Analyse für die letzten drei
Jahre
Düsseldorf/Duisburg, 25. Oktober 2023 - Die Corona- und die
Ukrainekrise haben in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt und
bei den Einkommen der Bevölkerung geringere Schäden
angerichtet als angesichts der starken wirtschaftlichen
Schocks zu erwarten gewesen wäre. Die große Koalition und
die „Ampel“ haben in den vergangenen Krisenjahren mit hohem
Aufwand, darunter weit verbreitete Kurzarbeit,
Unterstützungszahlungen und Energiepreisbremsen, Schlimmeres
abgewendet.
Dieser Stabilisierungserfolg der Wirtschaftspolitik hat
allerdings nicht verhindern können, dass Deutschland
zwischen 2020 und 2022 bei zentralen Kenngrößen
wirtschaftlicher, staatlicher, sozialer und ökologischer
Nachhaltigkeit relativ schwach abschneidet. Mit Blick auf
die Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der
Staatsfinanzen haben die dafür nötigen hohen Ausgaben sogar
zu einer Verschlechterung gegenüber den Jahren davor
geführt.
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Das ergibt der neue Nachhaltigkeits-Check im
Auftrag des Instituts für Makroökonomie und
Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung anhand
von 14 Indikatoren, wobei für 13 Daten aus dem
Untersuchungszeitraum vorliegen. Lediglich bei zwei davon
geben die Forschenden im Durchschnitt der drei Jahre
uneingeschränkt grünes Licht.* Allerdings liegen
insbesondere bei der sozialen Nachhaltigkeit noch nicht alle
Daten für das Jahr 2022 vor. Und: In der außergewöhnlichen
Situation eng aufeinanderfolgender Großkrisen sei es wenig
sinnvoll, den Nachhaltigkeitscheck „mechanisch“ vorzunehmen,
schreiben die Forschenden.
Denn sowohl die Corona-Pandemie als auch die Explosion der
Preise nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sind
äußere Ereignisse, auf die die deutsche Wirtschaftspolitik
nur wenig Einfluss hatte, betonen Prof. Dr. Fabian Lindner
und Prof. Dr. Anita Tiefensee, die die Untersuchung für das
IMK erstellt haben. Die Einordnung der Forschenden fällt
dementsprechend erheblich positiver aus als es die geringe
Quote erreichter Ziele zunächst erwarten lässt: Alles in
allem ergebe sich „ein durchwachsenes Bild zur Entwicklung
der Nachhaltigkeit in Deutschland“, so Lindner und
Tiefensee.
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„Die Politik hat insgesamt gut auf die Krisen
reagiert. Sie hat Einkommen gestützt, was dazu geführt hat,
dass sowohl der wirtschaftliche Wohlstand als auch die
soziale Nachhaltigkeit nicht noch stärker gesunken sind als
es in der Krise ohnehin der Fall war. Die Vernachlässigung
einer strengen Einhaltung der Nachhaltigkeit der
Staatstätigkeit war dafür der Preis“, fassen der
Ökonomieprofessor von der Hochschule für Technik und
Wirtschaft (HTW) Berlin und die Professorin an der
Hochschule des Bundes wesentliche Trends zusammen. Und
weiter: „Eine Überschuldung des Staates ist deswegen zwar
nicht abzusehen, aber die niedrigen Investitionen belasten
den Standort.
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Die Stützungsmaßnahmen der Bundesregierung und die
Erhöhung vieler Sozialleistungen haben die Folgen der Krisen
für Armut und Ungleichheit insgesamt begrenzt. Die Inflation
hat aber zu realen Einkommensverlusten geführt. Die
Treibhausgasemissionen und der Energieverbrauch sind
gefallen. Das dürfte allerdings ein temporärer Effekt sein,
weil es auf die geringe Produktion in der Krise
zurückzuführen ist.“
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Der Nachhaltigkeits-Check folgt dem Modell des
„Neuen Magischen Vierecks“, das die etablierten
Zieldimensionen der Wirtschaftspolitik für das 21.
Jahrhundert aktualisiert. Traditionell geht es um hohe
Beschäftigung, stabile Preise, außenwirtschaftliches
Gleichgewicht sowie stetiges und angemessenes
Wirtschaftswachstum. In Zeiten von Klimawandel und lange
steigender Einkommensungleichheit reicht eine Ausrichtung
allein auf Wirtschaftswachstum nicht mehr aus, so der
modernisierte Ansatz. Das Konzept hat der Wissenschaftliche
Direktor des IMK, Prof. Dr. Sebastian Dullien,
mitentwickelt.
Es greift mit verschiedenen
Zielwerten Anforderungen auf, auf die sich die
Bundesregierung etwa im Rahmen der Europa-2020-Strategie
sowie der Erneuerbare-Energien-Richtlinien der Europäischen
Union selbst festgelegt hat und erweitert sie um weitere
wichtige Nachhaltigkeitsziele. Seit 2012 wurde der Check
mehrmals durchgeführt. Lindner und Tiefensee haben anhand
aktueller Daten aus zahlreichen offiziellen Quellen
überprüft, inwieweit Deutschland in den vergangenen drei
Jahren mehr materiellen Wohlstand und ökonomische
Stabilität, Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und Finanzen
sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit erreicht hat.
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Dabei haben sie insgesamt 13 verschiedene
Indikatoren betrachtet
(siehe auch Abbildungen 1 bis 4).
Quellen: Statistisches Bundesamt,
Eurostat, Bundesbank, eigene Berechnungen.
Wachstum, Beschäftigung,
Außenhandel: Dreimal „rot“, einmal „grün“ Die Krisen der
jüngsten Vergangenheit haben tiefe Spuren bei den
volkswirtschaftlichen Kennzahlen hinterlassen. Das reale
Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag der Studie zufolge
2022 fast auf dem gleichen Niveau wie 2019. Damit ergibt
sich praktisch ein Nullwachstum, weit unter dem Zielwert von
1,25 Prozent Zunahme im Jahresdurchschnitt.
Der Konsum legte etwas stärker zu,
was angesichts von drastischen Einbrüchen in der
Corona-Krise und der Energiepreisexplosion bereit ein
positives Zeichen ist. Mit 0,3 Prozent im Mittel der Jahre
2020 bis 2022 wurde das Ziel von durchschnittlich 1,25
Prozent aber ebenfalls klar verfehlt.
Deutlicher sind die Erfolge der Anti-Krisen-Politik am
Arbeitsmarkt abzulesen: Die Quote der Erwerbstätigen lag im
gesamten Analysezeitraum oberhalb des Zielwertes von 77
Prozent. 2022 übertraf sie mit 80,7 Prozent sogar den
Vorkrisenstand. Die „Stabilisierung des Arbeitsmarktes trotz
Rekordrezession“ bezeichnen Lindner und Tiefensee als
„gewaltigen beschäftigungspolitischen Erfolg“. Denn: „Ein
Anstieg der Arbeitslosigkeit wäre unter den Bedingungen der
Corona- und der aktuellen Energiepreiskrise sozialpolitisch
katastrophal gewesen.“
Das vierte Kriterium in diesem Teil des Checks ist der
Leistungsbilanzsaldo. Über viele Jahre hat Deutschland im
Außenhandel gewaltige Überschüsse verzeichnet. Diese
überschritten seit 2012 durchgängig das – von der
EU-Kommission mit Blick auf außenwirtschaftliche Stabilität
recht großzügig gezogene – Limit von sechs Prozent des
deutschen BIPs. Das war sogar in den Corona-Jahren 2020 und
2021 der Fall. 2022 sank der Überschuss dann drastisch auf
4,3 Prozent des BIP. Grund waren die stark verteuerten
Energieimporte.
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Aus Sicht der Verbraucher*innen in Deutschland
bedeutete die auf dem Papier „bessere Balance“ im
Außenhandel daher keinen Wohlstandszuwachs, sondern einen
Wohlstandsverlust. Und gerechnet auf den Dreijahreszeitraum
blieb der Außenhandelsüberschuss im Durchschnitt trotzdem
oberhalb von sechs Prozent. Budget und Investitionen: Kein
Kriterium erfüllt Um die Nachhaltigkeit von Staatstätigkeit
und -finanzen zu überprüfen, betrachtet der IMK-Check drei
zentrale Größen: Ob der Staatshaushalt strukturell im Plus
oder im Minus ist, die staatliche Gesamtverschuldung
gemessen am BIP sowie die öffentlichen Nettoinvestitionen.
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Während der 2010er Jahre wiesen die Budgets meist
Überschüsse und die Schuldenstandsquote eine sinkende
Tendenz auf. Beim letzten Check gaben den Forschenden vor
allem die Investitionen Anlass zur Sorge, die trotz leichter
Steigerungen viel zu niedrig ausfielen. Wenig überraschend
ist, dass sich zwischen 2020 und 2022 die Situation weiter
eingetrübt hat: In den drei Krisenjahren ist kein Ziel
erreicht worden. Die Stützungsmaßnahmen des Staates sowohl
gegen die Folgen der Corona- als auch der Energiepreiskrise
haben zu strukturellen Defiziten und 2020 und 2021 auch zu
Steigerungen der Schuldenstandquote geführt.
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Die stark gestiegenen Preise haben wiederum die
öffentlichen Investitionen belastet. Diese hatten sich 2020
noch recht positiv entwickelt, sind im Jahr 2022 aber stark
eingebrochen. „Die Verschlechterung der Defizite und der
Schuldenstandquote waren angesichts der großen Krisen
notwendig, um Wirtschaft und Gesellschaft zu stützen. Die
niedrigen Investitionen führen aber langfristig zu einer
Belastung, da weniger öffentliche Güter und Dienstleistungen
bereitgestellt werden können als notwendig wären. Dazu
gehört nicht zuletzt die Umstellung der öffentlichen
Infrastruktur auf Klimaneutralität“, warnen Lindner und
Tiefensee.
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Armut, Ungleichheit, Bildung: Daten für 2022 fehlen
noch, bis dahin schwaches Bild Auch bei der sozialen
Nachhaltigkeit kommen die Forschenden zu eher ernüchternden
Ergebnissen – auch wenn für die verwendeten Indikatoren
bislang nur Werte bis 2021 vorliegen und diese nur
eingeschränkt mit früheren Jahren vergleichbar sind. Der
Anteil der Armutsgefährdeten an der Gesamtbevölkerung
übertraf in beiden Jahren deutlich den Zielwert von 12
Prozent. 2021 lag er bei gut 16 Prozent. Die Ungleichheit
der Haushaltseinkommen, gemessen daran, wie viel mehr das
nach Einkommen „reichste“ gegenüber dem „ärmsten“ Fünftel
der Haushalte, hat sich in den ersten beiden Corona-Jahren
uneinheitlich entwickelt.
Klar ist: Beide Werte liegen deutlich über dem Zielwert von
4 (also das Vierfache). Stark negativ war die vorläufige
Entwicklung beim Bildungserfolg, gemessen an der Quote der
Personen, die höchstens die Haupt- oder Realschule
abschließen und keine weitere Ausbildung machen. Der Anteil
lag 2020 mit 10,1 Prozent nahe bei der anvisierten Grenze
von 10 Prozent, stieg 2021 aber auf 11,6 Prozent. Zum
problematischen Trend könnten die hohen Belastungen während
der Pandemie beigetragen haben, schätzen Lindner und
Tiefensee. Hier müsse die Politik verstärkt gegensteuern.
Eine inklusivere Bildungspolitik sei für die
gesellschaftliche Chancengleichheit ebenso wichtig wie für
das Fachkräftepotenzial.
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Ökologische Nachhaltigkeit: Vier Ziele, eines
erreicht Anders als in den Jahren zuvor hat Deutschland im
Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit von 2020 bis 2022
immerhin ein Ziel erreicht, und zwar ein zentrales,
schreiben die Forschenden: Die Treibhausgasemissionen sind
zwischen 1990 und 2022 um 40,4 Prozent gesunken. Auch das
konkret festgeschriebene Ziel, bis 2020 eine Reduzierung um
40 Prozent zu erreichen, wurde erfüllt.
Allerdings lag das vor allem an Sonderfaktoren in der Krise:
2020 ließ die Corona-Rezession die Energienachfrage stark
sinken, 2022 dämpften die explodierenden Energiepreise und
die Angst vor einer Gasmangellage den Verbrauch. Der Anteil
der Erneuerbaren Energien an der Energieerzeugung, ein
zweites Kriterium im Check, wächst zwar, aber besonders 2022
wurde durch den Rückgang des Einsatzes relativ
emissionsarmen Erdgases und der starken Reduzierung der
Kernenergie zugunsten von Kohle und Mineralöl der Energiemix
insgesamt kohlenstoffreicher. So ist das Ziel zum Anteil der
Erneuerbaren an der Endenergie 2020 erreicht worden.
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Der Zielpfad, der sich aus den neuen europäischen
Zielen zum Ausbau der Erneuerbaren Energien ergibt, wurde
allerdings bisher verfehlt. Unter dem Strich bleibe trotz
unübersehbarer Fortschritte also weiterer großer
Handlungsbedarf, so Lindner und Tiefensee. Bei der
Biodiversität, die ebenfalls als Indikator im „Neuen
Magischen Viereck“ erfasst wird, liegen für den
Untersuchungszeitraum keine neuen Daten vor, daher wird
dieser in der aktuellen Analyse zwar ausgewiesen, aber nicht
gewertet.
Der Nationale Vogelindex, der Artenvielfalt und
Landschaftsqualität misst, wurde zuletzt 2016 aktualisiert.
Der damals gemessene Wert von 70,3 war weit entfernt vom
Zielwert 100. Als Ursachen gelten vor allem die intensive
Landwirtschaft, die Zersiedelung, die Versiegelung von
Flächen und die Belastung von Gewässern.
Fabian Lindner, Anita Tiefensee
*Nachhaltigkeit der Wirtschaftspolitik in Zeiten von Corona
und Inflation. Lehren aus dem Neuen Magischen Viereck.
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