Neue WSI-Studie
Düsseldorf/Duisburg, 1. Oktober 2023 - Frauen in West- wie
in Ostdeutschland haben in Puncto Bildung, Erwerbstätigkeit
und soziale Absicherung in den vergangenen Jahren gegenüber
Männern aufholen können. Trotzdem gibt es bei der
Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt weiterhin erhebliche
Unterschiede zwischen Ost und West. Bei 15 von 22 wichtigen
Indikatoren zu Themen wie Erwerbsbeteiligung, Arbeitszeit,
Bezahlung, Führungspositionen oder Absicherung im Alter sind
die Abstände zwischen Männern und Frauen im Osten spürbar
kleiner als im Westen – allerdings beim Einkommen auf
insgesamt niedrigerem Niveau.
Und auch wenn die Gleichstellung in beiden Landesteilen
vielfach vorangekommen ist, bleibt das Tempo oft niedrig und
die durchschnittliche berufliche, wirtschaftliche und
soziale Situation von Frauen weiterhin meist schlechter als
die von Männern. Den aktuellen Stand und sinnvolle
Strategien für Fortschritte beleuchtet anhand der neusten
verfügbaren Daten eine Studie, die das Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung heute im Vorfeld des 3. Oktober
vorlegt.*
„Die Ergebnisse unserer Studie belegen
weiterhin klar erkennbare Geschlechterungleichheiten zu
Ungunsten von Frauen. Meist sind die etwas ausgeprägter in
Westdeutschland und etwas abgeschwächter in Ostdeutschland“,
sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche
Direktorin des WSI. „Unter dem Strich ist der Osten bei
einigen wichtigen Aspekten der Gleichstellung also etwas
fortschrittlicher.
Dass erwerbstätige Frauen im Osten etwas weniger Rückstand
auf die Männer haben, ist nach 33 Jahren deutscher Einheit
allerdings nicht immer eine gute Nachricht, vor allem bei
den Einkommen nicht“, betont Kohlrausch. So erhalten 12
Prozent der weiblichen Vollzeitbeschäftigten im Osten nur
maximal 2000 Euro brutto pro Monat. Der
Geschlechterunterschied ist dabei zwar kleiner als im
Westen, allerdings auch deshalb, weil männliche
Erwerbstätige im Osten ebenfalls häufiger als im Westen nur
ein Niedrigeinkommen erzielen (mehr unten; detaillierte
Grafiken zu allen Daten in der Studie).
Mehr Frauen in West und Ost erwerbstätig – aber Zunahme vor
allem bei der Teilzeit
Die Auswertung, die WSI-Forscherin Dr.
Yvonne Lott und Expert*innen des Berliner SowiTra-Instituts
verfasst haben, zeigt unter anderem: Bei der formalen
beruflichen Qualifikation haben Frauen im Westen weitgehend
mit den Männern gleichgezogen, in Ostdeutschland liegen sie
sogar leicht vorne. Bei der Erwerbsbeteiligung zeigen sich
hingegen trotz Annäherungen noch deutliche Unterschiede
zwischen den Geschlechtern und zwischen Ost- und
Westdeutschland. So lag die Erwerbstätigenquote
westdeutscher Frauen 2021 um knapp acht Prozentpunkte unter
der von westdeutschen Männern (71,5 Prozent vs. 79,4
Prozent).
1991 war die Differenz indes noch fast dreimal so groß. Auch
die Erwerbstätigenquote von Frauen in Ostdeutschland ist mit
aktuell 74,0 Prozent höher als 1991, und der Abstand
gegenüber ostdeutschen Männern (78,5 Prozent) von knapp 12
auf gut vier Prozentpunkte gesunken. In den letzten Jahren
hat sich in beiden Landesteilen allerdings wenig getan.
Der langfristige Aufholprozess bei der
Erwerbsbeteiligung beruht allerdings vor allem auf mehr
weiblicher Teilzeitarbeit. In Ostdeutschland ist der Anteil
der Teilzeitstellen an allen Beschäftigungsverhältnissen von
Frauen zwischen 1991 und 2021 um 15,7 Prozentpunkte
gewachsen, im Westen um 13,5 Prozentpunkte. Trotz eines
insgesamt geringfügigen Rückgangs seit Ende der 2010er Jahre
lag die Teilzeitquote der westdeutschen Frauen zuletzt bei
47,8 Prozent, das ist deutlich über der der ostdeutschen
(33,2 Prozent). Auch bei Männern ist der Teilzeitanteil über
die vergangenen drei Dekaden gewachsen, er fällt indes
weitaus niedriger aus und betrug 2021 in Ost und West je
11,7 Prozent.
Rückstand gegenüber Männern bei der Arbeitszeit: 4,6 Stunden
im Osten, sogar 8,4 im Westen
Die unterschiedlichen Teilzeitquoten
führen auch zu erheblichen Differenzen bei der
durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit im Erwerbsjob:
In den westlichen Bundesländern liegt diese für Frauen bei
30 Stunden, das sind 8,4 Stunden weniger als bei
westdeutschen Männern. In den östlichen Bundesländern ist
die durchschnittliche Arbeitszeit weiblicher Erwerbstätiger
höher und der Abstand geringer: Sie beträgt 33,9 Stunden,
4,6 Stunden weniger als bei den Männern. In beiden
Landesteilen ist der Rückstand der Frauen in den vergangenen
Jahren leicht gesunken.
Der Anteil der erwerbstätigen Frauen, die lediglich einen
Minijob haben, war 2021 mit 15,1 Prozent im Westen sogar
fast doppelt so hoch wie in Ostdeutschland mit 8,6 Prozent –
obwohl dieser Anteil in den vergangenen 20 Jahren vor allem
im Westen spürbar kleiner geworden ist. Ostdeutsche Frauen
liegen bei den ausschließlichen Minijobs praktisch gleichauf
mit westdeutschen Männern (8,8 Prozent). Dagegen haben im
Osten von den Männern lediglich 7,5 Prozent nur eine
geringfügige Beschäftigung.
Im Vergleich weniger betroffen als Männer
sind Frauen in West und Ost von einer anderen häufig
prekären Beschäftigungsform, der Leiharbeit.
2022 waren 3,0 Prozent der ostdeutschen und 2,8 Prozent der
westdeutschen Männer Leiharbeitende. Unter den Frauen im
Osten galt das für 1,4 Prozent und im Westen für 1,3
Prozent. Auch bei der Arbeitslosigkeit stehen Frauen in
beiden Landesteilen etwas besser da als Männer: 2022 hatten
7,9 Prozent der männlichen und 6,8 Prozent der weiblichen
abhängig Beschäftigten im Osten keine Arbeit. Im Westen galt
das für 5,6 bzw. 5,2 Prozent.
Kinderbetreuung: Weiter deutliches Ost-West-Gefälle
Die deutlichen Unterschiede beim
zeitlichen Erwerbsumfang in West und Ost lassen sich auch
gut beobachten, wenn man auf die Verteilung der
Erwerbsarbeit in Paarhaushalten mit zwei Erwerbstätigen
schaut. In 52,1 aller Haushalte ohne minderjährige Kinder in
Westdeutschland arbeiten beide Partner*innen in Vollzeit.
Leben Kinder im Haushalt, so trifft dies nur noch auf 21,5
Prozent zu. Viel häufiger (71,7 Prozent) ist dann, dass der
Mann Vollzeit und die Frau Teilzeit arbeitet. I
n Ostdeutschland ist die Vollzeittätigkeit beider
Partner*innen hingegen mit und ohne Kinder die häufigste
Konstellation: Sie findet sich in 63,0 Prozent der Haushalte
ohne Kinder, aber auch in 48,7 Prozent der Haushalte mit
minderjährigen Kindern. Zur gleicheren Verteilung passt,
dass junge Väter im Osten häufiger als im Westen Elternzeit
nehmen, allerdings ist der Unterschied mit 47,8 Prozent vs.
42,6 Prozent im Elterngeldbezug nicht sehr groß.
Die Differenzen bei Familien mit Kindern hängen nach der
WSI-Analyse auch stark mit dem unterschiedlichen Angebot an
institutioneller Kinderbetreuung zusammen. Gerade bei der
Ganztagsbetreuung ist die Differenz groß: 2022 wurden in
Ostdeutschland 40,8 Prozent der Kinder unter drei Jahren und
73,4 Prozent der 3- bis 6-Jährigen ganztags außer Haus
betreut. Dagegen sind es im Westen nur 14,8 bzw. 41,4
Prozent – bei spürbar höherer Nachfrage.
Immerhin hat sich das Angebot an Ganztags-Kinderbetreuung in
Westdeutschland über die letzten anderthalb Jahrzehnte mehr
als verdoppelt, so dass die Abstände zwischen beiden
Landesteilen etwas kleiner geworden sind.
„Sowohl die Unterschiede zwischen Ost und
West als auch die schrittweise Annäherung zeigen, dass
Fortschritte bei der Gleichstellung sehr oft von
Rahmenbedingungen abhängen, die der Staat gestalten kann –
etwa Investitionen in Infrastruktur“, sagt WSI-Direktorin
Bettina Kohlrausch. „Dabei ist es sehr wichtig, dass nicht
nur Kapazitäten ausgebaut werden, sondern auch verlässlich
funktionieren. Aus unserer Erwerbspersonenbefragung wissen
wir, dass in letzter Zeit viele Eltern damit konfrontiert
sind, dass Betreuungseinrichtungen als Folge von
Personalmangel Öffnungszeiten reduzieren oder zeitweilig
schließen. Es bleibt dann in erster Linie wieder an den
Müttern hängen, solche Engpässe zu überbrücken.“
Gender-Pay-Gap im Osten viel kleiner – aber auch, weil
Männer weniger verdienen
Die Unterschiede bei Kinderbetreuung und
Arbeitszeiten tragen, unter anderem wegen nach wie vor
geringerer Karrieremöglichkeiten von Teilzeitbeschäftigten,
wesentlich dazu bei, dass die Lohnlücke in Westdeutschland
weiterhin deutlich höher ist als in Ostdeutschland: In
Westdeutschland lag 2022 der durchschnittliche Stundenlohn
von Frauen 18.9 Prozent unter dem von Männern, der Abstand
war fast dreimal so groß wie in Ostdeutschland (dort 6,9
Prozent).
Allerdings spielt bei den geringeren Unterschieden im Osten
ein weiterer Faktor eine erhebliche Rolle: Die
durchschnittlichen Stundenlöhne im Osten sind deutlich
niedriger als im Westen, und bei Männern fällt der Rückstand
größer aus als bei Frauen. Diese Diskrepanz zeigt sich auch
bei der Einkommensverteilung: 30,5 Prozent der
vollzeitbeschäftigten westdeutschen Männer hatten 2022
monatliche Bruttoeinkommen über 5000 Euro – gegenüber 18,4
Prozent der westdeutschen Frauen, 17,8 Prozent der
ostdeutschen Männer und 15,0 Prozent der ostdeutschen
Frauen.
Mit Niedrigeinkommen unter 2000 Euro monatlich für eine
Vollzeitstelle mussten 12 Prozent der weiblichen
Beschäftigten in Ost- und 10 Prozent in Westdeutschland
auskommen. Bei den Männern waren es 8 Prozent im Osten und 4
Prozent im Westen. „Es ist also wichtig, zusätzlich sehr
genau hinzuschauen, auf welchem absoluten Niveau sich
geschlechtsspezifische Differenzen darstellen“, sagt
WSI-Direktorin Kohlrausch. „Neben den erheblichen
Unterschieden in der Wirtschaftsstruktur trägt auch die
niedrigere Tarifbindung im Osten zum insgesamt niedrigeren
Lohnniveau bei.“
Immerhin: Im vergangenen Jahr hat die Erhöhung des
Mindestlohns auf 12 Euro für einen spürbaren Rückgang der
Niedrigeinkommen unter 2000 Euro gesorgt – dieser fiel im
Osten und insbesondere bei den Frauen dort am stärksten aus.
Die weiterhin deutlichen Unterschiede in
den Erwerbsverläufen ost- und westdeutscher Frauen führen
auch zu Differenzen bei der Absicherung im Alter. Dabei
wirkt sich der höhere zeitliche Erwerbsumfang ostdeutscher
Frauen stärker aus als die niedrigeren Löhne im Osten, so
dass ihre durchschnittlichen Altersrenten höher sind.
Dementsprechend beziehen Frauen in Ostdeutschland im
Durchschnitt rund 84 Prozent der gesetzlichen Altersrente,
die ostdeutsche Männer haben. Die geschlechtsbezogene
Rentenlücke beträgt also 16 Prozentpunkte. Im Westen ist sie
mit 39 Prozentpunkten mehr als doppelt so groß.
Anteil der Frauen in Führungspositionen im Osten spürbar
höher
Weiterhin Rückstände, die im Osten aber
etwas kleiner sind, zeigt die Studie schließlich auch bei
der Partizipation von Frauen an betrieblichen
Führungspositionen – insbesondere auf den obersten
Führungsetagen: Hier wurden in Ostdeutschland 2020 lediglich
31 Prozent der Stellen von Frauen ausgefüllt, in
Westdeutschland sogar nur 26 Prozent.
Der Anteil ist im Verlauf eines Jahrzehnts allenfalls
geringfügig gewachsen. Besser sieht es nach der WSI-Analyse
auf der zweiten Führungsebene aus, wo der Frauenanteil in
Westdeutschland mit 39 Prozent dem Anteil an allen
Beschäftigten (43 Prozent) relativ nahe kommt. In
Ostdeutschland sind Frauen auf der zweiten Führungsebene
sogar leicht überrepräsentiert (46 Prozent vs. 44 Prozent).
Empfehlungen für mehr Gleichstellung: Mehr Tarif, bessere
Kinderbetreuung, mehr Vätermonate, ausgeglichenere
Arbeitszeiten, effektivere Regelungen gegen
Diskriminierungen, Aufwertung von Berufen
Eine Stärkung der Tarifbindung als
Maßnahme für höhere Einkommen ist nach Analyse der
Forschenden ebenso notwendig wie verpflichtende Vorgaben für
Geschlechteranteile in Vorständen und ein erweiterter
Geltungsbereich der Geschlechterquote in Aufsichtsräten, die
bislang nur greift, wenn Unternehmen börsennotiert und
zugleich paritätisch mitbestimmt sind.
Um die Gleichstellung von Frauen und Männern auf breiter
Linie wirksam zu fördern, empfehlen sie darüber hinaus unter
anderem:
- Stärkere Anreize für Männer,
Sorgearbeit zu übernehmen, etwa durch eine schrittweise
Erweiterung der Partnermonate im Elterngeld auf sechs.
- Einen weiteren quantitativen und
qualitativen Ausbau der institutionellen Betreuung von
Kleinkindern. Bessere Personalschlüssel, mehr Ausbildung von
Fachkräften in der frühen Bildung.
- Eine finanzielle Aufwertung von
frauendominierten Berufen im Sozial-, Erziehungs- und
Gesundheitsbereich, um diese für beide Geschlechter
attraktiver zu machen.
- Gleichbehandlung aller
Arbeitsverhältnisse bei Arbeitsbedingungen und sozialer
Sicherung; Minijobs sollten möglichst in reguläre
Beschäftigung überführt werden.
- Effektive Vorgaben für Betriebe und
Verwaltungen, ihre Entgeltpraxis regelmäßig auf
Diskriminierungsfreiheit zu prüfen.
- Schaffung von Arbeitsplätzen in kurzer
Vollzeit und Abkehr von der Vollzeit- bzw.
Überstundenkultur. Voraussetzung dafür sind unter anderem
eine ausreichende Personalbemessung, verbindliche
Vertretungsregelungen und Beförderungskriterien, die sich
nicht an der Präsenz am Arbeitsplatz bzw. Überstunden
orientieren.
- Förderung der Aufteilung von
Führungspositionen auf zwei Teilzeitstellen.
- Mehr Mitsprache für Beschäftigte bei
Dauer und Lage ihrer Arbeitszeit.
- Abschaffung des Ehegattensplittings,
das vor allem in Westdeutschland ökonomische Fehlanreize für
Ehefrauen nach der Familiengründung setzt, dem Arbeitsmarkt
fernzubleiben oder die Arbeitszeit deutlich zu reduzieren.
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