Neue Studie des WSI zum 8.
März – „Gender Digital Gap“ könnte
Geschlechterungleichheit auf Arbeitsmarkt erhöhen
Düsseldorf/Duisburg,
28. Februar 2023 - Weibliche Beschäftigte sind mit
Blick auf die digitale Zukunft bei ihrer beruflichen
Tätigkeit gegenüber männlichen spürbar im Nachteil.
Frauen und Männer arbeiten heute zwar ähnlich häufig
am Computer: Bei der Verwendung von
fortgeschrittener und spezialisierter Software sowie
bei der Nutzung vernetzter digitaler Technologien
wie Cloud-Diensten zeigen sich aber erhebliche
Unterschiede. B
esonders groß ist der Rückstand bei Frauen, die
Teilzeitstellen haben. Dementsprechend schätzen
weibliche Beschäftigte im Durchschnitt ihre
Berufschancen auf einem zunehmend digitalisierten
Arbeitsmarkt als schlechter ein: Die
Wahrscheinlichkeit, dass sich berufstätige Frauen
gut auf den Umgang mit vernetzten digitalen
Technologien vorbereitet fühlen, liegt bei 34
Prozent.
Dagegen sind es unter männlichen Beschäftigten
immerhin 49 Prozent. Frauen erwarten nur mit einer
Wahrscheinlichkeit von rund 10 Prozent, dass sich
durch Digitalisierung ihre Arbeitsmarktaussichten
verbessern, gegenüber 18 Prozent bei Männern. Das
ergibt eine neue Studie des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung im Vorfeld des Internationalen
Frauentags am 8. März.*
Die Untersuchung basiert auf
Befragungsdaten des repräsentativen Nationalen
Bildungspanels (NEPS) unter rund 4000 Beschäftigten.
Mögliche Unterschiede in höchstem Bildungsabschluss,
Alter oder Migrationshintergrund wurden statistisch
berücksichtigt, sie spielen also bei den
geschlechtsspezifischen Differenzen keine Rolle.
Wenn zusätzlich Faktoren wie der berufliche Status
oder die Tätigkeit von weiblichen und männlichen
Beschäftigten berücksichtigt werden, wird der
Nachteil der Frauen zwar kleiner, er bleibt aber
meist statistisch signifikant. Die Ausweisung der
Ergebnisse als Wahrscheinlichkeiten statt als
relative Häufigkeiten ergibt sich aus den dabei
verwendeten statistischen Regressionsmodellen.
„Die digitale Transformation kann die
Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt
verstärken – und zwar aufgrund des bestehenden
Gender Digital Gap“, analysiert WSI-Forscherin und
Studienautorin Dr. Yvonne Lott die neuen Befunde.
Zwar üben aktuell deutlich mehr Männer (7,1
Millionen) als Frauen (4,2 Millionen) Berufe aus,
bei denen viele Tätigkeitsanteile auch von Computern
übernommen werden können. Der Abstand beim so
genannten „Substituierbarkeitspotenzial“ ist
zwischen 2013 und 2019 aber spürbar kleiner
geworden: Gemessen an allen Männern bzw. Frauen, die
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, von
19 auf 13 Prozentpunkte, zeigt eine ergänzende
Analyse von Forscherinnen des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
Zudem ist die Spannbreite bei Berufen, die häufig
von Frauen ausgeübt werden, besonders ausgeprägt:
Während etwa bei Sozialberufen vergleichsweise wenig
technisch substituiert werden kann, ist das
Potenzial zum Beispiel bei Bürokauffrauen besonders
groß. Und schließlich würden in frauendominierten
Berufen solche Rationalisierungspotenziale häufiger
auch tatsächlich umgesetzt als bei Berufen, in denen
viele Männer arbeiten, schreiben die IAB-Expertinnen
Dr. Carola Burkert, Dr. Katharina Dengler und Dr.
Britta Matthes. Es gingen also bislang in Berufen
mit vielen weiblichen Beschäftigten besonders häufig
Jobs durch Automatisierung verloren.
Vor diesem Hintergrund nennt Studienautorin Lott
zwei zentrale Punkte, an denen sich dringend etwas
ändern muss:
- Erstens sei intensive und
kontinuierliche Weiterbildung in digitalen
Technologien angesichts der laufenden Transformation
der Arbeitswelt natürlich für alle Beschäftigten
notwendig, unabhängig vom Geschlecht. Allerdings
dokumentiere die Forschung bei der Qualifizierung
seit langem eine geschlechtsspezifische Schlagseite:
Frauen erhalten seltener und kürzere Weiterbildungen
als Männer, und diese erhöhten auch seltener die
Chance auf Beförderung oder Lohnerhöhungen.
Daher sei es zentral, dass der Staat, etwa bei der
Förderung von Qualifizierungen, gleiche Chancen für
weibliche Beschäftigte in den Vordergrund stelle.
Zudem empfiehlt Lott, dass Digital-Kompetenzen
verstärkt bereits in der frühkindlichen Bildung und
an Schulen vermittelt werden müssten, bevor sich
geschlechtsspezifische Segmentierungen und
Diskriminierungen einstellten. Das mache auch
Ausbildungen oder ein Studium im Bereich der
Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT)
für Frauen attraktiver. Eine gendersensible
Qualifizierungsstrategie gerade bei digitalen
Techniken helfe dabei nicht nur den betroffenen
Frauen, sondern sei angesichts des demografischen
Wandels auch gesamtwirtschaftlich extrem sinnvoll.
- Zweitens plädiert die WSI-Forscherin für eine neue
Arbeitskultur weg von sehr langen Arbeitstagen,
zeitlicher Entgrenzung und Stigmatisierung von
Teilzeitarbeit, wie sie gerade in der IKT-Branche
verbreitet sei. Solche Prägungen trügen dazu bei,
dass selbst in Digital-Unternehmen beschäftigte
qualifizierte Frauen eher am Rande blieben, zitiert
Lott aus der Forschung. „Die Norm der idealen
Arbeitskraft, die im Leben keine anderen
Verpflichtungen außer der Erwerbsarbeit hat, muss
durch eine neue Arbeitszeitnorm ersetzt werden, die
den tatsächlichen diversen Lebensrealitäten der
Beschäftigten Rechnung trägt“, erklärt Lott.
Auch hier sei ein Fortschritt für weibliche
Beschäftigte zwar besonders wichtig, weil sie durch
solche Strukturen häufig ausgebremst würden, sobald
sie Kinder haben. Die positive Wirkung beschränke
sich aber keineswegs auf Frauen, betont, die
Wissenschaftlerin. Denn andernfalls drohe generell,
dass sich die Arbeitszeitanforderungen „ins Digitale
verlagern und dort in einem digitalen
Präsenzverhalten kulminieren, das keine räumlichen
und zeitlichen Grenzen der Erwerbsarbeit mehr
kennt.“ Wie real dieses Risiko ist, hat für Lott die
Erfahrung vieler Beschäftigter im Corona-Homeoffice
gezeigt, dass Arbeit und Freizeit zunehmend
verschwimmen.
Ergebnisse der Untersuchung im Detail (siehe auch
die Grafiken in der pdf-Version dieser PM; Link
unten):
Komplexere Technologie,
größere Differenz. Lotts Auswertung des NEPS zeigt:
Frauen und Männer nutzen Computer und
Standardsoftware im Job annähernd gleich häufig: So
liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen bzw.
Männer mit Standardsoftware arbeiten bei 94 bzw. 95
Prozent. Doch darüber hinaus gilt: Je
anspruchsvoller eine Softwareanwendung ist, desto
weniger wahrscheinlich ist es, dass Frauen sie
nutzen.
Das zeigt sich schon bei der fortgeschrittenen
Anwendung von Standardsoftware wie zum Beispiel dem
Schreiben von Makros oder anderen Skripten. Diese
verwenden Männer mit knapp 36 Prozent
Wahrscheinlichkeit, Frauen nur mit 25 Prozent. Noch
größer ist der Unterschied bei speziellerer Software
wie CAD-Programmen, Programmen für
Desktop-Publishing oder für statistische Analysen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Männer mit solchen
speziellen Programmen arbeiten, liegt bei 50
Prozent, unter Frauen hingegen bei nur 34 Prozent.
Geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen auch
bei der Verwendung vernetzter digitaler Technologien
wie Online-Plattformen, E-Mails, Tablets,
Cloud-Diensten und sich selbst steuernden oder
selbst-lernenden Computersystemen. Die
Wahrscheinlichkeit, dass die Arbeit stark durch
vernetzte digitale Technologien geprägt ist, liegt
unter Männern bei 54 Prozent und bei Frauen bei 44
Prozent. Mit Programmiersprachen arbeitet insgesamt
nur ein kleiner Teil der Beschäftigten. Zugleich ist
der geschlechtsspezifische Unterschied aber
besonders drastisch: Die Wahrscheinlichkeit der
Nutzung beträgt für Männer fast 10 Prozent, für
Frauen nur 2 Prozent.
Teilzeitbeschäftigte Frauen besonders weit zurück.
Besonders ausgeprägt ist der digitale Rückstand
unter berufstätigen Frauen in Teilzeitbeschäftigung.
Er besteht gegenüber weiblichen Beschäftigten mit
Vollzeitjob und noch stärker gegenüber Männern, und
zwar auf allen vom NEPS abgefragten Feldern.
Beispielsweise wenden Frauen in Teilzeit
fortgeschrittene Standardsoftware nur mit einer
Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent an gegenüber knapp
33 Prozent bei weiblichen Vollzeitbeschäftigten.
Zwischen männlichen Voll- und Teilzeitbeschäftigten
sind die Unterschiede hingegen meist deutlich
kleiner.
WSI-Forscherin Lott spricht von einem „Gender
Part-Time Digital Gap“, einer besonders ausgeprägten
Lücke, wenn Geschlecht und kürzere Arbeitszeit
zusammenkommen. Damit ist das Problem insbesondere
für Mütter groß, die sehr häufig in Teilzeit
arbeiten, um Erwerbs- und Familienarbeit unter einen
Hut zu bekommen.
Weibliche Beschäftigte sehen seltener
Arbeitsmarktchancen.
Insgesamt sind viele Beschäftigte in
Deutschland eher skeptisch, was ihre beruflichen
Aussichten auf einem digitalisierten Arbeitsmarkt
angeht. So glauben etwa weniger als die Hälfte,
aktuell gut auf den Umgang mit digitalen vernetzten
Technologien vorbereitet zu sein. Zusätzlich zeigen
sich auch an diesem Punkt signifikante Unterschiede
nach Geschlecht und Arbeitsumfang: Männer fühlen
sich etwa mit 49 Prozent Wahrscheinlichkeit gut auf
die digitalen vernetzen Technologien vorbereitet.
Bei Frauen beträgt die Wahrscheinlichkeit nur 34
Prozent. Besonders gering ist der Anteil bei
weiblichen Teilzeitkräften (32 Prozent), bei Frauen
mit Vollzeitjob sind es 38 Prozent.
Noch unwahrscheinlicher ist es, dass Beschäftigte im
Allgemeinen für sich gute Jobchancen in einem
Arbeitsmarkt sehen, der durch die Digitalisierung
verändert wird. Jedoch trifft dies eher auf Männer
als Frauen zu (18 Prozent gegenüber 10 Prozent).
Die beobachteten Nachteile von weiblichen
Beschäftigten werden zwar kleiner, wenn Faktoren wie
der berufliche Status oder die Tätigkeit von
weiblichen und männlichen Beschäftigten
berücksichtigt werden, sie blieben aber zum größten
Teil statistisch signifikant, betont die Soziologin
Lott. „Diese geschlechterbezogenen Unterschiede –
auch in Hinblick auf den Arbeitszeitumfang –
scheinen also unabhängig von der Tatsache zu
bestehen, dass Frauen und Männer in
unterschiedlichen betrieblichen Positionen und
Branchen arbeiten und unterschiedliche Tätigkeiten
ausüben“, schreibt die Forscherin.
Der Gender Digital Gap in Transformation? WSI Report
Nr. 81, Februar 2023
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