WSI-Arbeitskampfbilanz 2022

Düsseldorf/Duisburg, 27. April 2023 - Streiks als normales
Instrument der Konfliktregulierung – Etwa jede*r 6.
Beschäftigte in Deutschland mit Streikerfahrung Im Jahr 2022
wurden in Deutschland insgesamt 225 Arbeitskämpfe geführt.
An den Arbeitsniederlegungen haben insgesamt 930.000
Streikende teilgenommen. Rechnerisch fielen dadurch 674.000
Arbeitstage aus. Gegenüber 2021, als 221 Arbeitskämpfe mit
909.000 Streikenden und 596.000 Ausfalltagen registriert
wurden, hat sich das Arbeitskampfgeschehen damit leicht
erhöht.
Auf längere Sicht bewegt sich das Arbeitskampfaufkommen 2022
eher auf einem mittleren Niveau. Das zeigt die neue Studie
zur Arbeitskampfbilanz 2022, die das Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung heute vorlegt*. „Streiks sind in
Deutschland nicht nur ein demokratisches Grundrecht der
Beschäftigten, sondern auch ein normales Instrument der
Konfliktregulierung, ohne das die Tarifautonomie nicht
funktionieren würde“, sagt Prof. Dr. Thorsten Schulten,
Leiter des WSI-Tarifarchivs und Co-Autor der Studie.
Im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik beim
Arbeitskampfvolumen im unteren Mittelfeld. Die Anzahl der
Arbeitskämpfe wurde 2022 wie in den Vorjahren vor allem
durch die hohe Zahl von Tarifkonflikten in einzelnen
Betrieben geprägt. Dagegen werden die Anzahl der Streikenden
und das Arbeitskampfvolumen, das heißt die Zahl der
Ausfalltage, vor allem durch die großen branchenweiten
Tarifrunden bestimmt. Die umfangreichsten Streikaktionen
fanden 2022 im Rahmen der Tarifrunden der Metall- und
Elektroindustrie statt. Größere Flächenauseinandersetzungen
gab es darüber hinaus bei den Unikliniken in
Nordrhein-Westfalen, dem Sozial- und Erziehungsdienst und
bei den Seehäfen.
Die große Mehrheit der Arbeitskämpfe waren auch 2022 auf
einzelne Firmen begrenzte Auseinandersetzungen um
Haustarife. Häufig war das Ziel, Unternehmen zum Anschluss
an bestehende Branchentarifverträge zu bewegen, nicht selten
ging es aber auch darum, überhaupt eine Tarifbindung zu
erreichen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der dänische
Windanlagenhersteller Vestas, der erst nach knapp vier
Monaten Erzwingungsstreik bereit war, Tarifverhandlungen
aufzunehmen.

Streikerfahrungen der Beschäftigten in Deutschland
Erstmals werden in der WSI-Arbeitskampfbilanz auch aktuelle
empirische Befunde über die Streikerfahrungen der
Beschäftigten in Deutschland vorgestellt, die im Rahmen der
Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung erhoben
wurden.
Demnach verfügt etwa jede*r sechste Beschäftigte in
Deutschland (17 Prozent) über eigene Streikerfahrung; etwa
die Hälfte von diesen hat sogar mehrmals an Streiks
teilgenommen. Während 22 Prozent der Männer angeben, bereits
an Streiks teilgenommen zu haben, sind es bei den Frauen 13
Prozent. Dies reflektiert die Tatsache, dass sich bislang
insbesondere in eher männlich dominierten Branchen (wie z.B.
der Metall- und Elektroindustrie oder dem Verkehrssektor)
zahlreiche Beschäftigte an Arbeitsniederlegungen beteiligen,
so die Studie.
Allerdings haben die Arbeitskonflikte z.B. im Sozial- und
Gesundheitswesen, wo viele Frauen arbeiten, in den letzten
Jahren deutlich zugenommen. Wenig überraschend, ist die
Streikerfahrung unter Gewerkschaftsmitgliedern mit 49
Prozent deutlich größer als bei Nicht-Mitgliedern, von denen
lediglich 11 Prozent über Erfahrungen mit Arbeitskämpfen
verfügen. Zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es hingegen
mit 16 bzw.18 Prozent der streikerfahrenen Beschäftigten
kaum mehr Unterschiede.
Internationaler Vergleich: Deutschland im unteren
Mittelfeld
In der internationalen Streikstatistik, bei der die
arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte
miteinander verglichen werden, liegt Deutschland weiterhin
im unteren Mittelfeld. Nach Schätzung des WSI fielen
hierzulande in den zehn Jahren zwischen 2012 und 2021, dem
jüngsten Jahr, für das internationale Vergleichsdaten
vorliegen, aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen im
Jahresdurchschnitt rechnerisch pro 1.000 Beschäftigte gut 18
Arbeitstage aus. Insgesamt fällt auf, dass das relative
Arbeitskampfvolumen über die Länder hinweg sehr stark
variiert. Dabei lässt sich deutlich eine Spitzengruppe mit
Belgien, Frankreich und Kanada ausmachen.

Das höchste Arbeitskampfvolumen hat wie im
Vorjahr Belgien, wo zwischen 2012 und 2021
im Jahresdurchschnitt knapp 96 Ausfalltage pro 1.000
Beschäftigte zu verzeichnen waren. Hierbei ist allerdings zu
berücksichtigen, dass für Frankreich nur der Zeitraum 2012
bis 2020 betrachtet werden konnte, da noch keine Daten für
2021 vorliegen. Nach dem Trio folgt ein oberes Mittelfeld,
das neben Spanien die drei nordischen Länder Dänemark,
Finnland und Norwegen umfasst. Hier fielen im
Vergleichszeitraum pro 1.000 Beschäftigte durchschnittlich
jeweils rund 50 Arbeitstage pro Jahr aus.
Das untere Mittelfeld wird aktuell von den
Niederlanden angeführt und umfasst neben Deutschland auch
Irland, Polen, das Vereinigte Königreich und Portugal. Mit
den USA beginnt dann die Gruppe der Länder, in denen im
Jahresdurchschnitt auf Grund von Arbeitskämpfen weniger als
10 Arbeitstage ausfielen, wobei in Österreich, der Schweiz
sowie der Slowakei Arbeitskämpfe die absolute Ausnahme
darstellen.

Ausblick 2023: Immer mehr Streiks?
Für das Jahr 2023 deuten bereits in den ersten Monaten hohe
Warnstreikbeteiligungen bei Post, Bahn und Öffentlichem
Dienst darauf hin, dass das Arbeitskampfvolumen in diesem
Jahr noch einmal erheblich zunehmen könnte. Allein bei dem
im März 2023 gemeinsam von ver.di und EVG organisierten
„Mega-Streiktag“ im Verkehrssektor sollen sich nach
Gewerkschaftsangaben mehr als 150.000 Beschäftigte beteiligt
haben.
Bei der Deutschen Post AG hätte es nach einer erfolgreichen
Urabstimmung beinahe einen unbefristeten Erzwingungsstreik
gegeben, wenn nicht in letzter Minute ein deutlich
verbessertes Arbeitgeberangebot einen Tarifkompromiss
ermöglicht hätte. Beim Öffentlichen Dienst wurde ein
Erzwingungsstreik erst durch eine Schlichtung verhindert,
die schlussendlich (vorbehaltlich der Zustimmung durch die
Gewerkschaftsmitglieder) Grundlage eines Tarifabschlusses
wurde.
„Vor dem Hintergrund historisch hoher Inflationsraten hat
sich der Verteilungskonflikt deutlich intensiviert“,
erläutert Tarifexperte Schulten. „Hinzu kommt, dass der
zunehmende Arbeits- und Fachkräftemangel die
Verhandlungsposition der Beschäftigten stärkt und damit auch
die Bereitschaft fördert, sich an Arbeitskampfmaßnahmen zu
beteiligen. Allerdings muss das nicht zwangsläufig auf mehr
Streiks hinauslaufen. Vielmehr sind vor allem auch die
Arbeitgeber in der Verantwortung, der aktuellen
Arbeitsmarktlage durch realistische Angebote Rechnung zu
tragen.“
Methode der WSI-Arbeitskampfstatistik
Die Arbeitskampfbilanz des WSI ist eine Schätzung auf Basis
von Gewerkschaftsangaben und Medienberichten. Warnstreiks,
insbesondere wenn sie lokal begrenzt sind, werden nicht von
allen Gewerkschaften erfasst. Auch Streiks außerhalb des
Tarifgeschehens, wie z. B. betriebliche Proteststreiks,
werden nur in Ausnahmefällen bekannt. Die Zahl der
arbeitskampfbedingten Ausfalltage (bzw. Streiktage) ist ein
rechnerischer Wert, in den neben den von Gewerkschaften
gemeldeten Personen-Streiktagen (d.h. der Summe der
Kalendertage, an denen individuelle Mitglieder Streikgeld
empfingen) auch der vom WSI geschätzte Arbeitsausfall bei
Warnstreiks ohne Streikgeldzahlungen einbezogen wird.
Analog zur amtlichen Statistik werden bei der
Streikbeteiligung Beschäftigte, die an zeitlich getrennten
Streiks oder Warnstreiks innerhalb eines Arbeitskampfes
teilnehmen, teilweise mehrfach gezählt. Die erfasste
Streikbeteiligung ist daher zumeist erheblich höher als die
Anzahl der individuellen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
die im Verlauf eines Jahres ein- oder mehrmals gestreikt
haben.
*Heiner Dribbusch, Marlena Sophie Luth, Thorsten Schulten
WSI-Arbeitskampfbilanz 2022. Streiks als normales Instrument
der Konfliktregulierung bei Tarifauseinandersetzungen,
WSI-Report Nr. 83, Düsseldorf, April 2023
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