Neuer Verteilungsbericht des WSI
Düsseldorf/Duisburg, 4. November 2023 - Die Einkommen in
Deutschland sind heute sehr ungleich verteilt, wenn man die
Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre vergleicht. Zudem
gibt es Indizien dafür, dass die Einkommensungleichheit
während der Coronajahre erneut gestiegen ist und 2022 fast
auf diesem Höchststand verharrte. Auch die Armutsquote liegt
mit 16,7 Prozent 2022 spürbar höher als vor Beginn der
Pandemie, gegenüber 2021 ist sie geringfügig gesunken.
Insbesondere dauerhafte Armut (mindestens fünf Jahre in
Folge) hat die gesellschaftliche Teilhabe schon vor der
jüngsten Teuerungswelle stark eingeschränkt: Dauerhaft Arme
müssen etwa deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen
Lebens wie neue Kleidung oder Schuhe verzichten, sie können
seltener angemessen heizen. Und sie machen sich zudem
deutlich häufiger Sorgen um ihre Gesundheit und sind mit
ihrem Leben unzufriedener.
Die alltäglichen Erfahrungen und Möglichkeiten von Menschen
in Deutschland hängen ganz entscheidend von ihrem Einkommen
ab. Zu einem gesellschaftlichen Problem wird
Einkommensungleichheit spätestens dann, wenn sie zu einer
Entfremdung einzelner Gruppen vom demokratischen System
beiträgt. Ausgehend von der anhaltend hohen
Einkommensungleichheit zeichnet der Verteilungsbericht
unterschiedliche Lebensrealitäten von Menschen nach und
verdeutlicht: Wenn sich Menschen gesellschaftlich nicht mehr
wertgeschätzt fühlen und das Vertrauen in das politische
System verlieren, dann leidet darunter auch die Demokratie.
Auch das Gefühl, anerkannt und
wertgeschätzt zu werden und das Vertrauen in demokratische
und staatliche Institutionen hängen stark mit dem Einkommen
zusammen. Arme empfinden weitaus häufiger als Menschen mit
mehr Geld, „dass andere auf mich herabsehen“, wobei das
Problem unter Menschen in dauerhafter Armut noch weitaus
ausgeprägter ist als bei temporärer Armut: Fast jede*r
Vierte unter den dauerhaft Armen sagt, von anderen
geringgeschätzt zu werden.
Mit materiellen Einschränkungen und dem Gefühl geringer
Anerkennung geht bei vielen Betroffenen eine erhebliche
Distanz zu zentralen staatlichen und politischen
Institutionen einher: Mehr als die Hälfte der Armen hat nur
wenig Vertrauen in Parteien und Politiker*innen. Rund ein
Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem
Maße. Zu diesen Ergebnissen kommt der neue
Verteilungsbericht des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung.*
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„Wenn sich Menschen gesellschaftlich nicht
mehr wertgeschätzt fühlen und das Vertrauen in das
politische System verlieren, dann leidet darunter auch die
Demokratie“, ordnen die Studienautor*innen Dr. Jan Brülle
und Dr. Dorothee Spannagel ihre Befunde ein. „Wir sehen in
Befragungen, dass Menschen mit niedrigen Einkommen von
weiter wachsenden finanziellen Belastungen berichten – das
geht bis in diesen Sommer hinein.
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Der Verteilungsbericht macht deutlich, welche
Folgen das haben kann“, ergänzt Prof. Dr. Bettina
Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI.
„Gleichzeitig reichen Sorgen über die soziale Ungleichheit
weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus: Für
44 Prozent der Erwerbspersonen, die wir im Juli befragt
haben, war das ein großes Thema. Mehr und wirksameres
politisches Engagement gegen Armut und Ungleichheit ist ein
wesentlicher Ansatz, um die Gesellschaft zusammen- und
funktionsfähig zu halten, gerade in Zeiten großer
Veränderungen und der Herausforderung durch Populisten.“
Im Verteilungsbericht werten die WSI-Fachleute Brülle und
Spannagel die aktuellsten vorliegenden Daten aus zwei
repräsentativen Befragungen aus: Erstens aus dem
Mikrozensus, für den jährlich etwa 800.000 Personen befragt
werden.
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Die neueste Befragungswelle liefert – noch
vorläufige – Daten für 2022. Zweitens aus dem
sozio-oekonomischen-Panel (SOEP), für das rund 15.000
Haushalte jedes Jahr interviewt werden, und das aktuell bis
2021 reicht. Die Ergebnisse im Einzelnen: Ungleichheit der
Einkommen: Indizien für Zunahme in der Krise trotz
Datenschwierigkeiten Wie gleich oder ungleich die Einkommen
verteilt sind, lässt sich über zwei statistische Maße
ermitteln, die in der Wissenschaft häufig verwendet werden:
Den so genannten Gini-Koeffizienten und das
Einkommensquintilsverhältnis. Der „Gini“ reicht theoretisch
von null bis eins: Beim Wert null hätten alle Menschen in
Deutschland das gleiche Einkommen, bei eins würde das
gesamte Einkommen im Land auf eine einzige Person entfallen.
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Diese Bandbreite macht
deutlich, dass auch vermeintlich kleine Änderungen des
Koeffizienten erhebliche Bedeutung haben. So lag der
Gini-Wert nach dem Mikrozensus 1999 bei 0,26, 2010 hingegen
deutlich höher bei 0,29. Gerade in der ersten Hälfte der
2000er Jahre gab es einen erheblichen Zuwachs der
Einkommensungleichheit in Deutschland – auch im
internationalen Vergleich. Zur Ermittlung des
Einkommensquintilsverhältnis werden die Einkommen der
Bevölkerung nach der Höhe sortiert und fünf gleich große
Gruppen gebildet. Verglichen wird dann das Einkommen des
obersten Fünftels mit dem des unteren.
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Nach dem deutlich Anstieg und einigen
Schwankungen in den 2000er Jahren, blieb der Gini nach den
Mikrozensusdaten während der 2010er Jahre relativ stabil auf
dem erhöhten Niveau. Bis einschließlich 2019 betrug er 0,29.
2020 stieg der Wert auf 0,30. Ein direkter Vergleich
zwischen den beiden Jahren ist nur sehr eingeschränkt
aussagefähig, weil auf 2020 die Stichprobenziehung und die
Erhebungsmethode des Mikrozensus aktualisiert wurden und es
im ersten Corona-Jahr einige Erhebungsprobleme gab.
Allerdings ist es auch 2021 und 2022 beim höheren Gini-Wert
von 0,30 geblieben. Und parallel hat sich das
Einkommensquintilsverhältnis stärker auseinanderentwickelt:
Von 2010 bis 2019 lag das Einkommen im obersten Fünftel
meist 4,3 mal so hoch wie das im untersten. Dieser Wert ist
2020 auf 4,5 gestiegen, er lag 2021 beim 4,7-fachen und 2022
bei 4,6. Das sei „bei aller gebotenen Vorsicht in Anbetracht
der Einschränkungen in der Vergleichbarkeit der Daten ein
Hinweis darauf, dass die Einkommensungleichheit gestiegen
ist“, schreiben die Forschenden (siehe auch Tabelle 1 in der
pdf-Version dieser PM; Link unten).
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Armut lange gewachsen, zuletzt geringfügiger
Rückgang Eindeutig zugenommen hat die Einkommensarmut. Als
arm definieren die WSI-Fachleute gemäß der üblichen
wissenschaftlichen Definition Menschen, deren
bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60
Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt.
Sehr arm (Fachbegriff: „strenge Armut“) sind Personen, die
nicht einmal 50 Prozent des mittleren Einkommens zur
Verfügung haben. Für einen Singlehaushalt entspricht das
maximal 1200 bzw. 1000 Euro im Monat.
Schon in den 2010er Jahren stieg die Armutsquote mit
gelegentlichen jährlichen Schwankungen im Trend spürbar an,
und die Entwicklung hat sich fortgesetzt, zeigt der
Verteilungsbericht: Im Jahr 2022 lebten 16,7 Prozent der
Menschen in Deutschland in Armut, 10,1 Prozent sogar in
strenger Armut. 2010 lagen die beiden Quoten noch bei 14,5
bzw. 7,7 Prozent (Abbildung 1 in der pdf-Version).
Überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind
Arbeitslose, Minijobber*innen, Ostdeutsche, Frauen,
Alleinerziehende, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte,
Singles und Menschen, deren Schulabschluss maximal einem
Hauptschulabschluss entspricht.
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Interessant ist, dass der Anteil der Armen in
der Corona-Krise weiter stieg, von 2021 auf 2022 aber
geringfügig sank (von 16,9 auf 16,7 Prozent). Eine mögliche
Interpretation für diesen Rückgang ist nach Analyse von
Brülle und Spannagel, „dass er im Zusammenhang mit den
Entlastungsmaßnahmen steht, welche die Politik im Jahr 2022
auf den Weg gebracht hat – unter anderem Zuschläge zu den
Leistungen für Grundsicherungsempfänger*innen.“
Auch wenn die Anti-Krisen-Politik
der Bundesregierung nach Beginn von Ukraine-Krieg und
Energiepreisexplosion die oberen Einkommensschichten in
absoluten Zahlen mindestens ähnlich stark entlastete,
leistete sie damit möglicherweise einen kleinen Beitrag zur
Armutsbekämpfung. Parallel schwankte der Anteil der
Menschen, die mehr als das Doppelte des mittleren Einkommens
zur Verfügung haben und damit in der Sozialstatistik als
„einkommensreich“ gelten, zuletzt um einen Anteil von acht
Prozent aller Haushalte, mit eher sinkender Tendenz.
Allerdings zeigt sich dabei kein klarer Trend, so Spannagel
und Brülle.
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Schon vor Teuerungswelle konnten sich fünf
Prozent der dauerhaft Armen keine neuen Schuhe leisten Die
SOEP-Daten für 2021, die die Forschenden analysieren, machen
anschaulich, dass Armut selbst in einem reichen Land wie der
Bundesrepublik nicht selten mit deutlichen alltäglichen
Entbehrungen verbunden ist – und dass Arme und Reiche bei
Sorgen, Lebenszufriedenheit und Blick auf ihre Umwelt oft in
zwei Welten leben.
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Bereits im Jahr vor der großen Teuerungswelle
war neue Kleidung unerschwinglich für 17 Prozent der
Menschen, die „dauerhaft“, also über fünf oder mehr Jahre,
unter der Armutsgrenze lebten. Unter den Menschen, die 2021
arm waren, aber nicht in durchgehend in allen vier Jahren
zuvor („temporäre Armut“), konnten sich gut acht Prozent
keine neuen Anziehsachen leisten. Knapp 59 Prozent der
dauerhaft und gut 34 Prozent der temporär Armen hatten
keinerlei finanzielle Rücklagen. Die Zahlen zeigten, dass
einerseits auch vorübergehende Armut nicht selten zum
Verzicht auf grundlegende Gebrauchsgüter zwingt.
Andererseits machten sie deutlich, wie stark die
alltäglichen Probleme wachsen, wenn sich Armut verfestigt,
so Brülle und Spannagel.
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Immerhin mehr als vier Prozent der dauerhaft
Armen fehlte schon im Jahr vor der Energiepreisexplosion das
Geld, die Wohnung angemessen zu heizen, fünf Prozent konnten
nicht einmal neue Schuhe kaufen (Abbildung 2). Bei temporär
Armen lag dieser Anteil bei einem Prozent bzw. darunter.
Arme machen sich viel mehr Sorgen um ihre wirtschaftliche
Situation, die Zukunft – und die Gesundheit Wenig
überraschend, prägt sich der eingeschränkte materielle
Spielraum dauerhaft armer Menschen auch darin aus, dass sie
sich überdurchschnittlich oft große Sorgen um ihre eigene
wirtschaftliche Situation machen: Knapp 31 Prozent tun das,
und damit fast doppelt so viele wie unter den temporär Armen
und gut dreimal so viele wie unter Menschen mit mittleren
Einkommen.
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Unter den einkommensreichen Personen in der
Stichprobe äußern nicht einmal drei Prozent solche Sorgen –
eine enorme Differenz zu den Armen, aber auch ein
erheblicher Unterschied zu mittleren Gruppen. Bei den Sorgen
um die eigene Altersversorgung zeigt sich ein ähnliches
Muster auf etwas höherem Niveau in allen Gruppen. Auch die
allgemeine Lebenszufriedenheit steigt mit dem Einkommen,
wobei sich erneut einkommensreiche und vor allem dauerhaft
arme Menschen an den beiden Enden der Skala stärker von der
Mittelschicht absetzen.
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Unterschiedliche Positionen in der
Einkommensverteilung spiegeln sich sogar in Lebensbereichen
wider, die auf den ersten Blick wenig mit dem Geld zu tun
haben. Das zeigt sich deutlich in der Dimension der
Gesundheit: Mehr als jede*r Dritte dauerhaft Arme macht sich
große Sorgen um die eigene Gesundheit und nicht einmal 20
Prozent geben an, sich in diesem Bereich keine Sorgen zu
machen. Immerhin noch über 27 Prozent der Menschen in
temporärer Armut machen sich große Sorgen, während nur 24
Prozent in diesem Bereich sorgenfrei sind.
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In den mittleren und höheren Einkommensgruppen
nehmen die Sorgen dann sukzessive ab – unter den
Einkommensreichen ist weniger als jede*r Zehnte sehr über
die eigene Gesundheit besorgt. Erleben von Geringschätzung:
Bei dauerhaft Armen sieben Mal so häufig wie unter
Einkommensreichen Mit Hilfe der SOEP-Daten können die
WSI-Forschenden noch genauer ausleuchten, in welchem Maße
Ungleichheit auch in der alltäglichen Interaktion mit
anderen Menschen spürbar wird. Denn je nach Einkommen zeigen
sich deutliche Unterschiede in Bezug auf das Erleben von
Wertschätzung beziehungsweise Geringschätzung.
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Gut 24 Prozent der dauerhaft Armen geben an,
dass andere auf sie herabsehen. Dagegen nehmen das weniger
als 14 Prozent der temporär Armen, 8 Prozent der Personen
mit mittleren Einkommen und kaum mehr als 3 Prozent der
Einkommensreichen so wahr.
Einkommensreiche Menschen unterscheiden sich zudem in ihrem
Erleben von Wertschätzung stark vom Rest der Gesellschaft:
Fast 48 Prozent von ihnen geben an, dass andere oft zu ihnen
aufsehen. Unter den dauerhaft Armen nehmen das nur 28
Prozent so wahr, in den anderen beiden Gruppen sind es 33
Prozent bzw. 35 Prozent. Dabei ist zu beachten, dass sich
viele Menschen überwiegend in einem ähnlichen sozialen
Umfeld „unter ihresgleichen“ bewegen, was die Unterschiede
noch akzentuiert.
Ob Bundestag oder Rechtssystem: Arme äußern dreimal so
häufig Distanz gegenüber Institutionen wie Wohlhabende
„Solche Unterschiede im Erleben von Anerkennung und
Missachtung können eine Entfremdung unterer
Einkommensklassen von der Gesellschaft, aber auch vom
politischen System begünstigen“, warnen Brülle und
Spannagel. Tatsächlich zeigt sich eine deutliche Korrelation
zwischen Einkommenshöhe und geringem Vertrauen in staatliche
und demokratische Institutionen. Unter den Einkommensreichen
gibt es nur wenige – deutlich unter zehn Prozent – die der
Polizei oder dem Rechtssystem nicht oder wenig vertrauen.
Unter den dauerhaft Armen sind es
hingegen knapp 22 Prozent (Polizei) beziehungsweise fast 37
Prozent (Rechtssystem; siehe auch Abbildung 4). Distanz
gegenüber demokratischen Institutionen folgt, auf deutlich
höherem Niveau, dem gleichen Muster: Ein geringes Vertrauen
in den Bundestag äußern knapp 19 Prozent der
Einkommensreichen, fast 30 Prozent der Personen mit
mittleren Einkommen und gut 40 beziehungsweise gut 47
Prozent der temporär bzw. dauerhaft Armen.
Gegenüber Politiker*innen äußert
sogar eine Mehrheit eine erhebliche Distanz: Gut 58 der
dauerhaft und fast 54 Prozent der temporär Armen sprechen
von geringem Vertrauen, auch gegenüber Parteien tun das 56
bzw. knapp 54 Prozent.
Allerdings äußert in beiden Fällen knapp die Hälfte der
Menschen mit mittleren Einkommen ebenfalls erhebliche
Skepsis. Nur unter den Einkommensreichen erwecken Parteien
und Politiker*innen bei einer soliden Mehrheit von rund 63
Prozent größeres oder großes Vertrauen.
Politik gegen Armut und soziale Spaltung
Die Verteilungsfachleute Brülle und Spannagel ordnen die
Befunde als Indiziensammlung ein, die in eine beunruhigende
Richtung deutet: „Auch wenn die gesellschaftlichen
Auswirkungen der vergangenen Krisen in ihrer Breite noch gar
nicht abzuschätzen sind, deutet vieles darauf hin, dass sie
die soziale Spaltung in Deutschland vertieft haben.“
Dabei erkennen sie durchaus Erfolge
im Krisenmanagement der Politik an: „Die Bundesregierung hat
versucht, den Armen zu helfen und insgesamt drei
Entlastungspakete geschnürt. All diese Maßnahmen haben
gewirkt und Haushalte mit niedrigen Einkommen nachweislich
entlastet. Aber sie waren eben nicht mehr als der berühmte
Tropfen auf den heißen Stein und haben an den strukturellen
Ursachen der wachsenden Ungleichheiten nichts geändert“,
schreiben die Forschenden.
Um gegenzusteuern, heben sie mehrere Maßnahmen hervor:
1. Anhebung der Grundsicherung auf ein
armutsfestes Niveau: Die Regelsätze der sozialen
Grundsicherung müssen nach Analyse der
Verteilungsexpert*innen so weit angehoben werden, dass sie
Einkommensarmut tatsächlich verhindern. Das sei beim
Einstieg ins Bürgergeld nicht passiert. Die von der
Bundesregierung angekündigte Kindergrundsicherung setze zwar
„ein positives Signal, wenn sie tatsächlich zu einer
einfacheren Inanspruchnahme der Leistungen für Familien mit
niedrigen Haushaltseinkommen führt. Inwiefern sie aber
tatsächlich zur Reduzierung von Armut beitragen kann, hängt
auch hier davon ab, ob die Höhe der Leistungen auf ein
armutsfestes Niveau angepasst wird.“
2. Bessere Löhne durch höheren Mindestlohn,
Stärkung der Tarifbindung und Qualifizierung: Um Armut trotz
Arbeit zu reduzieren, empfehlen Brülle und Spannagel einen
Mix aus höherer Entlohnung und einer besseren
Erwerbsbeteiligung, gerade von Menschen mit geringen
formalen Qualifikationen. Dazu zählen sie eine zügige
stärkere Erhöhung des Mindestlohns als die 41 Cent, die die
Arbeitgeber in der Mindestlohnkommission für den
Jahresbeginn 2024 durchgesetzt haben. Als weiteren wichtigen
Ansatz gegen Niedriglöhne nennen sie eine Stärkung der
Tarifbindung. Komplementär plädieren sie für deutlich mehr
„einzelfallorientierte Weiterqualifikationsmaßnahmen“ und
einen weiteren Ausbau der Kinderbetreuung.
3. Reiche und
Superreiche stärker an Finanzierung des Gemeinwohls
beteiligen: Seit Mitte der 1990er Jahre wurden reiche
Haushalte systematisch steuerlich entlastet, analysieren die
Forschenden. „Zuletzt war es die Reform der Erbschaftssteuer
im Jahr 2016, die es zahlreichen Superreichen ermöglicht,
erhebliche Betriebsvermögen zu vererben, ohne dass darauf
nennenswert Steuern entfallen.“
Die Lasten, die sich aus den aktuellen Krisen ergeben,
müssten aber auch von den „starken Schultern“ mitgetragen
werden, und das insbesondere über eine deutlich stärkere
steuerliche Beteiligung. Als Ansätze nennen Brülle und
Spannagel, den Spitzensteuersatz wieder anzuheben, eine
progressive Vermögenssteuer wiedereinzuführen und die
Schlupflöcher in der Erbschaftssteuer zu schließen. Dabei
müsse es bei der Vermögens- wie auch der Erbschaftssteuer
hohe Steuerfreibeträge geben, betonen die
Studienautor*innen.
„Es geht nicht darum, die Steuern
für die Mitte der Gesellschaft zu erhöhen; es sind die
Reichen und Reichsten dieser Gesellschaft, die einen
größeren Beitrag zu unserem Gemeinwohl leisten müssen.“
Solche Maßnahmen „erhöhen die Legitimitätsbasis unserer
Demokratie, indem sie die Lasten der Krisen gerechter
verteilen – ein entscheidender Baustein dafür, das Vertrauen
in unsere freiheitlich demokratische Grundordnung wieder zu
stärken.“
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