91/676/EWG, die sogenannte "Nitratrichtlinie", bezweckt die Verringerung und Vorbeugung von Gewässerverunreinigungen und gibt insbesondere einen maximalen Nitratwert für das Grundwasser von 50 mg/l vor. Sie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, Aktionsprogramme aufzustellen, die die Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der "Nitratrichtlinie" festlegen. Diese Aktionsprogramme sind alle vier Jahre fortzuschreiben.


Die DUH begehrte mit ihrer Klage die Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, den düngebezogenen Teil des Nationalen Aktionsprogramms zum Schutz von Gewässern vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen fortzuschreiben. Sie vertrat die Auffassung, dass die beklagte Bundesrepublik Deutschland ihren Verpflichtungen aus der "Nitratrichtlinie" nicht nachgekommen sei. Insbesondere würden die bislang vorgesehenen Pflichtmaßnahmen nicht entsprechend den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen umgesetzt und es seien keine wirksamen zusätzlichen Maßnahmen ergriffen worden, um die Ziele der "Nitratrichtlinie" zu verwirklichen.


Mit ihrer Klage hatte die DUH keinen Erfolg. Zur Begründung seiner Entscheidung führte der 20. Senat im Wesentlichen aus: Die Klage der DUH ist zwar zulässig. So ist die DUH nach den Regeln des Umweltrechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) klagebefugt. Die DUH kann auch eine Fortschreibung des Nationalen Aktionsprogramms zum Gegenstand eines Klageverfahrens machen - eine im deutschen Recht noch recht neue, dem Europarecht entstammende Form staatlichen Handelns.



Die Klage hat aber keinen Erfolg, da die DUH mit ihrem Klagevorbringen nach § 7 Abs. 3 UmwRG ausgeschlossen (präkludiert) ist. Nach dieser Vorschrift kann eine Umweltschutzvereinigung wie die DUH in bestimmten Umweltangelegenheiten - wie hier in Bezug auf das Nationale Aktionsprogramm - zwar klagen, ist aber im gerichtlichen Verfahren mit allen Einwendungen ausgeschlossen, die sie während der Öffentlichkeitsbeteiligung nicht oder nicht rechtzeitig geltend gemacht hat, aber hätte geltend machen können.


Diese Bestimmung findet auf die Klage der DUH Anwendung und ist mit dem nationalen Verfassungsrecht, mit europarechtlichen Vorgaben und mit dem völkerrechtlichen "Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten", der sogenannten "Aarhus Konvention", vereinbar.


Die Voraussetzungen für das Eingreifen dieser Vorschrift liegen vor, weil sich die DUH zwar gemeinsam mit anderen Umweltschutzvereinigungen im Rahmen von Öffentlichkeitsbeteiligungen zu Änderungen des Nationalen Aktionsprogramms geäußert hat, allerdings nicht so hinreichend substantiiert und umfangreich, wie es nach den gesetzlichen Vorgaben erforderlich gewesen wäre.


Da die DUH mit ihrem Klagevorbringen schon ausgeschlossen ist, hatte das Oberverwaltungsgericht nicht darüber zu entscheiden, ob das Nationale Aktionsprogramm im Hinblick auf die "Nitratrichtlinie" aktuell hinreichende Maßnahmen beinhaltet. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung zugelassen.

Aktenzeichen: 20 D 8/19.AK



Die Partei Die Heimat (vormals NPD) ist für die Dauer von sechs Jahren von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen
Bundesverfassungsgericht Karlsruhe, 23. Januar 2024 - Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Partei Die Heimat (HEIMAT, vormals: Nationaldemokratische Partei Deutschlands – NPD) für die Dauer von sechs Jahren von der staatlichen Finanzierung nach § 18 Parteiengesetz (PartG) ausgeschlossen ist. Art. 21 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz (GG) sieht den Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von der staatlichen Teilfinanzierung vor.


Ausgeschlossen sind Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden. Auf dieser Grundlage beantragten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, die Partei Die Heimat von der staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen.


Die Voraussetzungen eines Finanzierungsausschlusses gemäß Art. 21 Abs. 3 Satz 1 GG liegen vor: Die Partei Die Heimat missachtet die freiheitliche demokratische Grundordnung und ist nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Mitglieder und Anhänger auf deren Beseitigung ausgerichtet. Sie zielt auf eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten autoritären Staat.


Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde aller, die der ethnischen „Volksgemeinschaft“ nicht angehören, und ist zudem mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Dass die Partei Die Heimat auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgerichtet ist, wird insbesondere durch ihre Organisationsstruktur, ihre regelmäßige Teilnahme an Wahlen und sonstigen Aktivitäten sowie durch ihre Vernetzung mit nationalen und internationalen Akteuren des Rechtsradikalismus belegt. Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.


Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig zum NPD/Die Heimat-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Die Instrumente der wehrhaften Demokratie wirken
Berlin, 23. Januar 2024 - Auf Antrag von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung hat das Bundesverfassungsgericht heute die Partei NPD/Die Heimat von der staatlichen Finanzierung ausgeschlossen. Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig begrüßt das Urteil: „Parteien, die sich gegen die Demokratie und unsere Verfassung wenden, dürfen kein Geld vom Staat erhalten. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt.


Das Urteil zeigt - die Instrumente der wehrhaften Demokratie wirken und schützen unsere verfassungsrechtliche Ordnung im Sinne der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Nun muss geprüft werden, welche Konsequenzen für die AfD gezogen werden können, die bereits in Teilen als rechtsextrem eingestuft ist."


Verfassungsfeindlichkeit belegt Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung konnten in dem Gerichtsverfahren darlegen, dass die Verfassungsfeindlichkeit der NPD, die sich bei Identitätswahrung zwischenzeitlich in „Die Heimat" umbenannt hat, unverändert fortbesteht. Gemeinsam hatten die drei Verfassungsorgane im Juli 2019 einen Antrag auf Ausschluss der Partei von der staatlichen Parteienfinanzierung nach Artikel 21 Absatz 3 des Grundgesetzes beim Bundesverfassungsgericht eingebracht.


Im Zuge des zuvor vom Bundesrat initiierten Parteienverbotsverfahrens hatte das Bundesverfassungsgericht im Januar 2017 festgestellt, dass die NPD gegen die Menschenwürde verstößt, den Kern des Demokratieprinzips missachtet und eine Wesensverwandtschaft mit dem historischen Nationalsozialismus aufweist. Mit der Begründung, dass ihr das Potential fehle, ihre verfassungsfeindlichen Ziele auch zu verwirklichen, verbot das Gericht die Partei damals jedoch nicht.


Auch Steuerprivilegien fallen weg
Die NPD hatte nach dem Urteil im Verbotsverfahren 2017 noch einige Jahre jährlich bis zu sechsstellige Beträge aus unmittelbarer staatlicher Parteienfinanzierung erhalten und profitiert bis heute von den damit verbundenen Steuerprivilegien. Angesichts mangelnder Wahlerfolge sind diese Zahlungen 2021 ausgelaufen. Jedoch erhält die Partei vergleichsweise hohe Mitgliedsbeiträge und bis zu 700.000 Euro Spenden pro Jahr sowie Erbschaften, die bisher vollständig steuerfrei waren. Auch dieses Steuerprivileg ist mit dem heutigen Tag weggefallen.


Verlegung der Termine zur mündlichen Verhandlung in Sachen AfD gegen Bundesamt für Verfassungsschutz
Münster, 23. Januar 2024 - Das Oberverwaltungsgericht wird in den Verfahren der Alternative für Deutschland (AfD) gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), nicht im Februar, sondern am 12.03.2024 und ggf. am 13.03.2024, beginnend jeweils um 9.00 Uhr, in der Halle des Oberverwaltungsgerichts mündlich verhandeln. Soweit nach dem Verlauf der mündlichen Verhandlung möglich, wird der Senat am Ende der letzten Sitzung eine Entscheidung verkünden.


Mit der Verlegung der ursprünglich für den 27.02.2024 und ggf. 28.02.2024 angesetzten Termine kommt der Senat einem Antrag der AfD nach, den diese mit Blick auf umfangreiche Unterlagen gestellt hat, die das BfV Anfang des Jahres übermittelt hat. In den drei Berufungsverfahren geht es um die Einstufung der AfD als Verdachtsfall nach dem Bundesverfassungsschutzgesetz (Aktenzeichen 5 A 1218/22), die Einstufung des sogenannten „Flügel“ als Verdachtsfall und als „gesichert extremistische Bestrebung“ (5 A 1216/22) sowie um die Einstufung der Jungen Alternative für Deutschland (Junge Alternative) als Verdachtsfall (5 A 1217/22).


Beim Verwaltungsgericht Köln hatten die Klagen im März 2022 überwiegend keinen Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht verhandelt über die Berufungen der AfD und der Jungen Alternative. Weitere Informationen zum Akkreditierungsverfahren für Medienvertreter wird das Oberverwaltungsgericht voraussichtlich Mitte Februar 2024 veröffentlichen. Platzreservierungen für interessierte Bürgerinnen und Bürger wird es voraussichtlich nicht geben.

Aktenzeichen: 5 A 1216/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 207/20), 5 A 1217/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 208/20), 5 A 1218/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 326/21)


Bundesgerichtshof entscheidet über Verurteilung wegen Verstoßes gegen ein Vereinigungsverbot ("Geeinte deutsche Völker und Stämme")
Beschluss vom 14. November 2023 - 3 StR 141/23


Karlsruhe, 23. Januar 2024 - Das Landgericht Lüneburg hat die Angeklagte mit Urteil vom 22. November 2022 wegen Verstoßes gegen ein Vereinigungsverbot in Tateinheit mit Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung und Missbrauch von Berufsbezeichnungen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es unter Verweis auf die Anklageschrift nicht näher bezeichnete Gegenstände eingezogen. Das Landgericht hat festgestellt, dass die Angeklagte 2016 federführend die Organisation "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) gründete.


In der Überzeugung, dass die Bundesrepublik Deutschland kein Staat sei, sondern nur ein "Handelskonstrukt" ohne "Legitimität", beabsichtigte die Gruppe, ein eigenes staatliches System auf einem Territorium in den Grenzen des Deutschen Reichs von 1871 bis 1914 zu errichten. Alle, die nicht "deutscher Abstammung" sind, sollten entrechtet und vertrieben werden. Gegen Zahlung von 500 € stellte die GdVuSt sogenannte Lebendbekundungen aus, durch die Interessenten ihr beitreten und sich von der Bundesrepublik Deutschland als Staat lossagen konnten. G


anze geographische Regionen sollten durch eine von der Vereinigung beurkundete, ebenfalls gebührenpflichtige "Erhebung naturstaatlicher Landschaften" Teil der GdVuSt werden können. Im Frühjahr 2020 verbot das Bundesinnenministerium die Organisation sowie die Nutzung ihrer Kennzeichen wegen Verstoßes gegen die verfassungsgemäße Ordnung. Gleichwohl setzte die Angeklagte ihr Wirken als zentrale Führungsfigur der in ihrer ideologischen Ausrichtung unveränderten GdVuSt fort. Sie verbreitete die Vereinsideologie auf Veranstaltungen und warb dafür im Internet unter Nutzung der verbotenen Symbole.


Außerdem stellte sie weiter die genannten Urkunden aus, wodurch sie im Tatzeitraum wenigstens 80.000 € vereinnahmte. Als "Generalbevollmächtigte" der GdVuSt beziehungsweise "Rechtsanwältin Dr. Wonneberger" auftretend, verfasste und verbreitete die Angeklagte zudem Texte, in denen sie unter anderem jüdische und muslimische Mitbürger als "unmoralische, unethische Wesen" bezeichnete und ihnen ihr Existenzrecht als gleichwertige Personen der deutschen Gesellschaft absprach. Zuletzt zählte die Gruppe etwa 500 Mitglieder.


Auf Telegram folgten der Angeklagten über 2.000 Nutzer. Der für Staatsschutzsachen zuständige 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die hiergegen gerichtete Revision der Angeklagten verworfen, was den Schuldspruch angeht. Diesen hat er lediglich sprachlich dahin präzisiert, dass die Angeklagte den Verstoß gegen das Vereinigungsverbot "als Rädelsführer" beging. Den Rechtsfolgenausspruch hat er auf Antrag des Generalbundesanwalts aufgehoben.


Der Einziehungsausspruch hat rechtlicher Überprüfung nicht standgehalten, weil die einzuziehenden Objekte in der Urteilsformel nicht hinreichend bezeichnet sind, unklar geblieben ist, ob es sich dabei um der Angeklagten gehörende oder zustehende Tatmittel handelte, und das Landgericht kein Ermessen ausgeübt hat. Dieser Rechtsfehler hat sich auch auf den Strafausspruch ausgewirkt. Über die Einziehung und die Strafzumessung wird deshalb eine andere Strafkammer des Landgerichts neu zu entscheiden haben.


Vorinstanz: LG Lüneburg – 21 KLs/5104 Js 40311/21 (13/22) – Urteil vom 22. November 2022 Maßgebliche Strafvorschriften: § 85 Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot (1) Wer als Rädelsführer oder Hintermann im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes den organisatorischen Zusammenhalt 1. einer Partei oder Vereinigung, von der im Verfahren nach § 33 Abs. 3 des Parteiengesetzes unanfechtbar festgestellt ist, dass sie Ersatzorganisation einer verbotenen Partei ist, oder 2. einer Vereinigung, die unanfechtbar verboten ist, weil sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, oder von der unanfechtbar festgestellt ist, dass sie Ersatzorganisation einer solchen verbotenen Vereinigung ist, aufrechterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.


Der Versuch ist strafbar. (2) Wer sich in einer Partei oder Vereinigung der in Absatz 1 bezeichneten Art als Mitglied betätigt oder wer ihren organisatorischen Zusammenhalt oder ihre weitere Betätigung unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (3) § 84 Abs. 4 und 5 gilt entsprechend. § 86 Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (1)


Wer Propagandamittel 1. (…) 2. einer Vereinigung, die unanfechtbar verboten ist, weil sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, oder von der unanfechtbar festgestellt ist, dass sie Ersatzorganisation einer solchen verbotenen Vereinigung ist, 3. (…) 4. (…) im Inland verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder zur Verbreitung im Inland oder Ausland herstellt, vorrätig hält, einführt oder ausführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (…) § 86a Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (1)


Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. im Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 oder Absatz 2 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen verbreitet oder öffentlich, in einer Versammlung oder in einem von ihm verbreiteten Inhalt (§ 11 Absatz 3) verwendet oder 2. einen Inhalt (§ 11 Absatz 3), der ein derartiges Kennzeichen darstellt oder enthält, zur Verbreitung oder Verwendung im Inland oder Ausland in der in Nummer 1 bezeichneten Art und Weise herstellt, vorrätig hält, einführt oder ausführt.


(2) Kennzeichen im Sinne des Absatzes 1 sind namentlich Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen. Den in Satz 1 genannten Kennzeichen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind. (...) § 130 Volksverhetzung (1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.


(2) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder einer Person unter achtzehn Jahren einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) anbietet, überlässt oder zugänglich macht, der a) zum Hass gegen eine in Absatz 1 Nummer 1 bezeichnete Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer in Absatz 1 Nummer 1 bezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung aufstachelt,

b) zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen in Buchstabe a genannte Personen oder Personenmehrheiten auffordert oder c) die Menschenwürde von in Buchstabe a genannten Personen oder Personenmehrheiten dadurch angreift, dass diese beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden oder 2. einen in Nummer 1 Buchstabe a bis c bezeichneten Inhalt (§ 11 Absatz 3) herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, bewirbt oder es unternimmt, diesen ein- oder auszuführen, um ihn im Sinne der Nummer 1 zu verwenden oder einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen. (…)

 

§ 132a Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen (1) Wer unbefugt 1. inländische oder ausländische Amts- oder Dienstbezeichnungen, akademische Grade, Titel oder öffentliche Würden führt, 2. die Berufsbezeichnung Arzt, Zahnarzt, Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Psychotherapeut, Tierarzt, Apotheker, Rechtsanwalt, Patentanwalt, Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer, Steuerberater oder Steuerbevollmächtigter führt, (…) wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Den in Absatz 1 genannten Bezeichnungen, akademischen Graden, Titeln, Würden, Uniformen, Amtskleidungen oder Amtsabzeichen stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.


Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung bei Vorbeifahrt an einem Müllabfuhrfahrzeug
Urteil vom 12. Dezember 2023 - VI ZR 77/23

Bundesgerichtshof Karlsruhe, 23. Januar 2024 - Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche aus Unfällen zuständige VI. Zivilsenat hat über einen Fall entschieden, in dem eine Pkw-Fahrerin an einem Müllabfuhrfahrzeug vorbeifuhr und mit einem gerade entleerten Müllcontainer kollidierte. Der Senat hat in diesem Fall einen Verstoß der Fahrerin gegen die Straßenverkehrsordnung bejaht.


Sachverhalt
Die Klägerin, ein Pflegedienst, macht gegen einen für die Abfallwirtschaft zuständigen kommunalen Zweckverband Schadensersatzansprüche nach einem Verkehrsunfall geltend, bei dem eines ihrer Pflegedienstfahrzeuge beschädigt wurde. Eine Mitarbeiterin der Klägerin fuhr mit diesem Fahrzeug aus der Gegenrichtung kommend an einem Müllabfuhrfahrzeug des beklagten Zweckverbandes vorbei, das mit laufendem Motor, laufender Schüttung und eingeschalteten gelben Rundumleuchten sowie Warnblinkanlage in der Straße stand. Dabei kam es zu einer Kollision des klägerischen Fahrzeugs mit einem Müllcontainer, den ein bei dem Beklagten angestellter Müllwerker hinter dem Müllabfuhrfahrzeug quer über die Straße schob.


Mit der Klage hat die Klägerin Erstattung der Fahrzeugreparaturkosten verlangt. Bisheriger Prozessverlauf Das Landgericht hat der Klage gegen den Beklagten unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 50 zu 50 teilweise stattgegeben. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts teilweise abgeändert und den Beklagten unter Zugrundelegung einer Haftungsquote von 75 (Beklagter) zu 25 (Klägerin) zu weiterem Schadensersatz verurteilt. Es ist dabei davon ausgegangen, dass der Fahrerin des Pkw kein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung anzulasten sei.


Entscheidung des Senats: Die Revision des Beklagten hatte Erfolg. Das Urteil des Berufungsgerichts wurde aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Der Klägerin steht gegen den Beklagten als Halter des Müllabfuhrfahrzeugs ein Schadensersatzanspruch aus § 7 StVG zu, da das Fahrzeug der Klägerin "bei dem Betrieb" des Müllabfuhrfahrzeugs beschädigt worden ist. Die Gefahr, die von einer gerade entleerten Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht, ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen.


Bei der Entscheidung über die Haftungsverteilung hat das Berufungsgericht zu Recht dem Müllwerker einen schuldhaften Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vorgeworfen, weil er hinter dem Müllabfuhrfahrzeug einen Müllcontainer quer über die Straße schob, ohne auf den Verkehr und das Fahrzeug der Klägerin zu achten, welches für ihn - hätte er den Müllcontainer nicht vor sich hergeschoben - erkennbar gewesen wäre.


Allerdings ist entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts auch der Mitarbeiterin der Klägerin als Fahrerin des Pkw ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung vorzuwerfen: Das Hauptaugenmerk der mit dem Holen, Entleeren und Zurückbringen von Müllcontainern befassten Müllwerker ist auf ihre Arbeit gerichtet, die sie überwiegend auf der Straße und effizient, das heißt in möglichst kurzer Zeit und auf möglichst kurzen Wegen, zu erledigen haben. Wer an einem Müllabfuhrfahrzeug vorbeifährt, das erkennbar im Einsatz ist, darf daher nicht uneingeschränkt auf ein verkehrsgerechtes Verhalten der Müllwerker vertrauen.


Er muss damit rechnen, dass Müllwerker plötzlich vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortreten und unachtsam einige Schritte weiter in den Verkehrsraum tun, bevor sie sich über den Verkehr vergewissern. Auf diese typischerweise mit dem Einsatz von Müllabfuhrfahrzeugen verbundenen Gefahren hat der vorbeifahrende Verkehrsteilnehmer sein Fahrverhalten einzurichten. Lässt sich ein ausreichender Seitenabstand zum Müllabfuhrfahrzeug, durch den die Gefährdung eines plötzlich vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortretenden Müllwerkers vermieden werden kann, nicht einhalten, so ist die Geschwindigkeit gemäß § 1, § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO so weit zu drosseln, dass der Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen bringen kann.


Den dargelegten Anforderungen genügte die vom Berufungsgericht festgestellte Fahrweise der Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs nicht. Bei einem Seitenabstand von maximal 50 cm zum Müllabfuhrfahrzeug war die Ausgangsgeschwindigkeit von 13 km/h zu hoch, als dass die Fahrerin das Fahrzeug notfalls sofort zum Stehen hätte bringen können.


Vorinstanzen: Landgericht Hannover - Urteil vom 01.08.2022 - 12 O 103/21 Oberlandesgericht Celle - Urteil vom 15.02.2023 - 14 U 111/22 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 1 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO): Grundregeln (1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.


(2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. § 3 StVO Geschwindigkeit (1) Wer ein Fahrzeug führt, darf nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Die Geschwindigkeit ist insbesondere den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen….