Auswertung von Panelbefragung
Düsseldorf/Duisburg, 30. November 2023 - Erwerbspersonen,
die die AfD wählen wollen, berichten deutlich häufiger als
der Durchschnitt der Erwerbspersonen von problematischen
Arbeitsbedingungen und mangelnder Anerkennung im Job. Das
zeigt eine neue Studie des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung, für die auch detailliert erhoben
wurde, ob Menschen Erfahrungen von Würde, demokratischer
Teilhabe und sozialer Anerkennung im Kontext von
Erwerbsarbeit erleben oder nicht.*
Zudem zeichnen sich AfD-Wähler*innen durch ein hohes Maß an
Misstrauen gegenüber staatlichen und gesellschaftlichen
Institutionen aus, gleichzeitig berichten sie
überdurchschnittlich häufig von großen Belastungen und
Sorgen. Diese betreffen ihre eigene wirtschaftliche
Situation, die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes oder ihre
Altersvorsorge, aber beispielsweise auch die soziale
Ungleichheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt im
Land.
Durch die Verwendung von Paneldaten ist es in der Studie
möglich, AfD-Stammwähler*innen und Personen, die erst seit
Kurzem zur AfD tendieren, zu vergleichen. So lassen sich
Ursachen für das aktuelle Umfragehoch der AfD analysieren.
Beide Gruppen unterscheiden sich in manchen Merkmalen
spürbar voneinander. Beispielsweise ist der Frauenanteil
unter potenziellen Neuwähler*innen höher, sie haben häufiger
mittlere bis höhere Bildungsabschlüsse und Einkommen, die
Bekämpfung des Klimawandels wird hier häufiger als wichtige
politische Aufgabe erachtet, sie haben sich auch deutlich
öfter gegen Corona impfen lassen als Stammwählende.
Während Stammwähler*innen der AfD mit sehr hohem Vertrauen
in die Partei, die sie wählen, auffallen, ist es unter den
neu zur AfD Tendierenden deutlich geringer. Eine sehr starke
Ähnlichkeit besteht dagegen unter Neu- und Stammwählenden
darin, dass sie hochbesorgt sind, der Bundesregierung extrem
stark misstrauen, eine sehr kritische Sicht auf Migration
haben – inklusive der Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine
– und eine Politik zur Beschränkung von Zuwanderung für sie
Priorität hat. „Die Studie zeigt, dass es der AfD gelungen
ist, noch stärker als bisher in die gesellschaftliche Mitte
vorzudringen.
Dabei wird diese Partei nicht trotz, sondern wegen ihrer
migrationsfeindlichen Positionen gewählt. Gleichzeitig wird
deutlich, dass Erfahrungen mangelnder sozialer und
demokratischer Teilhabe, vor allem im Kontext von
Erwerbsarbeit, ebenso wie materielle Sorgen mit der Wahl der
AfD in Zusammenhang stehen“, ordnet Prof. Dr. Bettina
Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI, die neuen
Ergebnisse ein. Bei der Sonntagsfrage hat die AfD seit
Beginn des Jahres stetig zugelegt, in den neuen
Bundesländern ist sie zur stärksten Kraft avanciert. Um den
Ursachen dieser Entwicklung auf die Spur zu kommen, hat
WSI-Forscher Dr. Andreas Hövermann Daten des
Erwerbspersonenpanels der Hans-Böckler-Stiftung ausgewertet.
Für das Panel, das seit April 2020 regelmäßig erhoben wird,
sind bei der zehnten und aktuellsten Welle im Juli 2023 über
5.000 Erwerbstätige und Arbeitsuchende befragt worden.
Insgesamt viermal haben die Teilnehmenden in den vergangenen
Jahren ihre Wahlabsicht zu Protokoll gegeben, kurz nach der
Bundestagswahl 2021 zudem ihr tatsächliches Votum. Aus
diesen Angaben lassen sich deutliche Zugewinne für die AfD
ablesen: Während bei der Bundestagswahl noch 8,6 Prozent der
Befragten ihr Kreuz bei dieser Partei gemacht hatten,
erklärten im Juli 2023 knapp 23 Prozent, AfD wählen zu
wollen. 28 Prozent davon wiederum hatten auch in den
vorherigen Befragungen ausschließlich diese Präferenz
geäußert, 38 mehrmals, aber nicht immer, 26 Prozent taten
das zum ersten Mal.
Angesichts der Befunde kommt Studienautor Hövermann zu der
Einschätzung, dass die migrationskritischen Positionen
diejenigen sind, mit denen die AfD besonders bei ihren
Wählenden punkten könne. Es sei aber für demokratische
Parteien keine kluge Strategie, über diese Schiene
Wähler*innen mit AfD-Präferenz ansprechen zu wollen. Nicht
nur widerspreche dies den Werten und Grundsätzen offener
demokratischer Gesellschaften, es vergifte auch den
politischen Diskurs, verschärfe gesellschaftliche Spaltungen
und verschiebe die Grenzen des Sagbaren nach rechts, wovon
demokratische Parteien zudem auch noch selten profitierten.
Darauf deute beispielsweise die
Analyse der Wähler*innenwanderung zur AfD im Zeitverlauf
hin, so Hövermann: Zwar verloren mit der FDP und der SPD
auch zwei Ampelparteien viele Wählende an die AfD, jedoch
wandten sich die Wählenden im Falle der SPD verstärkt im
ersten Jahr nach der Bundestagswahl ab.
Im vergangenen Jahr fällt in den Analysen insbesondere die
Union mit Verlusten an die AfD auf, die zwar wiederholt eine
politische Brandmauer nach rechts zusichert, deren
Spitzenpolitiker jedoch mehrfach klar rechtspopulistische
Positionen, Stilmittel und Vokabular teilten. Dagegen gebe
es zahlreiche soziale Themen, mit denen die demokratischen
Parteien durchaus Chancen hätten, zumindest einen Teil der
nach rechts Gedrifteten zurückzugewinnen: Es gelte, sie
jedoch unbedingt mit „anderen als mit migrationsfeindlichen
Positionen“ anzusprechen – mit Positionen, die geeignet
sind, ihre sozialen und finanziellen Sorgen zu adressieren.
Weniger Mitsprache und Anerkennung bei der Arbeit,
häufiger Sorgen um den Job
Im Vergleich zu den anderen Befragten sind unter den
AfD-Anhänger*innen anteilig mehr Männer, Ostdeutsche und
Personen ohne Abitur. Überdurchschnittlich vertreten sind
auch Menschen mit geringen bis mittleren Einkommen, die
Altersgruppe zwischen 30 und 49 Jahren und Eltern. Wenn es
um die berufliche Situation geht, sticht die
AfD-Wählerschaft in mehrfacher Hinsicht hervor:
Arbeiter*innen kommen mit 22 Prozent deutlich häufiger vor
als bei den anderen Befragten mit 12 Prozent. Gleiches gilt
für Arbeitsuchende. Beamt*innen sind dagegen
unterrepräsentiert.
Einen Betriebs- oder Personalrat haben diejenigen mit
AfD-Präferenz etwas seltener als der Rest. Sie sind – wenn
es eine solche Interessenvertretung gibt – häufiger mit
deren Arbeit unzufrieden. Auch Tarifverträge sind etwas
weniger verbreitet als im Durchschnitt. Auffällige
Unterschiede betreffen die Erfahrungen im Arbeitskontext:
Dass ihr Job sicher sei, sagen 74 Prozent derjenigen, die
der AfD zuneigen, im Vergleich zu 85 Prozent der übrigen
Befragten.
Stolz auf die eigene Arbeit empfinden 74 Prozent im
Vergleich zu 84 Prozent. Auch die Chancen im Fall von
Arbeitslosigkeit werden pessimistischer eingeschätzt, die
Arbeit wird seltener als abwechslungsreich empfunden, es
gibt weniger Mitsprache bei strategischen Fragen am
Arbeitsplatz und weniger Unterstützung durch Kolleg*innen.
Insbesondere beim Thema soziale Anerkennung zeigen sich
markante Differenzen: Für angemessen halten ihren Lohn 42
Prozent der AfD-Anhängerschaft und 55 Prozent der übrigen
Erwerbspersonen, dass ihre Arbeitsleistung vom Arbeitgeber
nicht wertgeschätzt werde, monieren 48 Prozent im Vergleich
zu 40 Prozent.
Alles in allem ist ein Viertel der AfD-Wähler*innen wenig
oder gar nicht zufrieden mit dem Job, bei den anderen
Befragten nur ein Sechstel. „In der Studie wurden
verschiedene Dimensionen von Würde im Arbeitskontext
untersucht, zum Beispiel, stolz auf die eigene Arbeit zu
sein oder eine abwechslungsreiche Tätigkeit ausüben zu
können. Es wird deutlich, dass neben der Erfahrung von
materieller Sicherheit auch diese Erfahrungen ebenso wie das
Erleben sozialer Anerkennung und demokratischer Teilhabe im
Kontext von Erwerbsarbeit einen Einfluss darauf haben, ob
Menschen sich dafür entscheiden, ihre Stimme der AfD zu
geben“, sagt WSI-Direktorin Kohlrausch.
„Erwerbsarbeit ist ein wichtiger
Mechanismus sozialer Integration. Wenn Menschen dort
dauerhaft Erfahrungen von Desintegration machen, schadet das
der Demokratie.“ Äußerst kritisch stehen die
AfD-Sympathisant*innen auch staatlichen oder
gesellschaftlichen Institutionen gegenüber
Nur ein verschwindend geringer
Anteil von ihnen äußert großes oder sehr großes Vertrauen in
die Bundesregierung (2,8 Prozent) oder in die
öffentlich-rechtlichen Medien (6 Prozent). Bei den
Befragten, die andere Parteien bevorzugen, sind es 21 und 38
Prozent. Auch Polizei oder Gerichten stehen AfD-Wähler*innen
deutlich distanzierter gegenüber. Das Vertrauen in die AfD
selbst fällt dagegen mit 48 Prozent in ihrer Anhängerschaft
vergleichsweise hoch aus, nur die Grünen schneiden hier mit
58 Prozent bei den eigenen Anhänger*innen deutlich besser
ab, die SPD folgt mit 42 Prozent auf Platz drei (Abbildung
3).
Man müsse also davon ausgehen, dass viele Menschen die AfD
aus Überzeugung wählen und nur eher wenige ihr Kreuz hier
willkürlich aus Protest gegen demokratische Parteien machen,
ohne auch mit der AfD einverstanden zu sein, so der
WSI-Forscher. Er macht aber auch darauf aufmerksam, dass das
Vertrauen in die AfD bei denjenigen weniger ausgeprägt ist,
die vor kurzem zum ersten Mal eine Präferenz für diese
Partei geäußert haben (20 Prozent, Abbildung 4).
Das sei eventuell ein Grund zur Hoffnung, da einige der
Neuwählenden noch keine gefestigte Wahlüberzeugung für die
AfD entwickelt haben und bei ihnen der Weg zurück zu
demokratischen Parteien noch nicht gänzlich verstellt sein
könnte. Zum Klischee des „besorgten Bürgers“ passt der
Befund, dass AfD-Anhänger*innen ein „konstant sehr hohes
Sorgen- und Belastungslevel“ aufweisen (Abbildung 5).
Große Sorgen, den Lebensstandard
nicht halten zu können, machen sich 47 Prozent von ihnen im
Vergleich zu 23 Prozent der anderen Erwerbspersonen, wegen
steigender Preise sorgen sich 71 Prozent im Vergleich zu 42
Prozent, um die eigene wirtschaftliche Situation 38 Prozent
im Vergleich zu 19 Prozent. Starke oder äußerst starke
Belastungen verspüren Befragte mit Vorliebe für die AfD im
Hinblick auf die Gesamtsituation und die finanzielle
Situation fast doppelt so oft wie die anderen. Die einzige
weniger ausgeprägte Sorge bezieht sich auf eine mögliche
Ausweitung des Ukrainekrieges.
Ablehnung von Geflüchteten
aus der Ukraine und Verschwörungserzählungen weit verbreitet
Kurz nach der Bundestagswahl 2021 konnten die Befragten im
Erwerbspersonenpanel angeben, welche Themen für die neue
Regierung Priorität haben sollten. In manchen Punkten lagen
die Befragten, die aktuell AfD wählen wollen, nicht weit
entfernt vom Durchschnitt der Befragten. So nannten sie mit
ähnlicher Häufigkeit beispielsweise Schaffung und Erhalt von
Arbeitsplätzen, Investitionen in Infrastruktur oder
Verbesserung der Pflege. Beim Thema Migration war die
Differenz dagegen enorm: 95 Prozent der Befragten, die
aktuell der AfD zuneigen, nannten die Begrenzung der
Zuwanderung als ein wichtiges Thema.
Unter denen, die andere Parteien
wählen wollen, waren es 55 Prozent. Dass man gegenüber
ukrainischen Geflüchteten nicht zu großzügig sein dürfe,
bejahten in der Befragungswelle von November 2022 73 Prozent
der AfD-Sympathisant*innen im Vergleich zu 36 Prozent der
anderen Befragten, dass diese Geflüchteten sich erst mal
hinten anstellen sollten, 76 Prozent im Vergleich zu 31
Prozent (Abbildung 6). Gleichzeitig tendierte ein
erheblicher Teil der AfD-Sympathisant*innen in vorherigen
Befragungswellen zu Verschwörungserzählungen oder
russlandfreundlichen Interpretationen des Kriegs gegen die
Ukraine.
Der Aussage, der Krieg in der
Ukraine werde „genauso künstlich dramatisiert wie die
Pandemie“, stimmten im November 2022 mehr als die Hälfte der
AfD-Wählenden zu (16 Prozent unter Wählenden anderer
Parteien). Auch die Deutung der Schuldfrage, dass die NATO
Russland zum Krieg „provoziert“ habe, erhält unter knapp der
Hälfte der Befragten mit AfD-Wahlabsicht Zuspruch (unter
Wählenden anderer Parteien 14 Prozent).
Werden die Unterschiede zwischen den AfD-Wählendengruppen
betrachtet, bestätigt sich das auch für die Einstellungen zu
Geflüchteten geltende Bild: Verschwörungsideologische sowie
russlandfreundliche Aussagen erhalten unter
AfD-Stammwählenden klar den größten Zuspruch. Auch wenn die
Zustimmungswerte unter den jetzigen AfD-Neuwählenden im
Vergleich dazu geringer ausfallen, sind sie doch ebenfalls
deutlich überdurchschnittlich und waren dies bereits im
April 2022. Dagegen ist die Bekämpfung des Klimawandels ein
Thema, bei dem Befragte, die erst in letzter Zeit zur AfD
tendieren, zumindest nach der letzten Bundestagswahl
deutlich näher bei den Wähler*innen anderer Parteien lagen
als bei den AfD-Stammwähler*innen: 66 Prozent der
Neuwähler*innen ordneten sie im Oktober 2021 als wichtig
ein, gegenüber nur 37 Prozent der AfD-Stammwähler*innen und
85 Prozent der Wähler*innen anderer Parteien.
Um zumindest Teile der AfD-Wählerschaft für das
demokratische Spektrum zurückzugewinnen, brauche es gute
Politik, die Probleme und empfundene Ungerechtigkeiten
angeht und löst, so Hövermann. „Wenn aber öffentliche
Infrastruktur häufig nicht funktioniert oder bezahlbarer
Wohnraum in vielen Regionen ausgesprochen knapp ist und hier
tatsächliche Konkurrenzsituationen mit zugewanderten
Personen entstehen, wenn unzureichend Geld zur Verfügung
gestellt wird, um ankommende Menschen erfolgreich zu
integrieren, ist all das Wasser auf die Mühlen der
politischen Akteure, die weiteres Misstrauen in
demokratische Institutionen schüren und einheimische gegen
geflüchtete Menschen aufbringen wollen.“
Eine Sparpolitik, wie sie derzeit vom Bundesfinanzminister
vorgegeben wird, erscheine vor dem Hintergrund der Befunde
dagegen als ein sehr gefährlicher Weg.
*Andreas Hövermann
Das Umfragehoch der AfD: Aktuelle Erkenntnisse über die
AfD-Wahlbereitschaft aus dem WSI-Erwerbspersonenpanel,
WSI-Report Nr. 92, November 2023
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