Neue Studie des WSI zur Tarifbindung
Düsseldorf/Duisburg, 20. April 2023 - Betriebe mit
Tarifvertrag bieten deutliche bessere Arbeitsbedingungen als
vergleichbare Betriebe ohne Tarifbindung. So arbeiten
Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben im Mittel
wöchentlich 54 Minuten länger und verdienen trotzdem 11
Prozent weniger als Beschäftigte in Betrieben mit
Tarifbindung, die sich hinsichtlich der Betriebsgröße, des
Wirtschaftszweiges, der Qualifikationsstruktur der
Beschäftigten und des Standes ihrer technischen Anlagen
nicht voneinander unterscheiden.
In Zeiten stark steigender Lebenshaltungskosten verfügen
Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben deswegen eher über
ein kleines finanzielles Polster. Dies ist das Ergebnis
einer neuen Studie des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung, in der die Entwicklung der
Tarifbindung in Deutschland anhand neuer Daten aus dem
repräsentativen IAB-Betriebspanel untersucht wird.*
Die Studie dokumentiert damit, dass der deutliche Rückgang
der Tarifbindung seit der Jahrtausendwende negative
Konsequenzen für die Beschäftigten und die Kaufkraft breiter
Bevölkerungsschichten hat. Indirekt wirkt sich das auch auf
die Einnahmen von Sozialversicherungen und öffentlicher Hand
aus. Während im Jahr 2000 noch mehr als zwei Drittel der
Beschäftigten (68 Prozent) in Deutschland in tarifgebundenen
Betrieben beschäftigt waren, lag dieser Anteil 2021 nur noch
bei gut der Hälfte (52 Prozent).
Innerhalb Deutschlands gibt es dabei ein deutliches West
Ost-Gefälle: So lag der Anteil der tarifgebundenen
Arbeitsplätze in Bremen, Nordrhein-Westfalen,
Rheinland-Pfalz und Hessen nach den jüngsten verfügbaren
Zahlen noch zwischen 59 und 55 Prozent.
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Brandenburg und Thüringen
kommen hingegen nur noch auf einen Anteil von 41 bis 46
Prozent tarifgebundener Arbeitsplätze. In den restlichen
Bundesländern liegt die Tarifbindung bei 47 bis 53 Prozent
(siehe die Abbildung im Anhang).
Die Bundesregierung muss nach EU-Recht einen Aktionsplan zur
Stärkung der Tarifbindung vorlegen. Das sollte sie rasch
tun, wirksame gesetzliche Instrumente dafür seien seit
langem bekannt, analysieren die Studienautoren Dr. Malte
Lübker und Prof. Dr. Thorsten Schulten. Bei den Löhnen ist
der Rückstand der tariflosen Betriebe insbesondere in
Ostdeutschland sehr ausgeprägt. In Brandenburg verdienen
Beschäftigte in tariflosen Betrieben rund 15 Prozent weniger
als jene in vergleichbaren Betrieben mit Tarifvertrag, in
Sachsen-Anhalt beträgt der Rückstand 14 Prozent.
Um auf ein volles Jahresgehalt ihrer Kolleg*innen mit
Tarifvertrag zu kommen, müssen Beschäftigte in tariflosen
Betrieben hier also bis in den März des Folgejahres
hineinarbeiten. Bei der Arbeitszeit sind hingen die die
Unterschiede in Westdeutschland besonders eklatant. Die
Gewerkschaften haben hier bereits in den 1980er und frühen
1990er Jahren deutliche Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen
können, die freilich nur auf tarifgebundene Betriebe
Anwendung finden. Am größten ist die Differenz in
Baden-Württemberg, wo Vollzeitbeschäftigte in tariflosen
Unternehmen regulär fast anderthalb Stunden (87 Minuten) pro
Woche zusätzlich arbeiten. In Bremen (61 Minuten) und dem
Saarland (60 Minuten) sind es jeweils etwa eine Stunde.
Über das Jahr gesehen entspricht dies mehr als einer
zusätzlichen Arbeitswoche.
„Die Ergebnisse belegen erneut, dass Tarifverträge für die
Beschäftigten handfeste Vorteile bringen“, sagt Dr. Malte
Lübker, Co-Autor der Studie und Referatsleiter für Tarif-
und Einkommensanalysen am WSI. „Es lohnt sich deshalb,
gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen für einen
Tarifvertrag zu kämpfen – auch wenn der Weg dahin oft nicht
einfach ist.“ Die sich verschärfenden Fachkräfteengpässe am
Arbeitsmarkt machen Tarifbindung jedoch auch für Arbeitgeber
zunehmend attraktiv.
„Wer als Arbeitgeber tarifgebunden ist, bekennt sich klar zu
fairen Löhnen und geregelten Arbeitsbedingungen“, so Lübker.
„Das macht einen Arbeitgeber für Stellensuchende interessant
– und kann die Belegschaft davon abhalten, zur tariftreuen
Konkurrenz abzuwandern.“
Deutschland unterschreitet europäischen Richtwert
Starke Gewerkschaften und handlungsfähige
Arbeitgeberverbände sind die Grundlage für ein
Wiedererstarken der Tarifbindung in Deutschland, resümiert
die Studie. Doch auch die Politik kann hierzu einen Beitrag
leisten, indem sie die richtigen Rahmenbedingungen setzt.
In Nachbarländern wie Belgien, Österreich und Frankreich ist
es so gelungen, dass deutlich über 90 Prozent der
Beschäftigten nach einem Tarifvertrag bezahlt werden. Diese
Länder erfüllen damit schon eine tarifvertragliche Abdeckung
von mindestens 80 Prozent, die in der neuen Europäischen
Mindestlohnrichtlinie als Ziel festgelegt ist. Alle anderen
EU-Länder – darunter auch Deutschland – sind nach
europäischem Recht künftig verpflichtet, einen Aktionsplan
mit konkreten Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der
tarifvertraglichen Abdeckung aufzustellen.
Aufgrund der zweijährigen Frist für die Umsetzung der
Richtlinie hat Deutschland hierfür bis zum 15. November 2024
Zeit. „So lange sollte die Bundesregierung aber nicht
warten. Viele konkrete Maßnahmen, die dieser Aktionsplan
enthalten könnte, werden bereits seit einiger Zeit
diskutiert“, sagt Lübker. Dazu zählen eine weitere
Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von
bestehenden Tarifverträgen sowie Tariftreueregelungen bei
der Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Weitere Vorschläge
finden sich in einem Eckpunktepapier, das Arbeitsminister
Hubertus Heil und der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz
bereits im März 2021 vorgelegt haben. Hierzu zählt ein
bundesweiter Vergabemindestlohn, der für tariftreue Betriebe
zusätzlich Schutz vor „Schmutzkonkurrenz“ mit Dumpinglöhnen
schaffen würde.
Ein weiterer Hebel sind Tariftreueregelungen bei
Versorgungsverträgen im Gesundheitswesen und der Pflege. Ein
digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften zu den Betrieben
würde es erleichtern, die Beschäftigten zu erreichen und
gewerkschaftlich zu organisieren. Für Arbeitgeber könnte ein
zusätzlicher Anreiz für eine Tarifbindung entstehen, wenn
Abweichungen von tarifdispositivem Gesetzesrecht nur noch
für tarifgebundene Arbeitgeber möglich sind.
*Malte Lübker, Thorsten Schulten Tarifbindung in den
Bundesländern: Entwicklungslinien und Auswirkungen auf die
Beschäftigten, Analysen zur Tarifpolitik Nr. 96, Düsseldorf,
April 2023
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