Düsseldorf/Duisburg, 20.
Dezember 2023 - Der
Nationale Wohlfahrtsindex
(NWI), ein Indikator zur
Wohlstandsmessung über das
Wirtschaftswachstum hinaus,
verzeichnet für 2022 ein
deutliches Plus. Das liegt
vor allem an höheren
Konsumausgaben der privaten
Haushalte und an weniger
Energieverbrauch in
Deutschland im Vergleich zu
2021. Dass die Nachfrage
nach Energie zurückging, war
allerdings auch ein Effekt
des Preisschocks und der
wirtschaftlichen
Schwierigkeiten nach dem
russischen Angriff auf die
Ukraine.
Zu einer nachhaltigen
Stärkung der
gesamtgesellschaftlichen
Wohlfahrt würden konsequente
Investitionen in die
sozial-ökologische
Transformation beitragen,
ebenso wie eine Reduzierung
der Ungleichheit in
Deutschland. Der NWI wird
vom Institut für
Interdisziplinäre Forschung
(FEST) in Heidelberg
erstellt mit Förderung des
Instituts für Makroökonomie
und Konjunkturforschung
(IMK) der
Hans-Böckler-Stiftung*.
Als Maßstab für den
Wohlstand der Nationen dient
traditionell das
Bruttoinlandsprodukt (BIP).
Es gibt den Wert sämtlicher
Güter und Dienstleistungen
wieder, die innerhalb eines
Jahres erwirtschaftet worden
sind – und vernachlässigt
nach Ansicht kritischer
Fachleute unter anderem
ökologische und soziale
Aspekte. Um diesem Mangel
abzuhelfen, wurde der NWI
entwickelt, der auf
insgesamt 21 Komponenten
beruht. Als
wohlfahrtssteigernd gelten
dabei zum Beispiel höhere
private Konsumausgaben sowie
Wertschöpfung durch
ehrenamtliche Arbeit,
weniger Emissionen von
Treibhausgasen oder der
Schutz der Biodiversität.
Negativ verbucht werden
unter anderem
Einkommensungleichheit,
Kriminalität,
Luftverschmutzung oder
Schäden durch
Naturkatastrophen. Dr.
Benjamin Held, Dorothee
Rodenhäuser und Prof. Dr.
Hans Diefenbacher vom FEST
haben den NWI für 2022
errechnet. Ihren
Berechnungen zufolge hat der
Index gegenüber 2021 um 9,9
Punkte zugelegt, das war der
größte Zuwachs in einem Jahr
seit 1991. Der NWI-Score
beträgt nun 103,8 Punkte,
wobei der Wert 100 dem
Niveau im Jahr 2000
entspricht.
Maßgeblich verantwortlich
für diese Entwicklung waren
laut den Forschenden die
starken Zuwächse bei den
Konsumausgaben: Knapp die
Hälfte des NWI-Anstiegs gehe
auf ihr Konto. Positiv auf
den Konsum hätten sich vor
allem die Normalisierung und
die Nachholeffekte nach dem
Ende der Corona-Pandemie
ausgewirkt, aber auch
staatliche
Entlastungsmaßnahmen wie das
Neun-Euro-Ticket, das
Energiegeld oder der
Heizkostenzuschuss, die die
Auswirkungen der Inflation
deutlich abgemildert haben.
Energieeinsparungen hätten
gleichzeitig die
Umweltkosten sinken lassen.
Allerdings betonen die
Fachleute auch, dass der
Energiepreisschock und die
drohende Mangellage wegen
des Ukrainekrieges
wesentliche Gründe dafür
waren, weshalb zum Beispiel
die Produktion
energieintensiver Betriebe
gedrosselt und der private
Energieverbrauch gesenkt
wurden. Die negativen
Wohlfahrtswirkungen dieser
„extern verursachten“
Einsparungen vermöge der NWI
nur zum Teil abzubilden,
zeigen sie sich doch
manchmal erst mit
Verzögerung (z.B.
Auswirkungen auf
Arbeitsplätze) oder liegen
außerhalb der
Erhebungssystematik des NWI
(z.B. geringeres
Wohlbefinden).
Ein weiterer Teil der
Steigerung beim NWI sei
darauf zurückzuführen, dass
es im vergangenen Jahr keine
so verheerende
Naturkatastrophe gegeben
habe wie 2021 an Ahr und
Erft. Dass das Plus nicht
noch größer ausgefallen ist,
hänge mit der hohen
Inflation und den wieder
zunehmenden Emissionen im
Flugverkehr zusammen.
In der Studie findet sich
auch eine erste Einschätzung
zum Jahr 2023, die
allerdings „mit großer
Unsicherheit“ behaftet sei,
da die nötigen Daten
größtenteils noch nicht
vorliegen. Zumindest ein
ähnlich hoher Anstieg wie
2022 könne aber
ausgeschlossen werden:
Vorliegende Konsumdaten
deuteten eher auf einen
Rückgang in Zeiten schwacher
Konjunktur und weiter hoher
Preise hin.
Andererseits ergebe sich aus
vorläufigen Berechnungen,
dass der Energieverbrauch
und die damit verbundenen
Emissionen im ersten
Halbjahr 2023 gesunken sind.
Wie schon während der
Corona-Pandemie sei diese
Entwicklung jedoch nicht
uneingeschränkt positiv zu
bewerten, handele es sich
doch zum Teil um
unfreiwillige Rückgänge oder
Einschränkungen. Ob der NWI
2023 letztlich steigen oder
fallen wird, hänge vom
zweiten Halbjahr ab.
Die Forschenden haben sich
auch die Entwicklung in den
vergangenen 30 Jahren
angeschaut. Dabei falle auf,
dass das BIP seit 1991
nahezu kontinuierlich
gewachsen ist, um insgesamt
47 Prozent. Deutliche
Einbrüche habe es nur 2009
infolge der Finanzkrise und
2020 wegen der
Corona-Pandemie gegeben.
Beim NWI dagegen sei ein
„Wechsel zwischen Auf und
Ab“ festzustellen, in Summe
habe er sich kaum erhöht und
liege 2022 nur knapp über
dem Wert des Jahres 2000.
Der Hauptgrund dafür sei die
Ungleichheit, deren Kosten
sich seit 1991 um 453
Milliarden Euro erhöht
haben. Dass unter dem Strich
überhaupt ein Zugewinn zu
verzeichnen ist, liege vor
allem an den Konsumausgaben,
die preisbereinigt um 350
Milliarden Euro zugelegt
haben, und am Staatskonsum,
der um 186 Milliarden Euro
gestiegen ist.
Für nachhaltig höhere
NWI-Werte empfehlen die
Forschenden der Politik, die
Bereiche Umweltkosten und
Ungleichheit ins Visier zu
nehmen – zwei „zentrale
Aspekte der
sozial-ökologischen
Transformation“.
Den potenziellen Nutzen
veranschaulichen sie anhand
von zwei Szenarien. Zum
einen haben sie berechnet,
wie sich die Erfüllung der
im Klimaschutzgesetz und im
Koalitionsvertrag
verankerten Ziele zum Ausbau
der erneuerbaren Energien
und zur Senkung der
Treibhausgasemissionen
auswirken würde.
Das Ergebnis: Wenn
zusätzlich unterstellt wird,
dass die
Stromgestehungskosten für
erneuerbare Energie durch
den technologischen
Fortschritt und
Skaleneffekte jährlich um
drei Prozent sinken, steigt
der NWI um 13,6 Punkte. In
einem zweiten Szenario wurde
angenommen, dass es gelingt,
bei der Einkommensverteilung
wieder das niedrigere
Ungleichheitsniveau von 1999
zu erreichen. In diesem Fall
würde der NWI um 17,5 Punkte
zulegen. Kombiniert man
beide Szenarien, ergibt sich
ein Plus von 31 Punkten.
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