Daten aus mehr als 200
CDAX-Unternehmen
Düsseldorf/Duisburg, 6. Dezember 2023 - Unternehmen
mit starker Mitbestimmung tun deutlich mehr für
Nachhaltigkeit Unternehmen mit starker Mitbestimmung durch
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer agieren nachhaltiger: Sie
tun im Durchschnitt deutlich mehr, um Emissionen zu
reduzieren und Ressourcen einzusparen, sie setzen häufiger
umweltfreundliche Innovationen um, kontrollieren die
Einhaltung von Menschenrechten in ihrer Lieferkette stärker
und bieten generell bessere Arbeitsbedingungen als
vergleichbare Firmen mit schwacher oder ohne Mitbestimmung.
Das lässt sich auch an Nachhaltigkeits-Indizes ablesen, die
so genannte ESG-Scores verwenden. So hat ein
durchschnittliches Unternehmen mit starker Mitbestimmung der
Beschäftigten im Aufsichtsrat einen im Mittel um 18,9
Prozentpunkte höheren Nachhaltigkeits-Score als ein
durchschnittliches Unternehmen ohne Mitbestimmung. Das
entspricht in einem standardisierten Modell einem Vorsprung
von mehr als einem Fünftel in Hinblick auf die
ESG-Bewertung.
Zu diesen Ergebnissen kommt eine neue Studie, in der Dr.
Robert Scholz vom Wissenschaftszentrum Berlin für
Sozialforschung (WZB) die ESG-Scores von mehr als 200 im
deutschen Börsenindex CDAX notierten Unternehmen auswertet.*
Dieser Vorsprung in Sachen Nachhaltigkeit besteht unabhängig
von ebenfalls relevanten Faktoren wie Unternehmensgröße oder
Eigentümerstruktur. „Die Mitbestimmung ist damit Teil der
Transformation der Unternehmen in Richtung eines
sozial-ökologischen Wirtschaftens“, resümiert der
WZB-Forscher in seiner Studie, die vom Institut für
Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der
Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde.
Dass Unternehmen mit starker Mitbestimmung dabei in fast
allen Nachhaltigkeits-Kategorien durchschnittlich ein
besseres Ergebnis erreichen, „ist ein Beleg dafür, dass die
ökologische Transformation einer sozial nachhaltig
ausgerichteten Unternehmenspolitik nicht widerspricht“,
konstatiert der Wissenschaftler.
ESG steht für Environment, Social und Governance als drei
zentrale Dimensionen unternehmerischer Nachhaltigkeit. In
ESG-Scores wird über verschiedene Kennziffern erfasst, wie
sich Unternehmen mit Blick auf die Bereiche Umwelt, Soziales
sowie effektive und transparente Unternehmenssteuerung
verhalten. Sowohl staatliche Stellen als auch private Fonds,
Banken, Versicherungen oder Ratingagenturen legen zunehmend
Wert darauf, dass Unternehmen möglichst nachhaltig
wirtschaften und systematisch berichten, was sie dafür tun.
Dazu greifen sie auch auf solche Scores zurück. Zwar ist die
Operationalisierung von ESG-Kriterien längst nicht immer
einheitlich und erregt bisweilen Kritik.
Trotzdem haben sie erhebliche Bedeutung: „Fast alle
relevanten global agierenden Finanzmarktakteure beziehen
Nachhaltigkeitskriterien in ihre Investitionsentscheidungen
mit ein“, schreibt Scholz. Zwischen ESG-Konzept und
Mitbestimmung beobachtet der WZB-Experte grundsätzliche
„inhaltliche Schnittmengen“. Denn die Beschäftigten hätten
ein zentrales Interesse an einer nachhaltigen Entwicklung
„ihres“ Unternehmens. Unter anderem, weil sie meist eine
längerfristige Beschäftigung anstreben, die weit über
Quartalsgewinne oder Jahresumsätze hinausgeht, an denen sich
Investor*innen und Manager*innen stark orientieren.
„Nicht nur die wirtschaftliche Prosperität steht im
Mittelpunkt, sondern auch die soziale Verantwortung von
Unternehmen wie Beschäftigungsbedingungen, faire Entlohnung
und Ähnliches. Schließlich spielt auch das langfristige
Agieren der Unternehmen eine wesentliche Rolle“, beschreibt
Scholz die Perspektive der Arbeitnehmer*innen. – Daten für
224 CDAX-Unternehmen ausgewertet – In einer Untersuchung von
2019 fanden Scholz und ein WZB-Koautor bereits empirische
Hinweise drauf, dass sich Unternehmen mit starker
Mitbestimmung häufiger zu substanziellen
Nachhaltigkeitsmaßnahmen verpflichten, etwa indem sie
konkrete Ziele zur Verschmutzungsreduktion festlegen (siehe
auch den Forschungsüberblick; Link unten).
In der neuen Studie beleuchtet der Wissenschaftler nun
vertieft und mit einer weitaus größeren Stichprobe, ob
Unternehmen je nach Grad der Mitbestimmung bei der
Nachhaltigkeit unterschiedlich abschneiden. Basis sind die
Daten von 224 Unternehmen, die im übergreifenden deutschen
Börsenindex Composite DAX (CDAX) gelistet sind, und für die
ein ESG-Score der spezialisierten Ratingagentur Refinitiv
vorliegt. Refinitiv hat im Vergleich zu anderen Agenturen
die größte frei verfügbare Anzahl aktueller
CDAX-Nachhaltigkeitsbewertungen vorgenommen. Sie beziehen
sich auf die Jahre 2021 und 2022 und umfassen mehr als 600
Kennzahlen pro Unternehmen, die zehn Kategorien zugeordnet
werden, so genannten „Subscores“.
Dazu zählen beispielsweise die
unternehmensspezifische Entwicklung von Emissionen und
Ressourcenverbrauch, der Umgang mit Beschäftigten, die
Einhaltung von Menschenrechten oder die Existenz einer
Strategie zur „Corporate Social Responsibility“ (CSR). Aus
den Ergebnissen für die zehn Subscores errechnet Refinitiv
einen ESG-Gesamtscore für jedes Unternehmen. Je höher der
ist, desto überzeugender steht ein Unternehmen in Sachen
Nachhaltigkeit da.
Ob und wie stark Mitbestimmung in den untersuchten
Unternehmen verankert ist, bestimmt der Forscher über den am
WZB entwickelten Mitbestimmungsindex (MB-ix). Dieser
verzeichnet unter anderem, wie viele
Arbeitnehmervertreter*innen im Aufsichtsrat und dessen
Ausschüssen sitzen, wie stark die formellen
Einflussmöglichkeiten des Kontrollorgans sind oder ob es
einen Europäischen Betriebsrat gibt. Der MB-ix reicht von 0
(keine Mitbestimmung) bis 100 (zahlenmäßig paritätisch im
Aufsichtsrat mitbestimmt und auch alle weiteren definierten
Merkmale einer institutionellen Verankerung der
Mitbestimmung sind vollständig erfüllt).
Grundsätzlich ist dabei natürlich zu
beachten, dass nach der geltenden Gesetzeslage auch in
Unternehmen mit 100 MB-ix-Punkten die
Arbeitnehmervertreter*innen im Aufsichtsrat von den
Vertreter*innen der Kapitalseite im Konfliktfall überstimmt
werden können, weil diese das sogenannte Doppelstimmrecht
haben. – 19 Prozentpunkte höherer Score bei starker
Mitbestimmung – Die Datenanalyse zeigt deutliche
Zusammenhänge zwischen Stärke der Mitbestimmung und
Nachhaltigkeits-Score. So haben beispielsweise 33
Unternehmen im Untersuchungs-Sample ein sehr hohes Niveau
der Mitbestimmung nach dem MB-ix. 29 davon weisen auch einen
hohen oder sehr hohen ESG-Score auf.
Unter den 95 Unternehmen ohne Mitbestimmung in der
Stichprobe gilt das dagegen gerade einmal für 19. Auch bei
einer verfeinerten statistischen Analyse bleibt der
signifikant positive Effekt der Mitbestimmung in Sachen ESG
erhalten. In so genannten Regressionsrechnungen
quantifiziert WZB-Experte Scholz dazu die Beziehung weiterer
Parameter zum ESG-Gesamtscore. Das ist nötig, um
Zusammenhänge im Hintergrund statistisch kontrollieren zu
können.
So ist beispielsweise bekannt, dass größere Unternehmen
generell meist höhere ESG-Scores haben als kleine, weil sie
beispielsweise über mehr Personal und Ressourcen für
Nachhaltigkeitsprogramme verfügen und zudem strengeren
institutionellen Regeln unterliegen. Gleichzeitig steigt das
Niveau der Mitbestimmung nach den deutschen Gesetzen mit der
Zahl der Beschäftigten. Daher bezieht Scholz die
Unternehmensgröße, gemessen an der Marktkapitalisierung, in
die Regression ein. Außerdem prüft er, welche Wirkung der
Anteil des Streubesitzes hat sowie die Branche, in der ein
Unternehmen aktiv ist.
Ergebnis der Berechnungen: Der mit Abstand stärkste
Einzel-Zusammenhang besteht, wenig überraschend, zwischen
Unternehmensgröße und ESG-Score. Den zweitstärksten Einfluss
hat die Mitbestimmung: Ein durchschnittliches Unternehmen
mit starker Mitbestimmung, also 100 MB-ix-Punkten, weist
einen im Mittel um 18,9 Prozentpunkte höheren
ESG-Gesamtscore auf als ein durchschnittliches Unternehmen
mit MB-ix null.
Da die Bandbreite der ESG-Gesamtscores in der Stichprobe
zwischen 16 Punkten (unteres Ende von „sehr geringe
Nachhaltigkeit“) und 94 Punkten (oberes Ende von „sehr hohe
Nachhaltigkeit“) liegt, ist das ein erheblicher Vorsprung
von mehr als einem Fünftel. Und er ist zusätzlich zum
Größeneffekt, der dabei ja bereits berücksichtigt wurde. Die
Mitbestimmung ist für die Nachhaltigkeit doppelt so wichtig
wie die Quote des Streubesitzes, die ebenfalls einen –
deutlich kleineren – eigenständigen Effekt hat. WZB-Forscher
Scholz sieht eine mögliche Erklärung darin, dass bei einer
höheren Zahl an kleineren Aktionär*innen das Gewicht von
Investoren wie Fonds größer ist, die ihre Kaufentscheidungen
stark an ESG-Scores orientieren.
– Positiver Einfluss der
Mitbestimmung in fast allen Nachhaltigkeitsdimensionen
– In einem dritten Schritt untersucht Scholz den
Zusammenhang zwischen Mitbestimmungsstärke und den
verschiedenen ESG-Subscores. Es zeigen sich positive
Einflüsse in allen drei Nachhaltigkeitsbereichen „E“, „S“
und „G“ sowie bei den meisten Einzelwerten. So schneiden
Unternehmen in sämtlichen unter „E“ operationalisierten
Umweltdimensionen besser ab, wenn sie mitbestimmt sind.
Positiv sind auch die Zusammenhänge im Bereich „S“: Nicht
nur die Einhaltung der Menschenrechte und die Kategorie
Arbeitskräfte (Workforce) werden durch die Mitbestimmung
positiv beeinflusst, sondern auch die Produktverantwortung
und die Wirkung auf das Gemeinwesen (Community). Schließlich
besteht auch ein deutlich signifikanter Zusammenhang
zwischen Mitbestimmung und CSR-Strategie (in „G“).
Aus der Datenanalyse leitet der WZB-Forscher erste
Hypothesen darüber ab, wie Mitbestimmung zu nachhaltigerem
Wirtschaften führt: „Über die Arbeitnehmervertretungen wird
die soziale Organisation der Unternehmen beeinflusst, sodass
in diesem Bereich höhere ESG-Scores zu erwarten sind. Zudem
bezieht die Mitbestimmung aber auch weitere Stakeholder mit
ein, da der Fokus nicht nur auf der wirtschaftlichen
Effizienz der Unternehmen liegt“, analysiert der
Wissenschaftler.
Insbesondere viele Unternehmen aus der Industrie, die
vielfach stark mitbestimmt sind, seien aktuell gezwungen,
ihre Geschäftsmodelle nachhaltiger auszurichten.
„Arbeitnehmervertretungen gestalten diesen Wandel aktiv mit,
weil nur dadurch die langfristige Perspektive für Standorte
gesichert werden kann.“
Studie
Robert Scholz
Unternehmensmitbestimmung und die sozialökologische
Transformation. Zusammenhang zwischen Mitbestimmungsindex
und ESG-Kriterien in börsennotierten Unternehmen.
Mitbestimmungsreport Nr. 79 der Hans-Böckler-Stiftung,
Dezember 2023
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Forschungsüberblick
Mitbestimmte Unternehmen verfolgen häufiger eine
innovations- und forschungsorientierte
Differenzierungsstrategie als Firmen mit schwacher oder ohne
Mitbestimmung. Zudem schneiden stärker mitbestimmte
Unternehmen über alle strategischen Ausrichtungen hinweg bei
wichtigen wirtschaftlichen Kennziffern meist
überdurchschnittlich ab. Und sie kommen besser durch Krisen-
und Umbruchphasen
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