Gesetzesänderung contra „Einfriereffekt“
Düsseldorf/Duisburg, 11. Oktober 2023 - Die Rechtsform der
Europäischen Aktiengesellschaft (SE) wird vielfach
missbraucht, um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
Mitbestimmungsrechte vorzuenthalten. In ihrem
Koalitionsvertrag hat die „Ampel“ vereinbart, gegen die
Mitbestimmungsvermeidung bei der SE vorzugehen. Ein neues
Gutachten zeigt, was die Politik durch nationale
Gesetzgebung konkret dagegen tun kann.
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Die Untersuchung von Prof. Dr. Rüdiger Krause von der
Universität Göttingen zeigt auch, dass die neuere
europäische Rechtsentwicklung eine Reform erleichtert. Eine
solche Reform könnte auch für bereits bestehende SEs ohne
Mitbestimmung greifen, so die Expertise des
Rechtswissenschaftlers.* Beschäftigten in Deutschland steht
das Recht zu, in den Aufsichtsräten großer Unternehmen
mitzuwirken (ein Forschungsüberblick zur Wirkung von
Mitbestimmung ist unten verlinkt).
Oft wird dieses Recht allerdings ausgehebelt – und ein
wichtiges Vehikel dafür ist die SE: Wenn wachsende
Unternehmen diese Rechtsform annehmen, können sie in Sachen
Mitbestimmung einen Status Quo mit geringer oder sogar ohne
Arbeitnehmerbeteiligung festschreiben. Dann bleibt alles
beim Alten, auch wenn die Belegschaft 500 beziehungsweise
2000 Beschäftigte überschreitet und eigentlich die
Voraussetzungen für die Einführung der Drittelbeteiligung
oder der paritätischen Mitbestimmung erfüllt wären.
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Tatsächlich besitzen mehr als 80 Prozent der großen SEs in
Deutschland keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat,
darunter auch die im DAX notierten Konzerne Vonovia und
Zalando. Auffällig viele Familienunternehmen vermeiden die
Mitbestimmung mit Hilfe der SE als Rechtsform. In seinem
Gutachten für das Institut für Mitbestimmung und
Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung
analysiert Professor Krause, was sich gegen diesen
„Einfriereffekt“ gesetzlich ausrichten lässt.
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Ein zentrales Ergebnis: Bessere Regelungen durch den
deutschen Gesetzgeber sind möglich und nötig, ein weiteres
Warten auf ungewisse Abhilfe aus Europa ist keine
Alternative. Der deutsche Gesetzgeber hat demnach unter
anderem die Möglichkeit, SE-Gründungen als missbräuchlich zu
qualifizieren, wenn innerhalb von vier Jahren nach der
Gründung ein für die Mitbestimmung relevanter Schwellenwert
überschritten wird. Das deutsche
SE-Beteiligungsgesetz enthalte zwar schon jetzt
Möglichkeiten gegen die Umgehung von Mitbestimmung, die
praktisch aber von geringer Bedeutung sind, erklärt Krause.
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So sei vorgesehen, dass
die Arbeitnehmerseite neue Verhandlungen über
Beteiligungsrechte verlangen kann, wenn es zu einer
„nachträglichen strukturellen Änderung“ kommt. Nach
herrschender Meinung sei das bloße Wachstum der Belegschaft
dafür aber nicht ausreichend. Zudem würde als Auffanglösung
bei den Verhandlungen wiederum der Status quo dienen. Auch
das Missbrauchsverbot im SE-Beteiligungsgesetz sei in seiner
jetzigen Form ein stumpfes Schwert. Ein Missbrauch werde nur
vermutet, wenn innerhalb eines Jahres nach der SE-Gründung
eine strukturelle Änderung stattfindet. Zusätzlich brauche
es ein „subjektives Element“, also den Nachweis, dass das
Einfrieren von Mitbestimmungsrechten das Motiv für die
Gründung war.
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Selbst wenn dieser Nachweis gelinge, seien die Rechtsfolgen
zudem diffus. Wenn die Regierungsparteien das Problem
angehen wollen – wozu sie sich im Koalitionsvertrag
verpflichtet haben –, müssen sie sich am Rechtsrahmen
orientieren, den die SE-Richtlinie der EU vorgibt, so der
Jurist. Für wenig zielführend hält er es dabei, am Kriterium
der strukturellen Veränderung anzuknüpfen. Denn hier komme
man am „Vorher-Nachher-Prinzip“ nicht vorbei. Dass die
bestehenden Beteiligungsrechte in diesem Fall die Basis von
Neuverhandlungen darstellen, lasse sich also nicht ändern.
Sinnvoller wäre es laut dem Gutachten, die Spielräume beim
Missbrauchsverbot auszunutzen.
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Im Kern stelle sich dabei die Frage, was der Zweck der
SE-Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung ist: „Würde der
erklärte Wille des europäischen Gesetzgebers darin bestehen,
Unternehmen zu ermöglichen, sich dem nationalen
Mitbestimmungsrecht zu entziehen und die Mitbestimmung in
den EU-Ländern sukzessive austrocknen zu lassen, dann wäre
eine entsprechende Vorgehensweise nicht missbräuchlich und
ließe sich nicht eindämmen. Ansonsten besteht Raum für die
Bewertung einer solchen Strategie als zweckwidrig und damit
rechtsmissbräuchlich.“
– Auch der europäische Gesetzgeber hat den „Einfriereffekt“
mittlerweile als Problem erkannt
– In den Erwägungsgründen zur Richtlinie sei indes deutlich
zu lesen, dass eine SE-Gründung gerade nicht zur Beseitigung
oder Einschränkung der nationalen Gepflogenheiten der
Arbeitnehmerbeteiligung führen dürfe, so der Experte. Zudem
werde als Missbrauch nicht nur die „Entziehung“, sondern
auch die „Vorenthaltung“ von Beteiligungsrechten bezeichnet.
Das lege nahe, auch an solche Rechte zu denken, die nicht
schon existieren, sondern als Folge einer SE-Gründung von
vornherein unter den Tisch fallen. Für eine entsprechend
weite Auslegung des Missbrauchsbegriffs spricht Krause
zufolge insbesondere die neue EU-Umwandlungsrichtlinie, die
grenzüberschreitende Verschmelzungen regelt. Diese lasse
eine „deutlich stärkere Tendenz des europäischen
Gesetzgebers erkennen, Arbeitnehmerschutz zu stärken sowie
gegen Missbräuche und Umgehungen vorzugehen“.
• Es
zeige sich, dass die EU den Einfriereffekt mittlerweile klar
als Problem erkannt habe. Diese Entwicklung müsse bei einer
um Kohärenz bemühten Auslegung der SE-Richtlinie
berücksichtigt werden. Der Gutachter empfiehlt eine
Konkretisierung des SE-Beteiligungsgesetzes, die die
strategische Nutzung des Einfriereffekts als
Rechtsmissbrauch erfasst. Missbrauch läge demnach vor, wenn
zumindest eines der hauptsächlichen Motive für eine
SE-Gründung darin besteht, Mitbestimmungsrechte
einzufrieren. Ein Missbrauch solle vermutet werden, wenn ein
relevanter Schwellenwert innerhalb von vier Jahren ab der
SE-Gründung überschritten wird.
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Selbst eine „gesetzliche Missbrauchsfiktion“, die
Gegeneinwände ausschließt, läge noch im Rahmen des rechtlich
Zulässigen. Nach Ablauf von vier Jahren würde dieser
Automatismus zwar nicht mehr greifen. Aber auch, wenn der
Schwellenwert erst später erreicht wird, könne ein
Missbrauch noch vorliegen. Das Gesetz könne hierfür
Anhaltspunkte nennen. Zu denken wäre etwa daran, dass
Beschäftigung und Wertschöpfung im Wesentlichen auf
Deutschland beschränkt sind, also keine nennenswerten
Binnenmarktaktivitäten als Anlass für die Gründung der SE
entfaltet werden.
Nach Analyse des I.M.U. trifft das aktuell auf etwa jede
dritte SE zu, die mehr als 2000 Beschäftigte hat, aber keine
paritätische Mitbestimmung. Auch wenn die Belegschaftsgröße
innerhalb der Vierjahresfrist konstant mindestens vier
Fünftel des maßgeblichen Schwellenwerts beträgt und diesen
Wert erst danach überschreitet, ohne dass eine relevante
Wertschöpfung im Ausland erfolgt, spreche dies für einen
Missbrauch.
Als Rechtsfolge des Missbrauchs schlägt der Jurist
Neuverhandlungen mit einer Auffanglösung vor, die sich an
der dann aktuellen Größe der Belegschaft orientiert. So
könnte das Mitbestimmungsniveau mit der Unternehmensgröße
zunehmen. Das neue Gesetz auch auf bereits gegründete SE wie
zum Beispiel die Vonovia SE anzuwenden, würde nach Krauses
Einschätzung keine unzulässige Rückwirkung darstellen.
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