Duisburg, 26. Februar 2021 -
Bei Rabia Araci droht eine Frühgeburt in der 23.
Schwangerschaftswoche. Die Chancen für ihre Tochter stehen
nicht gut, die Kleine wiegt zu dem Zeitpunkt gerade einmal
rund 600 Gramm und ist nicht viel größer als eine Mango.
Acht Wochen lang kämpft die werdende Mama im Kreißsaal der
Helios St. Johannes Klinik liegend mit Hilfe des Teams um
jeden Tag.
Prof. Dr. Frank Vandenbussche (Sektionsleiter Geburtshilfe)
und Dr. Metin Degirmenci (Leiter Perinatalstation) im
Gespräch mit den beiden.
Rabia Araci freut sich auf den Termin bei ihrer
Frauenärztin, vor allem auf ein neues Ultraschallbild von
ihrer kleinen Tochter, die sich in der 23.
Schwangerschaftswoche immer deutlicher in ihrem Bauch
bemerkbar macht. Und auf die beruhigenden Worte der
Gynäkologin, die die 28-Jährige jedes Mal für ein paar Tage
durchatmen lassen.
Doch diesmal kommen
sie nicht. Denn während sie schallt und untersucht, wird die
Ärztin erst still und dann unruhig: „Ihr Muttermund ist
bereits teilweise geöffnet und die Fruchtblase rutscht. Sie
müssen so schnell wie möglich ins Krankenhaus.“
Rabia spürt die Panik in sich aufsteigen. Panik, die sie
schon kennt. Bitte nicht schon wieder, rasselt es in ihrem
Kopf. Sie war schon einmal schwanger, das Kind kam viel zu
früh in der 26. Woche zur Welt und schaffte es nicht. Sie
und ihr Mann Mete hatten lange gebraucht, um wieder ins
Leben zurückzufinden und es noch einmal zu versuchen, mit
dem Traum von einer Familie: „Es war, als hätte jemand auf
Repeat gedrückt. Wir konnten das doch nicht schon wieder
durchmachen.“ Noch heute fällt es der Duisburgerin schwer,
die dazugehörigen Gefühle zu sortieren.
Direkt von der Praxis lässt sie sich in die Helios St.
Johannes Klinik im Norden der Stadt einliefern, das
Krankenhaus ist als Perinatalzentrum Level 1 spezialisiert
auf die Versorgung von Frühgeborenen. Das Team dort
bestätigt die Diagnose der Frauenärztin: ein Vorfall der
Fruchtblase, medizinisch Prolaps, verursacht durch eine
Muttermundschwäche.
Ein absoluter Notfall
in der Schwangerschaft. Der Muttermund schafft es nicht, die
immer schwerer werdende Fruchtblase zu halten und sie droht
im weiteren Verlauf zu platzen, was eine viel zu frühe
Geburtseinleitung zu Folge hätte. Gespürt hat Rabia Araci
vorher nichts, außer einem leichten Druck, den aber ja die
meisten Schwangeren spüren, allein aufgrund der Ausdehnung
und des Gewichts des wachsenden Kindes.
„Dieser Vorfall der
Fruchtblase ist eine sehr seltene Komplikation in der
Schwangerschaft, aber wenn er auftritt, besteht sofort
Handlungsbedarf“, erklärt Prof. em Dr. (B) F. Vandenbussche,
Sektionsleiter der Geburtshilfe. Er und auch Dr. Metin
Degirmenci, Oberarzt der Kinderklinik und Leiter der
Perinatalstation begleiten die junge Mutter von Anfang an
und sprechen ihr Mut zu. Denn für Rabia bedeutet die
Diagnose absoluter Stillstand. Sie darf zunächst nur liegen
und soll sich so wenig wie möglich bewegen, denn jede
Druckveränderung im Unterleib kann die Fruchtblase
beschädigen.
Dazu bekommt sie
Antibiotika und Wehenhemmer sowie Lungenreifespritzen für
das Ungeborene. Mutter und Kind werden engmaschig überwacht
und wohnen quasi im Kreißsaal, Besuch vom werdenden Vater
ist aufgrund der Coronasituation nur eingeschränkt erlaubt.
Für Rabia eine
nervenaufreibende Zeit: „Vor allem die Sorgen und Ängste
haben mich fast verrückt gemacht. Bei jedem Ziehen dachte
ich, unsere Kleine schafft es nicht. Gleichzeitig konnte ich
kaum etwas tun, um mich abzulenken.“ Auch das Klinikteam
rechnet jeden Tag damit, dass das kleine Mädchen zur Welt
kommt, mit gerade einmal rund 600 Gramm und somit als
extremes Frühchen mit ungewisser Prognose. „Wir haben jeden
Tag mit der Familie gezittert und uns gleichzeitig auf die
Ankunft und Versorgung des Kindes vorbereitet“, fasst auch
Oberarzt Metin Degirmenci diese bange Zeit zusammen.
In Deutschland gilt das Erreichen der 23.
Schwangerschaftswoche als Grenze der Lebensfähigkeit von
Frühgeborenen mit medizinischer Hilfe. Und auch dann
schaffen es viele nicht oder behalten starke
Beeinträchtigungen zurück. Doch Rabia und ihre Tochter
halten durch. Stunde um Stunde, Tag um Tag liegt die
werdende Mama in ihrem Kreißsaalbett. Bis zum frühen Abend
des 5. Januar, acht Wochen nach ihrer Ankunft in der Klinik,
in Schwangerschaftswoche 31.
Schon am Nachmittag
spürt Rabia die ersten unregelmäßigen Wehen, etwas fühlt
sich anders an als in den Wochen zuvor. Vorsichtshalber sagt
sie ihrem Mann Bescheid, der sich sofort auf den Weg macht.
Sie sollte recht behalten: Am frühen Abend platzt die
Fruchtblase, die Geburt lässt sich nun nicht mehr aufhalten.
Das Klinikteam wägt gemeinsam mit den Eltern ab und
entscheidet sich schließlich für einen Kaiserschnitt, denn
die Anstrengungen einer natürlichen Geburt könnten für das
immer noch zarte Kind eine zu große Belastung sein. Um 19.56
Uhr schließlich kommt die kleine Esmira mit lebendigen 1650
Gramm und 41 Zentimetern auf die Welt.
„Sie
schrie, sie atmete, sie lebte. Das war das einzige, was in
dem Moment zählte“, beschreibt Rabia den bisher schönsten
Moment in ihrem Leben. Und auch wenn das kleine Mädchen
immer noch ein Frühchen ist und zur Überwachung sofort auf
die Perinatalstation kommt: Sie ist stabil und braucht in
der Zeit nach ihrer Ankunft nur wenig medizinische
Unterstützung. Drei Tage lang helfen ihr Geräte beim Atmen,
dann schafft sie es selbstständig.
Ein wichtiger Schritt
und ein gutes Zeichen, zur Überwachung bleibt sie aber noch
weitere drei Wochen auf der Intensivstation. Für die Eltern
eine emotionale Herausforderung: „Wir wussten, dass sie gut
versorgt ist, aber die ständige Angst, dass sie es doch
nicht schaffen würde, war riesengroß.“ Doch Esmira nimmt an
Gewicht zu, entwickelt sich bestmöglich und schenkt ihren
Eltern jeden Tag mehr Zuversicht.
Schließlich folgt der nächste wichtige Schritt: Mutter und
Kind können auf die Normalstation. Endlich zusammen, Tag und
Nacht. „Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir all
das wirklich überwunden haben und ich sie hier bei mir haben
darf.“ Während Rabia Araci das sagt, gluckst das kleine
Mädchen zufrieden in ihrem Arm. Voller Liebe streichelt die
stolze Mama ihr über den zarten Bauch. Knapp 2300 Gramm
wiegt die Kleine nun und die beiden stehen kurz vor der
Entlassung nach Hause.
Der Schritt hinaus
ins Leben, dem Rabia einerseits entgegenfiebert, der ihr
aber auch ein mulmiges Gefühl beschert: „Es ist, als würde
man aus einer Blase fallen, hier konnte ich alle alles
fragen. Und unsere Maus ist ja auch immer noch so klein.“
Esmira gluckst wieder
leise, als wollte sie ihre Mama beruhigen. Und auch Oberarzt
Metin Degirmenci spricht ihr Mut zu: „Sie haben das bisher
so großartig gemacht, Ihrer Tochter so viel wertvolle
‚Bauchzeit‘ geschenkt und sie versorgt, das ist mehr als
jeder Arzt könnte. Deshalb schaffen sie auch alles, was
kommt. Und wir sind ja weiterhin für Sie da.“
Denn auch nach der
Entlassung wird die Familie von der Klinik begleitet. Zudem
bekommt Esmira in den ersten Wochen noch ein mobiles
Überwachungsgerät mit nach Hause, das ihre Atmung im Schlaf
kontrolliert. Denn Frühchen können gerade zu Beginn noch
unter kleinen Atemaussetzern leiden, weil bestimmte Areale
im Gehirn noch nachreifen müssen. Aber in einigen Monaten
wird auch das hinter ihnen liegen und der schwere Start in
den Hintergrund rücken. Rabia muss schon lachen beim
Gedanken daran: „Wenn Esmira erstmal loslegt und mobil wird,
sehne ich mich irgendwann bestimmt nach acht Wochen Bettruhe
zurück.“
Hintergrundinformation
Perinatalzentrum Ein Perinatalzentrum vereint
die Fachbereiche Geburtsmedizin und Kinderheilkunde unter
einem Dach zur optimalen Versorgung von Mutter und Kind.
Kommt ein Baby zu früh oder krank auf die Welt, arbeiten die
Experten eng zusammen und können auf modernste Technik sowie
viel Erfahrung zurückgreifen.
Am Helios Klinikum
Duisburg ist ein Perinatalzentrum Level 1 angegliedert,
sprich ein Zentrum mit der höchsten Versorgungsstufe. Dort
können auch extreme Frühchen mit etwa 500 Gramm
Geburtsgewicht medizinisch umfassend betreut und versorgt
werden.
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