Neue Befragung
Düsseldorf, Duisburg, 4. August 2023 - Zehn Jahre, nachdem
der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem ersten
Lebensjahr in Kraft getreten ist, fehlen nicht nur
zahlreiche Betreuungsplätze. Auch ein großer Anteil der
erwerbstätigen oder arbeitsuchenden Eltern, die offiziell
für ihr Kind einen Platz in der Kita oder bei Tageseltern
haben, kann nicht auf eine zuverlässige Betreuung vertrauen:
Gut 57 Prozent von ihnen waren in diesem Frühjahr mit
Kürzungen der Betreuungszeiten und/oder sogar zeitweiligen
Schließungen der Einrichtung aufgrund von Personalmangel
konfrontiert.
Das ist ein Ergebnis der neuen Welle der repräsentativen
Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung, für die
im Juli insgesamt mehr als 5000 erwerbstätige und
arbeitsuchende Personen online befragt wurden. „Die Zahl ist
ein Alarmsignal: Die frühe Bildung in Deutschland steht auf
wackligen Füßen. Sie wurde zwar in den vergangenen zwei
Jahrzehnten stark ausgebaut. Aber unzureichende finanzielle
Ausstattung und der damit zusammenhängende Fachkräftemangel
in Erziehungsberufen machen sie unzuverlässig“, sagt Prof.
Dr. Bettina Kohlrausch.
Die wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung wertet die Befragung zusammen mit den
WSI-Forschern Dr. Andreas Hövermann und Dr. Helge Emmler
aus. Von den 469 befragten Eltern, die ihre Kinder in einer
Kita oder bei einer/einem Tagesmutter/-vater in Betreuung
gegeben haben, gaben 38 Prozent an, dass die Einrichtung in
den drei Monaten vor der Befragung zeitweise wegen
Personalmangels geschlossen hatte. Bei 47 Prozent kam es aus
diesem Grund zu Verkürzungen der vereinbarten
Betreuungszeiten. Da ein Teil der Eltern sowohl mit
Kürzungen als auch mit Schließungen zurechtkommen musste,
summiert sich die Quote der Betroffenen insgesamt auf 57,4
Prozent.
Sehr viele Eltern stellt das vor große Probleme im Alltag:
67 Prozent der betroffenen Befragten gaben an, dass sie die
Ausfälle bei der Kinderbetreuung bzw. die zeitliche
Verkürzung als belastend empfinden. 30 Prozent bewerten die
Situation sogar als „sehr belastend“. Knapp die Hälfte der
betroffenen Mütter und Väter hat während der Schließung oder
Kürzung der Betreuungszeit Urlaub genommen oder Überstunden
abgebaut, um die Betreuungslücke auszugleichen. Knapp 30
Prozent mussten zeitweilig ihre Arbeitszeit reduzieren.
Um den Engpass irgendwie zu überbrücken, wurden häufig auch
die Partner*innen oder Verwandte/Freund*innen eingebunden.
Innerhalb von Partnerschaften zeigt sich dabei ein
charakteristischer geschlechtsspezifischer Unterschied:
Während 63 Prozent der befragten Väter in heterosexuellen
Beziehungen angaben, dass ihre Partnerin bei der
Kinderbetreuung eingesprungen sei, berichteten das nur 33
Prozent der Mütter über ihren Partner.
„Die Befragungsdaten zeigen, wie dringend die
Arbeitsbedingungen in Erziehungsberufen verbessert werden
müssen“, analysiert WSI-Direktorin Kohlrausch. „Denn es
droht eine sich selbst verstärkende Spirale nach unten: Es
gibt generell zu wenige Stellen an Kitas, weil die
Betreuungsschlüssel zu schlecht sind und zu wenig
ausgebildet wird. In dieser Situation steigen dann
Erzieherinnen und Erzieher aus. Aus anderen Untersuchungen
wissen wir, dass das häufig Menschen sind, die den Beruf
lieben, aber die konkreten Zustände, den Stress bei mäßiger
Bezahlung, auf die Dauer nicht aushalten.
Der Fachkräftemangel in der frühen Bildung
verschärft dann wiederum den Arbeitskräftemangel in anderen
Branchen. Denn Eltern, vor allem Mütter, die nicht
auf eine stabile Kinderbetreuung vertrauen können, müssen
ihre Erwerbstätigkeit eher einschränken als dass sie sie
ausbauen können.“ Es gebe keine schnelle Patentlösung für
das Problem, das sich über Jahre aufgebaut hat, betont die
Soziologin.
„Trotzdem kann und muss die Politik etwas tun, und zwar
rasch. Nur so kann im ersten Schritt verhindert werden, dass
sich die Situation noch weiter verschlechtert und im zweiten
eine Verbesserung erreicht werden“, sagt Kohlrausch. „Ein
Ansatz wäre eine Ausbildungsoffensive für Erziehungsberufe,
gekoppelt an deutlich bessere Personalschlüssel. Ein zweiter
die Bezahlung. Trotz einiger Verbesserungen ist da noch Luft
nach oben. Und mehr Geld könnte abgewanderte Fachkräfte dazu
bewegen, wieder in den Bereich der frühen Bildung
zurückzukehren.“
Informationen zur Befragung
Für die Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung
werden Erwerbstätige und Arbeitsuchende von Kantar
Deutschland online zu ihrer Lebenssituation befragt. Die
Befragten bilden die Erwerbspersonen in Deutschland im
Hinblick auf die Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung und
Bundesland repräsentativ ab.
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