Düsseldorf/Duisburg, 9. Dezember 2023 - Die
Tariflöhne in Deutschland steigen im Jahr 2023
nominal gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich
5,6 Prozent. Die Zuwachsrate ist damit mehr als
doppelt so hoch wie 2022, als die Tariflöhne
lediglich um 2,7 Prozent anstiegen. Dies ergibt sich
aus der vorläufigen Jahresbilanz, die das
Tarifarchiv des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung vorlegt.
Die hohen Tarifzuwächse erfolgen vor dem
Hintergrund einer nach wie vor sehr hohen
Inflationsrate. Angesichts einer für das Gesamtjahr
2023 zu erwartenden Steigerung der Verbraucherpreise
um 6,0 Prozent ergäbe sich hieraus ein
durchschnittlicher Rückgang der tarifvertraglich
vereinbarten Reallöhne von 0,4 Prozent. In dieser
Berechnung kann die Wirkung der in vielen Branchen
vereinbarten steuer- und abgabenfreien
Inflationsausgleichsprämien allerdings nicht in
vollem Umfang berücksichtigt werden. Bei einem Teil
der Beschäftigten dürfte die finanzielle Bilanz
daher positiver ausfallen (Details unten).
„Die Kaufkraft der Tarifbeschäftigten konnte im Jahr
2023 annähernd gesichert werden,“ sagt der Leiter
des WSI-Tarifarchivs, Prof. Dr. Thorsten Schulten.
„Allerdings bleiben die erheblichen Reallohnverluste
der beiden Vorjahre, die nicht innerhalb einer
einzigen Tarifrunde ausgeglichen werden können.“
Während die Tariflöhne in den 2010er Jahren real
kontinuierlich zugenommen haben, stiegen die Preise
2021 und vor allem 2022 deutlich stärker als die
Löhne, so dass sich die Tariflöhne preisbereinigt
heute wieder auf dem Stand des Jahres 2016 befinden.
Wirkung von steuer- und abgabenfreien
Inflationsausgleichsprämien
In den meisten Tarifabschlüssen des Jahres 2023
wurden sogenannte Inflationsausgleichsprämien
vereinbart (siehe auch Tabelle 1). Hierbei handelt
es sich um steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen,
die den Beschäftigten, im Vergleich zu einer
regulären Tariferhöhung, einen höheren Nettolohn und
den Arbeitgebern niedrigere Arbeitskosten
ermöglichen. Je nach Tarifbereich variieren die
Inflationsausgleichsprämien zwischen 1.000 und 3.000
Euro und werden über einen Zeitraum von zwei Jahren
in mehreren Tranchen oder auch als monatliche
Zusatzzahlungen ausgezahlt.
Da die Steuer- und Abgabenersparnisse bei den
Inflationsausgleichsprämien, je nach Steuerklasse
und Haushaltskontext, sehr unterschiedlich
ausfallen, sind sie in den Berechnungen zur
durchschnittlichen Tariflohnentwicklung lediglich
als Bruttoeinmalzahlungen berücksichtigt. Um die
darüber hinaus gehenden Steuer- und
Abgabenersparnisse der Inflationsprämie zu bewerten,
hat das WSI-Tarifarchiv zusätzlich auf der Grundlage
der durchschnittlichen Steuer- und Abgabenquote für
einzelne Tarifbranchen Modellrechnungen
durchgeführt.
Wenn der „Brutto-für-netto“-Effekt der
Inflationsausgleichsprämien berücksichtigt wird,
fallen die Tariflohnerhöhungen 2023 in einigen
Branchen deutlich höher aus. Beispielsweise steigen
die Tariflöhne im Öffentlichen Dienst (Bund und
Gemeinden) unter Berücksichtigung der Steuer- und
Abgabenersparnisse um 9,8 Prozent, ohne diesen
Effekt sind es 6,8 Prozent.
„Die steuer- und abgabenfreien
Inflationsausgleichsprämien haben 2023 in vielen
Tarifbranchen dazu beigetragen, dass Reallöhne nicht
nur gesichert, sondern teilweise auch deutlich
angehoben werden konnten“, sagt Schulten. „Da es
sich hierbei um Einmalzahlungen handelt, wirken sie
sich mit ihrem Auslaufen in den Folgejahren jedoch
stark dämpfend auf die Lohnentwicklung aus.“
Überproportionale Anhebungen der unteren
Tariflohngruppen
Die Inflationsprämien haben auch eine deutliche
soziale Komponente und führen zu einer
überproportionalen Lohnerhöhung bei unteren
Tariflohngruppen. Dieser Effekt wurde außerdem
dadurch verstärkt, dass in vielen Tarifabschlüssen
des Jahres 2023 prozentuale Tariflohnerhöhungen
kombiniert wurden mit festen Mindestbeträgen beim
Lohnzuwachs (Tabelle 1), was ebenfalls zu
überproportionalen Tariferhöhungen bei den unteren
Lohngruppen geführt hat.
„Die Tarifvertragsparteien haben damit der Tatsache
Rechnung getragen, dass die unteren Lohngruppen in
besonderem Maße unter den hohen
Preissteigerungsraten leiden“, so der
WSI-Tarifexperte Schulten.Bei der Berechnung der
durchschnittlichen Tariferhöhungen hat das
WSI-Tarifarchiv Tarifvereinbarungen für insgesamt
14,8 Millionen Beschäftigte berücksichtigt. Hierzu
gehören sowohl Tarifabschlüsse aus den Vorjahren
2022 und früher, die in diesem Jahr wirksam wurden,
als auch die Neuabschlüsse aus 2023. Werden nur die
Altabschlüsse aus dem Jahr 2022 und früher
berücksichtigt, so ergibt sich hieraus eine
Steigerung der Tariflöhne um 5,1 Prozent. Die
Neuabschlüsse des Jahres fielen hingegen mit 6,5
Prozent deutlich höher aus (siehe auch Abbildung 3).
Ausblick
Nach wie vor gibt es in der Tarifrunde 2023 auch
einige ungelöste Tarifkonflikte. Dies gilt
insbesondere für den Einzelhandel sowie den Groß-
und Außenhandel, wo bereits seit mehreren Monaten
verhandelt wird, ohne dass bislang ein Ergebnis
erzielt werden konnte. Hinzu kommen die derzeit
laufenden Tarifauseinandersetzungen im Öffentlichen
Dienst bei den Ländern sowie in der Stahlindustrie.
Im Jahr 2024 starten dann wieder Tarifverhandlungen
in großen Tarifbranchen wie dem Bauhauptgewerbe, der
Chemischen Industrie und – in der zweiten
Jahreshälfte – der Metall- und Elektroindustrie.
„Angesichts deutlich rückläufiger Inflationsraten
dürfte sich der Druck auf die Tarifvertragsparteien
2024 wieder etwas entspannen“, sagt WSI-Experte
Schulten. Allerdings besteht angesichts der
Reallohnverluste der Vorjahre nach wie vor ein
Nachholbedarf. „Steigende Reallöhne sind auch
deshalb wichtig, um die schwache
Konjunkturentwicklung in Deutschland zu
stabilisieren.“
|