Duisburg, 3. September 2021 - Als
Ella geboren wird, ahnt niemand, dass sie unter einem
seltenen Gendefekt leidet. Bis ihr Herz stillsteht.
Dass seltene Erkrankungen sich oft lange der richtigen
Diagnose entziehen, liegt in ihrem Wesen, denn die
Betroffenen müssen auf Ärzte treffen, die sich damit
auskennen. Auch bei der fünfjährigen Ella dauert die Suche
monatelang an – während ihr Herz immer schwächer wird.
Hellblaues T-Shirt, bunte Leggins und ein kleiner
Rucksack über den zarten Schultern – als die Tür aufgeht,
strahlt die fünfjährige Ella ihre betreuende Ärztin im
Krankenzimmer der Kinderstation 34 fröhlich an. Auf den
ersten Blick könnte das hier Klinikalltag sein und Ella
einfach ein tapferes Mädchen, das heute – vielleicht nach
einem harmlosen Eingriff – gemeinsam mit ihrer Mutter nach
Hause darf.
Auf den zweiten Blick aber ragen
Schläuche aus ihrem kleinen Rucksack bis zur
Blutdruckmanschette am Oberarm, hat sie noch einen frischen
Zugang im Handgelenk und zeichnet sich eine Sonde unter
ihrem T-Shirt ab. Bis sie entlassen werden kann, wird es
noch dauern. Denn Ellas Geschichte ist eine andere, eine die
ihr und ihrer Familie mehr abverlangt als Tapferkeit und in
deren Verlauf das Leben des kleinen Mädchens schon mehrfach
am seidenen Faden hing.
Ellas Gesichtszüge sind
schmal, sie wirkt ein wenig zu klein für eine Fünfjährige.
Aber man muss genauer hinschauen, um zu erkennen, dass sie
sich noch in anderen Dingen von Kindern ihres Alters
unterscheidet. Ihre Nasenspitze ist rundlicher, die Lippen
anders geformt. In ihrem zarten Körper schlägt zudem ein
Herz, das geschwächt ist. Denn Ella fehlt seit ihrer Geburt
ein Stück eines Chromosoms, und damit rund 28 Gene.
Dieser Defekt nennt sich Williams-Beuren-Syndrom
(kurz WBS) nach seinen deutsch-neuseeländischen
Entdeckern. Rein medizinisch gesehen ist WBS eine
seltene Erkrankung, sie tritt nur bei etwa einer von 8000
Geburten auf. Für die betroffenen Familien aber ändert sie
alles. Denn trotz zunehmender Bekanntheit vergehen oft
Jahre, in denen schon schwere Symptomen auftreten, aber
niemand die Ursache erkennt. Auch, weil die Erkrankung
so unterschiedliche Ausprägungen hat. Denn eine der Folgen
des „Stückverlusts“ am langen Arm des Chromosoms 7 ist, dass
Betroffene ein verändertes, weniger funktionstüchtiges
Elastin bilden können.
„Eine Störung, die nahezu
alle Körpervorgänge beeinflusst, denn Elastin gehört zu den
strukturgebenden Eiweißen und sorgt unter anderem für die
Dehnungsfähigkeit der Blutgefäße“, erklärt Dr. Elke
Reutershahn, Leiterin des bundesweit einzigen WBS-Zentrums
an der Helios St. Johannes Klinik in Duisburg. Dieser Mangel
kann bei Betroffenen unter anderem Herz- und
Gefäßfehlbildungen sowie dauerhaften Bluthochdruck
verursachen. Neben den organischen Veränderungen weisen die
Kinder zudem besondere optische Merkmale auf so wie auch
Ella. Dazu kommen einschränkende Entwicklungsdefizite und
ein verändertes Sozialverhalten. Viele Betroffene sind
gegenüber Mitmenschen extrem kontaktfreudig, neugierig und
vertrauensselig, dafür aber in Alltagssituationen wie etwa
beim Zähne putzen übertrieben ängstlich oder reaktionsstark.
Für Ellas Familie beginnen die Veränderungen schon
in der Schwangerschaft, denn auf allen Ultraschallbildern
bleibt das kleine Mädchen immer ein wenig hinter den
Größenvorgaben zurück. Doch sie entwickelt sich konstant,
also gibt es erst mal keinen Grund zu großer Sorge. In der
30. Schwangerschaftswoche aber setzen plötzlich Wehen ein,
Ella drängt auf die Welt, viel zu früh. Mit Glück schafft
sie noch bis zur 38. Woche, muss dann aber per
Notkaiserschnitt geholt werden.
Schon direkt nach
ihrer Geburt hat sie leichte Atemaussetzer, kann kaum
trinken und nimmt nur sehr langsam zu. Sie kommt deshalb zur
Überwachung in die Kinderklinik. Die Ärzte gehen von einer
Anpassungsstörung aufgrund der verzögerten Entwicklung in
der Schwangerschaft aus.
Bei der U2 in der Klinik
hört der Kinderarzt zwar ein Herzgeräusch, die Kontrolle
soll aber aufgrund knapper Termine erst in sechs Monaten
erfolgen. Niemand schöpft Verdacht, Ella wird entlassen.
Doch auch zuhause bleibt ihr Zustand unbeständig, von
einer sorglosen Kennenlernzeit ist die Familie weit
entfernt. „Ella schrie viel, war unruhig und konnte
weiterhin nicht gut trinken“, erzählt Olga Gabelmann, Ellas
Mama. Sie ahnt immer mehr, dass hier etwas nicht stimmt. Als
ihre Tochter mit einem Mal auffallend ruhiger und zugleich
schwächer wird, drängt sie in der Klinik auf einen früheren
Ultraschall. Die Aufnahmen sollen ihr recht geben. Ellas
Herz ist bereits stark vergrößert, ihre Herzklappen
funktionieren nicht richtig. Jetzt muss es schnell
gehen, sie kommt zur Untersuchung ins Herzkatheterlabor,
dort verschlechtert sich ihr Zustand unter der Vollnarkose
rapide, das wenige Monate alte Baby muss zweimal reanimiert
werden. Danach liegt sie wochenlang beatmet auf der
Intensivstation, auch hier versagt ihr Herz, doch die Ärzte
holen sie wieder zurück.
Für ihre Familie ein
Albtraum: „Diese Wochen waren so unfassbar grausam. Ich
frage mich oft immer noch, wie wir das durchgestanden
haben.“ Olga Gabelmanns Gesicht verdunkelt sich bei der
Erinnerung. Doch kurz darauf strahlt die 37jährige wieder
eine Kraft und Zuversicht aus, die beeindruckend ist. Sie
kämpft für ihre kleine Tochter, jeden Tag. Und auch für ihr
zweites Mädchen, Lena, die zwei Jahre ältere Schwester von
Ella: „Geschwister von erkrankten Kindern nennt man oft
Schattenkinder, weil sie unheimlich viel zurückstecken
müssen. Wir versuchen, das so gut es geht, mit Exklusivzeit
auszugleichen.“
Denn Ellas Kampf geht weiter, ihr
stark geschwächtes Herz macht kurzfristig eine große
Operation notwendig, erneut hängt ihr Leben am seidenen
Faden. Doch sie kämpft und überlebt. Und auch eine mögliche
Diagnose steht im Raum, denn nach einem Schnelltest hört die
Familie zum ersten Mal den Begriff Williams-Beuren-Syndrom,
kurz WBS.
Einen richtigen Behandlungsplan aber gibt
nicht. Ellas Zustand stabilisiert sich und Olga Gabelmann
findet Zeit, um zu recherchieren. Dabei stößt sie in den
sozialen Medien auf andere Betroffene und darüber auf das
WBS-Zentrum an der Helios St. Johannes Klinik und
seine Leiterin Dr. Elke Reutershahn.
Die erfahrene Oberärztin sitzt zeitgleich dem
wissenschaftlichen Beirat des WBS-Bundesverbandes vor, ist
Expertin bei der Behandlung des Gendefektes. Die Familie
macht schließlich einen Termin in Duisburg und fährt aus der
Pfalz an den Niederrhein.
„Ich war so erleichtert,
als wir die ersten Gespräche geführt haben. Plötzlich
verstand jemand alle Sorgen und Besonderheiten rund um Ella
und ich musste nichts erklären oder rechtfertigen“, erinnert
sich die Krankenschwester. Mit Elke Reutershahn und
ihrem Team gehen sie alle Herausforderungen durch, etwa
Ellas Probleme bei der Nahrungsaufnahme, die sie von Beginn
an begleiten und sich durch einen lebensbedrohlichen Riss
ihrer Speiseröhre im Alter von zwei Jahren noch
verschlimmern. Bis heute löst Essen bei ihr einen Brechreiz
aus und sie muss über eine Sonde künstlich ernährt werden.
Elke Reutershahn entwickelt einen Therapieplan für Ella,
gibt der Familie zudem hilfreiche Tipps und ist über die
Jahre bei Sorgen immer ansprechbar, auch als die Pandemie
beginnt, denn eine Corona-Infektion kann für WBS-Patienten
schnell lebensgefährlich werden. Bereits dreimal war Ella
für Behandlungen oder Operationen in Duisburg, alles wird
dann aufeinander abgestimmt, damit es für sie möglichst
stressfrei und schonend abläuft, denn auch eine Narkose ist
für das Mädchen ein enormes Risiko.
Im Zimmer auf
Station 34 der Alt-Hamborner Klinik erholt sie sich jetzt
von Eingriffen am Bauch und an den Zähnen, die parallel
stattfanden, um Ella von mittlerweile chronischen Schmerzen
zu befreien. Kinder- und Kieferchirurgen arbeiteten dafür
Hand in Hand. Auch das ist eine Besonderheit des Zentrums.
Eingebettet in das Leistungsspektrum eines Maximalversorgers
bietet die Abteilung WBS-Betroffenen und ihren Familien die
gesamte Bandbreite der medizinischen Versorgung - von der
internistischen über die operative bis hin zur
entwicklungsdiagnostischen Therapie.
Heilbar ist das Williams-Beuren-Syndrom bislang nicht. Doch
viele Patienten können als Erwachsene zwar ein betreutes,
aber in einigen Dingen selbstständiges Leben führen. Ob das
für Ella jemals möglich sein wird, kann keiner der
Beteiligten sagen.
Ihre Familie aber ist glücklich
über jeden neuen Tag mit ihr: „Ella hat schon so viel
durchgemacht und geht trotzdem unglaublich fröhlich durchs
Leben. Daran nehmen wir uns immer wieder ein Beispiel und
genießen auch alltägliche Momente umso intensiver.“
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