Internationaler Bericht des WSI

Düsseldorf/Duisburg, 22. Februar 2024 - Zum Jahreswechsel
sind die gesetzlichen Mindestlöhne in der Europäischen Union
kräftig gestiegen: Die 22 EU-Staaten mit einem allgemeinen
Mindestlohn erhöhten diesen vor dem Hintergrund hoher
Inflationsraten im Mittel (Median) um 9,7 Prozent. Besonders
stark fielen die nominalen Zuwächse in vielen
osteuropäischen Ländern aus, aber auch die Niederlande
(+12,9%) und Irland (+12,4%) haben ihren jeweiligen
Mindestlohn deutlich angehoben.
In Deutschland fiel die Anhebung zum Jahreswechsel mit einem
nominalen Plus von nur 3,4 Prozent auf nun 12,41 Euro
hingegen deutlich kleiner aus; EU-weit stieg der Mindestlohn
nur in Belgien (+2,0%) noch langsamer. Das ergibt der neue
internationale Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der
Hans-Böckler-Stiftung.*
Die schwache Entwicklung in Deutschland fällt in eine Zeit,
in der die Bundesregierung die EU-Mindestlohnrichtlinie in
nationales Recht umsetzen muss – dazu haben die
Mitgliedsstaaten nur noch bis zum 15. November 2024 Zeit.
Die Richtlinie nennt als Referenzgrößen für einen
angemessenen Mindestlohn unter anderem mindestens 60 Prozent
vom Medianlohn im jeweiligen Land oder 50 Prozent vom
Durchschnittslohn. Die Schwelle von 60 Prozent des Medians
erreicht oder überschritten haben in der EU lediglich
Portugal, Slowenien und Frankreich.
Weitere Staaten orientieren sich bei Mindestlohnanhebungen
aber bereits explizit an diesem Niveau, zeigt die Studie von
Dr. Malte Lübker und Prof. Dr. Thorsten Schulten. Der
Mindestlohn in Deutschland hat sich durch die geringfügige
Anhebung und die Entwicklung des allgemeinen Lohnniveaus
wieder von dieser Zielmarke entfernt und liegt erheblich
darunter. Bereits 2023 wäre zur Erfüllung des
60-Prozent-Kriteriums ein Mindestlohn von 13,61 Euro nötig
gewesen, im laufenden Jahr von rund 14 Euro, so Berechnungen
der Forscher auf Basis von aktuellen Eurostat-Daten.
Bei ihrer jüngsten Entscheidung hat die deutsche
Mindestlohnkommission die Vorgaben der Europäischen
Mindestlohnrichtlinie – gegen das Votum der Gewerkschaften –
außen vorgelassen und angekündigt, auch in Zukunft nur die
im Mindestlohngesetz explizit genannten Kriterien zu
berücksichtigen.
Dies macht nach Analyse der Wissenschaftler deutlich, dass
die fortschrittlichen Regelungen der EU-Richtlinie möglichst
konkret und bindend in das deutsche Recht übertragen werden
müssten: „Damit zukünftig auch in Deutschland ein
angemessenes Mindestlohnniveau im Sinne der Europäischen
Mindestlohnrichtlinie existiert, sollte der Referenzwert von
60 Prozent des Medianlohns explizit als Untergrenze für den
Mindestlohn in das Mindestlohngesetz aufgenommen werden“,
empfehlen Lübker und Schulten.
Preisentwicklung relativiert Mindestlohnanhebungen
Die jüngsten Mindestlohnanhebungen
relativieren sich, wenn die gestiegenen Lebenshaltungskosten
gegengerechnet werden. Der WSI-Mindestlohnbericht verwendet
hierfür die jahresbezogene Inflationsrate des Harmonisierten
Verbraucherpreisindex (HVPI) als auf EU-Ebene üblichen
Maßstab. Real stiegen die Mindestlöhne in 14 EU-Ländern nach
dieser Rechenweise gegenüber dem Vorjahreszeitpunkt um 1
Prozent oder mehr, in sieben davon sogar um mindestens 5
Prozent. Im EU-Mittel lag der Kaufkraftgewinn des
Mindestlohns bei 2,5 Prozent. Deutschland gehört zu einer
Gruppe von nur sechs Ländern, in denen der Mindestlohn real
um 1 Prozent oder mehr fiel.


Auch wenn für Deutschland der nationale
Verbraucherpreisindex (VPI) verwendet wird, schafft die
jüngste Anhebung hierzulande keinen Inflationsausgleich.
Gemessen am VPI stiegen die Preise zwischen Oktober 2022,
dem Zeitpunkt der vorangegangenen Anpassung, und Januar 2024
um 3,6 Prozent und damit stärker als der Mindestlohn. Auch
bei der längerfristigen Entwicklung schneidet Deutschland
vergleichsweise schwach ab: Seit 2015 legte der deutsche
Mindestlohn real um 15,2 Prozent zu. Dieser Kaufkraftgewinn
ist aber fast vollständig der außerordentlichen Erhöhung auf
12 Euro durch den Gesetzgeber im Oktober 2022 zu verdanken.
Aktuelle Mindestlöhne in der EU
Mit einem Mindestlohn von aktuell 12,41
Euro steht Deutschland unter den EU-Ländern an Position
vier, nachdem die Bundesrepublik im Vorjahr durch die
Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro noch den 2. Rang
innehatte. Ein deutlich höherer Mindestlohn gilt in
Luxemburg (14,86 Euro) und den Niederlanden (13,27 Euro),
auch Irland (12,70 Euro) liegt vor Deutschland (siehe die
Abbildung in der pdf-Version). Mit geringem Abstand folgt
Belgien (12,09 Euro). Dort wird, wie in Frankreich (11,65
Euro), die Lohnuntergrenze auch unterjährig erhöht, sodass
beide Länder weiter aufschließen dürften.
Kein gesetzlicher Mindestlohn existiert in
Österreich, den nordischen Ländern und Italien. In
diesen Staaten besteht aber eine sehr hohe Tarifbindung, die
auch vom Staat stark unterstützt wird. Faktisch ziehen dort
also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze. Parallel zu
den Kriterien für gesetzliche Mindestlöhne fordert die
EU-Richtlinie von Staaten, in denen für weniger als 80
Prozent der Arbeitnehmer*innen Tarifbindung besteht,
Aktionspläne zur Stärkung der Tarifbindung. Das betrifft
auch Deutschland, wo lediglich rund die Hälfte der
Beschäftigten mit Tarifbindung arbeiten.
„Diese Doppelstrategie ist sehr klug. Denn Tarifverträge
sind der beste Schutz gegen Niedriglöhne, und sie sind
passgenauer als staatliche Regelungen. So sorgen sie auch
insgesamt für ein angemessenes Lohnniveau“, sagt WSI-Experte
Lübker.
Osteuropäische Länder haben aufgeholt
Die Mindestlöhne in den süd- und den
osteuropäischen EU-Staaten liegen niedriger als in
Westeuropa. Anders als noch vor einigen Jahren unterscheiden
sich die süd- und die osteuropäischen Länder nicht mehr so
stark voneinander. So reichen die Lohnuntergrenzen von 7,25
Euro in Slowenien, 6,87 Euro in Spanien und umgerechnet 6,10
Euro in Polen über beispielsweise 5,65 Euro in Litauen, 4,85
Euro in Portugal oder 4,69 Euro in Tschechien bis zu 4,51
Euro in Griechenland. Die EU-weit niedrigsten Mindestlöhne
gelten in Ungarn mit umgerechnet 4,02 Euro, Rumänien mit
3,99 Euro und Bulgarien mit 2,85 Euro.
Insgesamt hat sich die Spreizung innerhalb der EU trotz
weiterhin erheblicher Unterschiede beträchtlich verringert,
konstatieren Lübker und Schulten: Während der luxemburgische
Mindestlohn im Jahr 2015 noch fast zehnmal so hoch war wie
der bulgarische, ist die Spannweite Anfang 2024 auf den
Faktor 5,2 zurückgegangen, weil Bulgarien und andere
osteuropäische Staaten aufgeholt haben.
Zudem spiegeln die Niveauunterschiede teilweise
unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man
Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert sich der
Abstand zwischen den EU-Ländern mit niedriger und relativ
hoher Untergrenze spürbar auf knapp das 2,5-fache.


Polen (in KKS 8,38 Euro), Slowenien und
Litauen liegen bei dieser Betrachtungsweise beispielsweise
vor allen südeuropäischen Mitgliedsstaaten. Das Preisniveau
in Deutschland liegt über dem europäischen Durchschnitt,
sodass der Mindestlohn in KKS niedriger ausfällt und 9,94
Euro beträgt. Bei den westeuropäischen Nachbarn ist dieser
Effekt noch größer, sie fallen entsprechend zurück.
Mindestlöhne außerhalb der EU
Auch außerhalb der EU sind Mindestlöhne
weit verbreitet. Exemplarisch betrachtet das WSI die
Mindestlöhne in 16 Nicht-EU-Ländern mit ganz
unterschiedlichen Mindestlohnhöhen. Sie reichen von, jeweils
umgerechnet, 14,26 Euro in Australien, 12,88 Euro in
Neuseeland, 11,98 Euro in Großbritannien oder 10,88 Euro in
Kanada über 6,98 Euro in Korea oder 6,59 im japanischen
Landesdurchschnitt bis zu 3,98 Euro in der Türkei, 2,44 Euro
in Argentinien, 1,20 Euro in Russland, 1,19 Euro in
Brasilien bis zu 1,08 Euro in der Ukraine. Auch außerhalb
Europas fallen die Unterschiede in KKS häufig etwas weniger
groß aus.
„Praktisch obsolet“ ist der landesweite Mindestlohn nach
Einschätzung der WSI-Experten in den USA, weil er seit 2009
nicht mehr erhöht wurde und mit umgerechnet 6,70 Euro oder
gerade einmal 4,51 Euro in KKS nicht zum Überleben reicht.
Daher gibt es daneben in rund 30 US Bundesstaaten und
Washington DC höhere regionale Untergrenzen. So beträgt der
Mindestlohn in der Hauptstadt umgerechnet 15,72 Euro, in
Kalifornien umgerechnet 14,80 Euro und im Bundesstaat New
York 13,87 Euro.
Besonders interessant ist nach Analyse der WSI-Forscher der
Mindestlohn in Neuseeland. Mit umgerechnet 12,88 Euro liegt
er auf westeuropäischem Niveau. Gemessen am Medianlohn im
Land weist er mit 70,5 Prozent im Jahr 2022 die höchste
Quote im internationalen Vergleich auf. Das Beispiel
Neuseeland zeige, dass „auch ein deutlich höher im
nationalen Lohngefüge angesiedelter Mindestlohn möglich
ist“, schreiben Lübker und Schulten. Und: „Die regelmäßig
durchgeführten Evaluationsstudien zeigen keine nennenswerten
negativen Effekte auf Beschäftigung und Inflation.“
WSI-Report Nr. 93, Februar 2024 ›
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