- Grundsicherung:
Fortschritte, aber noch viel zu tun
- Weichenstellungen beim Bürgergeld
Düsseldorf/Duisburg,
05. Januar 2023 - Wirtschaftspolitische
Herausforderungen 2023: Relativ gute
Ausgangsposition in Deutschland, Zinspolitik großer
Risikofaktor Die Bundesregierung hat den akuten
Druck auf Einkommen und Wachstum infolge
explodierender Preise reduziert, es bleibt aber
deutlicher Verbesserungsbedarf bei der
Verteilungsgerechtigkeit der Entlastungpakete:
Erste Fortschritte bei der Stärkung von
langfristigen Qualifizierungen sind absehbar, auch
durch das Bürgergeld; eine überzeugende Antwort auf
die offensive Industriepolitik der USA, eine
Stärkung des Tarifsystems und ein beschleunigter
Ausbau erneuerbarer Energien sind wichtige Aufgaben
für die nahe Zukunft – so lauten Eckpunkte einer
neuen Studie zur wirtschaftspolitischen Situation in
Deutschland, die das Institut für Makroökonomie und
Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung
zum Jahresbeginn 2023 vorlegt.*
Neben der Bundesregierung steht in diesem Jahr die
Europäische Zentralbank (EZB) im Zentrum der Analyse
von Herausforderungen und Risiken: Deren schnelle
Zinserhöhungen kritisieren die Ökonominnen und
Ökonomen als „überzogen“. Eine Fortsetzung dieses
forcierten Kurses berge große Risiken für die
weitere wirtschaftliche Entwicklung, ohne die
Ursache des starken Inflationsschubs entscheidend
bekämpfen zu können, warnt das IMK.
„Die wirtschaftlichen Schocks, die der russische
Überfall auf die Ukraine ausgelöst hat, sind auch in
Deutschland hart und schmerzhaft, und sie sind
längst nicht vorbei“, sagt Prof. Dr. Sebastian
Dullien, der wissenschaftliche Direktor des IMK.
„Doch aus dem Jahr 2022 konnten wir auch eine
positive Botschaft mitnehmen: Das Zusammenspiel von
staatlichen, tariflichen und betrieblichen Maßnahmen
hat einen härteren Wirtschaftseinbruch abgewendet.
Das ist ein weiterer Erfolg des
sozialpartnerschaftlichen Modells in Deutschland.
Darauf können und müssen wir 2023 aufbauen.“
Das Düsseldorfer Institut rechnet in seiner neuen
Konjunkturprognose mit einem
Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um
0,3 Prozent in diesem Jahr. Im Sommer 2022
waren die Forschenden noch von einer Schrumpfung um
ein Prozent ausgegangen. Mit den Energiepreisbremsen
und der Verlängerung der Regeln zu erleichterter
Kurzarbeit habe die Bundesregierung wichtige Pflöcke
eingeschlagen. Als weiteren, diesmal
längerfristigen, Baustein nennt das IMK eine
Stärkung des Tarifsystems durch gesetzliche
Erleichterungen, Tarifverträge allgemeinverbindlich
erklären zu können.
Damit, so die Forschenden, „würde die
Bundesregierung in diesen schwierigen Zeiten ein
wichtiges Signal der Wertschätzung der
gesamtwirtschaftlich bedeutsamen Rolle, die das
Tarifvertragssystem bei der Bewältigung der letzten
beiden Wirtschaftskrisen geleistet hat und auch
jetzt wieder leistet, aussenden“. Die Ökonominnen
und Ökonomen sind optimistisch, dass die Lohnpolitik
in diesem Jahr den „extrem schwierigen Spagat“
weiter bewältigen kann, in Zeiten hoher importierter
Inflation Einkommen so weit wie möglich zu
stabilisieren, ohne die Teuerung selber
anzutreiben.
Die Zinspolitik der EZB
Beim – angesichts der großen Herausforderungen
relativ positiven – Jahresausblick sieht das IMK
allerdings eine entscheidende Unbekannte: Die
Zinspolitik der EZB. „Eine Geldpolitik, die die
Zügel zu straff anzieht, könnte die Erfolge des
bisherigen Krisenmanagements in Frage stellen, ohne
ihr Ziel zu erreichen“, warnt Dullien. Denn gegen
den Hauptgrund der hohen Inflation, stark erhöhte
Energiepreise, sei die Notenbank mit Zinserhöhungen
machtlos, für eine Verfestigung der Inflation durch
Preis-Lohns-Spiralen gebe es im Euroraum keine
überzeugenden Indizien.
„Natürlich ist die starke Teuerung
ein großes Problem und ganz besonders für Menschen
mit niedrigeren oder mittleren Einkommen“, sagt
Dullien. „Aber niemand hat etwas davon, wenn durch
zinspolitischen Aktionismus die Konjunktur noch
stärker ausgebremst wird und die Stabilität auf dem
Arbeitsmarkt verloren geht.“ Deutlich sinnvoller sei
es, bei Bedarf weitere Entlastungen konzentriert an
stark bedürftige Haushalte zu leisten, analysiert
das IMK. Finanziellen Spielraum für die öffentliche
Hand zur Umsetzung solcher Entlastungen könnten
kurzfristig ein vorübergehender „Energiesoli“ für
Haushalte mit hohem Einkommen oder ein höherer
Spitzensteuersatz schaffen.
Eine gerechtere soziale Verteilungswirkung
zählt zu den generellen Anforderungen, die das IMK
für eine gute Entlastungspolitik formuliert. Die
Forschenden sehen es weiterhin als Defizit, dass die
Energiepreisbremsen bislang keine Obergrenzen für
wohlhabende Haushalte mit hohem Verbrauch umfassen.
Die Steuerpflicht für die Entlastungszahlungen
treffe allenfalls Spitzeneinkommen und sei daher
eher symbolisch, monieren die Ökonominnen und
Ökonomen. Grundsätzlich bewerten sie die zentralen
Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung aber
wirtschaftspolitisch als sinnvoll. So wirkten
beispielsweise die Energiepreisbremsen als
zusätzliche „automatische Stabilisatoren“.
Dadurch, dass sich die Zahlungen eng an der realen
Entwicklung der Energiepreise orientierten,
begrenzten sie die Mehrausgaben der Haushalte für
Energie recht wirksam und verhinderten dadurch noch
stärkere Einbrüche bei den privaten Konsumausgaben.
Andererseits sei ausgeschlossen, dass die Zahlungen
„zu groß“ ausfielen und dadurch Nachfrage und
möglicherweise Inflation zusätzlich ankurbelten –
ein Vorteil gegenüber Einmalzahlungen wie in den
USA.
Entschlossene europäische Industriepolitik nötig
Ein Blick über den Atlantik spielt auch eine
wichtige Rolle bei den längerfristigen
wirtschaftspolitischen Herausforderungen, die das
IMK sieht. Mit dem „Inflation Reduction Act“ (IRA)
hat die US-Regierung einerseits einen wichtigen
Impuls für eine sozial-ökologische Transformation
gegeben, die auch in Deutschland und Europa ansteht.
Andererseits wird kritisiert, dass Teile der im IRA
definierten Subventionsregeln Produkte aus Europa
benachteiligen.
Aus Sicht des IMK ist diese Kritik durchaus
gerechtfertigt, weil die Gefahr besteht, dass in
wichtigen Leitmärkten wie der
Batteriezellenproduktion
Standortentscheidungen für die USA und gegen die EU
fallen. Die Forschenden raten der EU davon ab, sich
wegen des IRA in einen Handelskonflikt zu begeben.
Stattdessen sollte die EU die industriepolitische
Offensive der US-Regierung aber zum Anlass nehmen,
„ihrerseits eine aktivere Industriepolitik zu
betreiben, um Wirtschaft und Gesellschaft in Europa
hin zur Klimaneutralität zu transformieren und damit
zukunfts- und krisenfester zu machen.“
Der transatlantische Streit um den
IRA zeige, dass bei der Bekämpfung des Klimawandels
Industrie- und Handelspolitik in einem starken
Spannungsverhältnis stehen. Deshalb müsse auch die
europäische Politik klare Prioritäten setzen. Eine
entsprechende Initiative von
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und seinem
französischen Kollegen Bruno Le Maire gehe in die
richtige Richtung, so Dullien Mit dem IRA nehmen die
USA nach IMK-Analyse einen Verstoß gegen Regeln der
Welthandelsorganisation WTO bewusst in Kauf.
Die EU sollte mit der Einführung des – WTO-rechtlich
wesentlich unproblematischeren –
CO2-Grenzausgleichsmechanismus (Carbon
Border Adjustment Mechanism, CBAM) auch das
Risiko eingehen, dass Handelspartner klagen, rät das
IMK. Der CBAM, für den im Dezember 2022 das
Europäische Parlament und der Rat einen vorläufigen
Kompromiss getroffen haben, soll verhindern, dass
Unternehmen, die in der EU der CO2-Bepreisung
unterliegen, ihre energieintensive Produktion und
die damit verbundenen CO2-Emissionen ins Ausland
verlagern (carbon leakage). Deshalb müssen
Importeure einen Ausgleich zahlen, wenn sie Produkte
aus dem Ausland beziehen, die dort ohne eine
vergleichbare CO2-Bepreisung wie in der EU
hergestellt wurden.
Schnell integrierte Qualifizierungsstrategie
entwickeln
Die sozial-ökologische Transformation verlangt in
den nächsten Jahren zudem große Anstrengungen am
Arbeitsmarkt und bei der Qualifizierung für neue
Tätigkeiten. Dabei muss es verstärkt auch darum
gehen, bislang ungenutzte Potenziale insbesondere
unter den arbeitslosen Erwerbspersonen zu heben,
analysiert das IMK. Es sei deshalb zu
begrüßen, dass der bislang im Arbeitslosengeld II
geltende sogenannte Vermittlungsvorrang beim neuen
Bürgergeld abgeschafft wurde und die Förderung von
Qualifizierung und Weiterbildung in den Vordergrund
rücken.
„Damit werden von politischer Seite die richtigen
Weichenstellungen beim Bürgergeld
im Hinblick auf die anstehenden Herausforderungen am
Arbeitsmarkt gesetzt“, schreiben die Forschenden.
Wichtig sei aber auch, dass die Politik einen langen
Atem beweist, denn es bedürfe großer Unterstützung
und Ausdauer, diese Personengruppe beim Erwerb
fehlender Abschlüsse und neuer Qualifikationen zu
unterstützen. Auch bei erweiterten
Qualifizierungsmöglichkeiten für aktuell
Erwerbstätige sieht das IMK die Ampel-Koalition
grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Allerdings
komme es auch hier auf die konkrete Umsetzung an,
und die sei noch offen.
Im Koalitionsvertrag seien „durchaus ambitionierte
Pläne im Bereich Weiterbildung und Qualifizierung“
formuliert. Dazu zählten der Ausbau des
Aufstiegs-Bafög, die Einführung eines
Lebenschancen-Bafög in Verbindung mit der
Möglichkeit zum Bildungssparen in einem
Freiraumkonto, die Schaffung einer
Bildungs(teil-)zeit nach österreichischem Vorbild
und ein an das Kurzarbeitergeld angelehntes
Qualifizierungsgeld.
Die Bundesregierung sollte nun rasch ein Konzept
erarbeiten, wie diese Instrumente wirkungsvoll
miteinander verknüpft werden können, „sodass ein
möglichst optimaler Mitteleinsatz und eine hohe
Zielgenauigkeit“ erreicht werden können. Ein
wichtiger Aspekt dabei sei es, eine starke
Weiterbildungsbeteiligung gerade auch von bislang
unterrepräsentierten Gruppen wie beispielsweise
Geringqualifizierten oder atypisch Beschäftigten zu
erreichen. Dabei sollte die Bundesregierung auch die
Einführung eines generellen Rechtsanspruchs auf
Weiterbildung prüfen, empfiehlt das IMK.
Grundsicherung: Fortschritte, aber noch viel
zu tun
Die Expertinnen und Experten des IMK bedauern, dass
die ursprünglichen Pläne der Koalition zum
Bürgergeld verwässert werden mussten, um einen
Kompromiss mit den unionsgeführten Bundesländern zu
erreichen. Das betreffe etwa das nun geringere
Schonvermögen, die kürzere Karenzzeit und vor allem
den Wegfall der ursprünglich geplanten
sechsmonatigen Vertrauenszeit ohne Sanktionen. Damit
bleibe das „grundsätzliche Misstrauen in Bezug auf
die Leistungsbereitschaft der Arbeitssuchenden“ auch
im Bürgergeld erhalten.
Unzureichend sind nach Analyse des IMK auch die
Verbesserungen bei der Anrechnung von
Erwerbseinkommen. Nach wie vor seien die
finanziellen Anreize nicht zielführend und die
Transferentzugsraten in weiten Einkommensbereichen
zu hoch. Die Forschenden sehen aber Möglichkeiten,
hier nachzubessern: „Es bleibt zu hoffen, dass eine
von der Bundesregierung für das Jahr 2024 geplante
grundlegende Reform des Kombilohnelements des
Bürgergelds hier dann grundlegende Verbesserungen
bringen wird“, schreiben sie. Dabei müsse auch
nochmals grundsätzlich über die angemessene Höhe der
Regelsätze nachgedacht werden.
„Die Anfang 2023 vorgenommene Erhöhung der
Regelsätze war notwendig. Es muss aber letztlich
darum gehen, dass eine wirklich soziale Teilhabe
durch das Bürgergeld sichergestellt wird, damit es
seinen Namen auch wirklich verdient“, so das IMK.
*Sebastian Dullien, Tom
Bauermann, Alexander Herzog-Stein, Katja Rietzler,
Sabine Stephan, Silke Tober, Andrew Watt Zeitenwende
erfordert aktive Wirtschaftspolitik mit Augenmaß.
Audiokommentar IMK-Direktor Sebastian Dullien zu den
wirtschaftspolitischen Herausforderungen 2023
AUDIO ›
Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2023. IMK
Report 179, Januar 2023
MEHR ›
|