Neue Studie
Düsseldorf/Duisburg, 31. Oktober 2023 - Kaum bestellt, schon
geliefert. Damit werben Online-Lieferdienste für
Lebensmittel. Doch die Auswertung von öffentlich
zugänglichen Unternehmensdaten zeigt: Das Geschäftsmodell
„Quick-Commerce“ ist bislang wackelig. Das ergibt eine neue
Studie des Instituts für Mitbestimmung und
Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung.* Wie
sind die Perspektiven, auch aus Sicht der dort Arbeitenden,
die oft keine guten Arbeitsbedingungen haben? Die
Forschenden sehen darin Stoff für eine breite
gesellschaftliche Debatte.
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Kein Brot mehr da, keine Butter, keine Wurst?
Und nach Feierabend keine Lust, noch zum Supermarkt zu
fahren? Blitzlieferdienste versprechen Abhilfe. Sie liefern
Lebensmittel innerhalb weniger Minuten oder fertige Gerichte
aus dem Restaurant. Bestellt wird online. Das ist bequem für
die Nutzerinnen und Nutzer, meist Single-Haushalte,
Berufstätige und andere Stadtbewohner*innen, die kleinere
Notkäufe tätigen. Doch wie nachhaltig wirtschaften die
Lieferdienste? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Studie
von Navid Armeli, Dr. Sebastian Campagna und Alexander
Sekanina vom I.M.U. zusammen mit dem Experten für
Bilanzanalyse Dr. Markus Sendel-Müller.
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Die Forscher haben die wirtschaftliche
Situation von fünf Lebensmittellieferdiensten anhand von
Kennzahlen aus den Jahresabschlüssen über einen Zeitraum von
sechs Jahren untersucht. Unter Berücksichtigung der
Ertragslage, der Liquidität und der Finanzierung haben sie
beleuchtet, ob die Geschäftsmodelle dauerhaft wirtschaftlich
betrieben werden können. Zu den untersuchten Unternehmen
zählen Just eat Takeaway, Delivery Hero, Hello Fresh, JD.com
und Meituan Maicai. Andere Anbieter wie Getir oder Flink
konnten nicht einbezogen werden.
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Diese Unternehmen veröffentlichten Finanzdaten
nicht regelmäßig, da sie anders als börsennotierte Firmen
nicht unter die Berichtspflichten des Kapitalmarkts fallen.
Blitzlieferdienste gehören zur Branche des Quick-Commerce
(oder: Q-Commerce) und sind Teil der sogenannten
Plattformökonomie. Sie bieten eine digitale Plattform, die
Angebot und Nachfrage zusammenbringt. Für Verbraucher*innen
ist es heute selbstverständlich, Produkte online zu
bestellen, Apps zur Auswahl zu nutzen und sich Lebensmittel
und Fertiggerichte liefern zu lassen.
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Im Gegensatz zu konventionellen
Lebensmittelhändlern verfügen die Schnelllieferdienste nicht
über Verkaufsflächen, sondern über kleine Lager, die sie an
strategisch günstigen Standorten in Ballungsräumen anmieten.
Entsprechend klein ist das Warensortiment, insbesondere im
Vergleich zum stationären Lebensmittelhandel. Die Waren
werden von sogenannten Ridern, die meist mit Fahrrad oder
Motorroller unterwegs sind, bis an die Haustür geliefert.
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Neben Festangestellten arbeiten Rider häufig
als (Schein-)Selbstständige für die Plattformen, was ihnen
zwar Flexibilität bietet, aber hinsichtlich ihrer sozialen
Absicherung problematisch ist. Für ihre Tätigkeit benötigen
sie keine klassische Berufsausbildung. Dies erklärt, warum
viele trotz geringer Bezahlung und schlechter Absicherung
bereit sind, diesen Job zu machen, und warum sie es schwer
haben, bessere Bedingungen durchzusetzen.
„Maßgeblich für die Arbeitsbedingungen in der
Plattformökonomie ist der wirtschaftliche Erfolg der
einzelnen Unternehmen. Lediglich ertrags- und
liquiditätsstarke Unternehmen können ihren Mitarbeitenden
langfristig eine wirtschaftliche Perspektive bieten“,
schreiben die Forscher. „Unsere Analyse zeigt jedoch, dass
in den untersuchten Unternehmen die beschriebenen
Erfolgsperspektiven bis dato fehlen oder zumindest als
gering einzustufen sind.“
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Risikokapital finanzierte das Wachstum
Die Branche ist zwar in den letzten Jahren stark gewachsen.
Dieses Wachstum sei jedoch zu einem erheblichen Teil durch
Risikokapitalgeber finanziert und nicht in Profite umgemünzt
worden, so die Forscher. Insofern sei davon auszugehen, dass
ein Großteil der Unternehmen ihre Dienstleistungen unterhalb
des Deckungsbeitrages anbietet, was dauerhaft zu einem
ruinösen Wettbewerb führt.
Die I.M.U.-Analyse zeigt, dass die Lieferdienste bei keiner
der untersuchten Rentabilitätskennziffern mit einer
Vergleichsgruppe etablierter und börsennotierter Unternehmen
aus dem Bereich Handel, Konsum und Nahrungsmittel mithalten
können. Lediglich in den Corona-Jahren hat sich ihr
Rückstand – zum Beispiel beim Gewinn vor Steuern und Zinsen
– vorübergehend verringert, danach sind sie aber wieder
deutlich hinter die Vergleichsgruppe zurückgefallen. Diese
Entwicklung deute auf einen Corona-bedingten
„Strohfeuereffekt“ hin, schreiben Armeli, Campagna, Sekanina
und Sendel-Müller.
Das hätten auch die Kapitalgeber erkannt. Sie seien seit
2022 bei der Bereitstellung von Risikokapital
zurückhaltender geworden, was den Druck auf die Branche, die
Profitabilität zu steigern, weiter erhöhe. Ein Beispiel für
die Entwicklung von 2017 bis 2022 ist das Unternehmen
Delivery Hero mit Sitz in Berlin. Die anfänglich geringen
Umsätze bei gleichzeitigen Verlusten sind für ein Start-up
zunächst zu erwarten. Insbesondere in der Zeit der
Corona-Pandemie stiegen die Umsätze des Lieferdienstes
rasant an, was jedoch bis Ende 2022 nicht zu einer
Verringerung der Verluste führte.
Im Gegenteil: Mit steigendem Umsatz wuchsen auch die roten
Zahlen. Erst im ersten Halbjahr 2023 reduzierte sich der
Verlust deutlich – allerdings lag das Minus immer noch bei
832 Millionen Euro. Ein typisches Phänomen schnell
wachsender Unternehmen, bei denen zunächst nur der Umsatz
zählt, während Gewinnmargen und Kosten weniger Beachtung
finden. Es sei davon auszugehen, dass bei Unternehmen wie
Gorillas, Flink, Delivery Hero und anderen der
durchschnittliche Warenkorbwert pro Bestellung zwischen 15
und 25 Euro liegt, heißt es in der Studie. Ein positiver
Deckungsbeitrag sei nach Einschätzung von Fachleuten jedoch
erst ab etwa 30 Euro möglich.
•
Bisher sei es keinem Anbieter gelungen, mit
dem operativen Geschäft Gewinne zu erwirtschaften. Nur
wenige werden überleben Eine Konsolidierung des Marktes
scheint unausweichlich und ist bereits im Gange. So wurde
der deutsche Branchenprimus Gorillas nur rund zwei Jahre
nach seiner Gründung bereits vom türkischen Wettbewerber
Getir übernommen. Zeitweise stand im Raum, dass Getir auch
Flink übernehmen könnte. Statt dessen baute das
Handelsunternehmen Rewe seine Beteiligung an Flink aus.
Mittlerweile schrumpfe die Deutschlandpräsenz Getirs massiv.
Es sei zu erwarten, dass nur wenige der heutigen Anbieter
überleben werden, so die Forscher.
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Der Markt werde sich voraussichtlich auf ein
bis zwei große Unternehmen und einige Nischenanbieter
konzentrieren. Zudem sei ein weiterer Trend zu beobachten:
Anbieter wie Knuspr und Picnic investierten massiv in
Automatisierung, um mittelfristig die Kosten zu senken. In
Zukunft könnten Bestellungen vollautomatisch
zusammengestellt und zu den Lieferfahrzeugen gebracht
werden.
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Ein Problem ist und bleibt vorerst, die
Auslieferung der Waren zu den Endkund*innen, die „letzte
Meile“, unter den gegebenen Bedingungen kostendeckend zu
gestalten. Schlechte Aussichten also für die Beschäftigten.
Sie müssen damit rechnen, dass Niedriglöhne ein wesentlicher
Bestandteil der bisherigen Geschäftsmodelle in der Branche
bleiben. Die Ergebnisse der Studie verdeutlichten, „wie
wichtig eine flächendeckende Debatte über die Situation und
Perspektive der Beschäftigten in neuen Geschäftsmodellen
ist.
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Eine erfolgreiche Transformation benötigt
sowohl ideelle als auch materielle Teilhabe der
Beschäftigten“, schreiben die Forscher. „Dafür braucht es
ertragsstarke Unternehmen und eine sozialpartnerschaftliche
Zusammenarbeit. Nicht jedes digitalisierte Geschäftsmodell
wird diesem Standard gerecht werden können.“
*Navid Armeli, Sebastian Campagna, Alexander Sekanina,
Markus Sendel-Müller „Wirtschaftlichkeit von Q-Commerce“,
Untersuchung der Wirtschaftlichkeit von Plattformunternehmen
auf Basis jahresabschlussanalytischer Kennzahlen am Beispiel
von Lebensmittellieferdiensten, Mitbestimmungsreport Nr. 78,
Oktober 2023
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