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Bundesarbeitsgericht entscheidet abschließend
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Wichtige BAG-Entscheidung zu Mitbestimmung bei SAP
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Fachleute mahnen, weitere Gesetzeslücken zu schließen
Erfurt/Düsseldorf/Duisburg, 31. März 2023 - Nach gut sieben
Jahren juristischer Auseinandersetzung um die
Unternehmensmitbestimmung beim Softwarekonzern SAP hat das
Bundesarbeitsgericht (BAG) abschließend entschieden. Der
Beschluss bringt mehr Schutz für Beschäftigen- und
Gewerkschaftsrechte in Unternehmen mit der Rechtsform einer
Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Das Verfahren ist auch
über den konkreten Fall hinaus bedeutend, weil die
Umwandlung in eine SE von vielen Unternehmen in
unterschiedlicher Weise benutzt wird, um die Mitbestimmung
von Beschäftigten im Aufsichtsrat zu schwächen oder sogar
ganz zu vermeiden.
„Die neue Entscheidung des BAG ist eine Absage an
arbeitgebernahe Positionen, die größte Flexibilität der
Unternehmen bei Einschränkungen der Arbeitnehmerrechte bei
einer SE-Gründung annehmen“, sagt deshalb Dr. Sebastian
Sick, Unternehmensrechtler beim Institut für Mitbestimmung
und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung.
„Beschäftigte und Gewerkschaften gehen gestärkt aus diesem
Verfahren vor dem BAG hervor – nicht nur bei SAP“, so Sick,
der auch Mitglied der Regierungskommission Deutscher
Corporate Governance Kodex ist. Allerdings seien für eine
wirklich wirkungsvolle Stabilisierung der Mitbestimmung
zusätzlich gesetzliche Initiativen von Bundesregierung und
Europäischer Kommission dringend erforderlich, mahnen die
Experten des I.M.U.
Bei dem Verfahren ging es um die überbetriebliche Vertretung
von Beschäftigten in den Aufsichtsräten großer Unternehmen
durch die Gewerkschaften. Die Präsenz von
Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern ist ein
integraler Teil des deutschen Mitbestimmungsgesetzes und
Bestandteil guter und nachhaltiger Corporate Governance;
diese steuern einen überbetrieblichen Blickwinkel bei und
stärken damit die Kompetenz der Arbeitnehmerseite und des
Aufsichtsrates insgesamt. Das hat das
Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1979 und das
BAG bereits in seinem Vorlagebeschluss 2020 an den EuGH
(siehe unten) ausdrücklich bestätigt.
Bei SAP wurde bei der Umwandlung in eine SE ausgehandelt, im
Zuge einer längerfristig angestrebten Verkleinerung des
Aufsichtsrats von 18 auf 12 Mitglieder das Vorschlagsrecht
von Gewerkschaften für die Besetzung von mindestens zwei
Aufsichtsratsmandaten abzuschaffen. Die Gewerkschaften IG
Metall und ver.di klagten 2016 dagegen. Das Verfahren, das
vom I.M.U. begleitet wurde, ging durch die deutschen
Instanzen bis zum BAG.
Die Erfurter Richterinnen und Richter sprachen sich im
August 2020 gegen die Schwächung der
Arbeitnehmermitbestimmung bei der Umwandlung des
Softwarekonzerns aus. Die durch einen gesonderten Wahlgang
gesicherten Sitze für Gewerkschaftsvertreterinnen und
-vertreter im Aufsichtsrat seien ein prägendes Element der
Mitbestimmung. Zugleich beschloss das BAG, wegen des
europäischen Bezugs dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die
Auslegungsfrage vorzulegen, ob das EU-Recht in diesem Punkt
das deutsche SE-Recht stützt.
Der EuGH bestätigte 2022: Nach deutschem und europäischem
Recht können die gesicherten Sitze für die
Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat bei der Umwandlung
einer deutschen Aktiengesellschaft in eine SE nicht
beseitigt werden. Anhand dieser Linien hat das BAG nun am
23. März 2023 den konkreten Fall der SAP SE entschieden.
Quintessenz: Weil bei SAP kein gesonderter Wahlgang für
gesicherte Gewerkschaftssitze im Falle der möglichen
Verkleinerung des Aufsichtsrats von 18 auf 12 Mitglieder
vorgesehen ist, ist die gesamte Regelung in der
SE-Beteiligungsvereinbarung zum 12-köpfigen Aufsichtsrat
unwirksam.
Lediglich die Regelung zum aktuell bestehenden 18-köpfigen
Aufsichtsrat, die dem Schutz der gewerkschaftlichen
Vertretung gerecht wird, hat Bestand. Damit ist die
Verkleinerung des Aufsichtsrats auf 12 Mitglieder nach der
aktuellen Vereinbarung bei SAP nicht möglich. „Es ist sehr
wichtig, dass das oberste deutsche Arbeitsgericht hier ganz
klare Konsequenzen aufzeigt“, betont Unternehmensrechtler
Sick: „Bei Missachtung von Beschäftigten- und
Gewerkschaftsrechten droht Unwirksamkeit ganzer Regelungen
in Beteiligungsvereinbarungen, auch wenn es um die
Europäische Rechtsform SE geht.“
Die hohe Bedeutung über den Einzelfall hinaus erklärt der
I.M.U.-Experte so: „Das deutsche System der industriellen
Beziehungen baut auf belastbaren Mitbestimmungsrechten der
Beschäftigten auf. Aber die nationalen Mitbestimmungsgesetze
laufen immer häufiger ins Leere. Oft, weil sie über
Konstrukte europäischen Rechts ausgehebelt werden. Die
Erosion ist dramatisch und die SE ist mittlerweile ein
zentrales Vehikel, um Mitbestimmung zu unterlaufen.“
Eine aktuelle Studie des I.M.U. ergibt: Mindestens 1,4
Millionen Beschäftigte in deutschen Unternehmen können das
Recht auf paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat durch
betriebliche und überbetriebliche
Arbeitnehmervertreter*innen nicht ausüben, weil ihre
Arbeitgeber Rechtslücken für eine legale Umgehung ausnutzen.
Drei Viertel der Unternehmen mit legaler
Mitbestimmungsvermeidung nutzen Lücken mit europarechtlichem
Bezug, allein bei mindestens gut 300.000 Beschäftigten
werden Mitbestimmungsrechte durch die Umwandlung in eine SE
umgangen.
„Wichtig ist, dass weitere Tendenzen gestoppt werden,
Mitbestimmung durch europäisches Recht auszuhebeln. Im Fall
SAP ist das gelungen, weitere Schritte müssen folgen“,
erklärt Dr. Daniel Hay, der wissenschaftliche Direktor des
I.M.U. Dass eine starke Mitbestimmung, die auch
überbetriebliche Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter
umfasst, für das gesamte Unternehmen und auch
gesellschaftlich positiv wirkt, belegen verschiedene
wissenschaftliche Untersuchungen.
So zeigen mehrere aktuelle Studien von Forschenden der
Universitäten Göttingen, Marburg und Duisburg-Essen sowie
des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB), dass stark
mitbestimmte Unternehmen erfolgreicher durch Krisen wie die
Finanz- und Wirtschaftskrise und durch wirtschaftliche
Umbruchphasen kommen als Firmen ohne Arbeitnehmermitsprache.
Zudem verfolgen sie häufiger eine qualitäts- und
innovationsorientierte Strategie, sind im Schnitt rentabler,
betreiben seltener aggressive Steuervermeidung und gehen bei
Zukäufen weniger Risiken ein (siehe auch die unten
verlinkten zusätzlichen Informationen). Ampelkoalition hat
Verbesserungen angekündigt – „sie muss aber auch liefern“
Jenseits des aktuellen Prozesserfolgs ist nach Analysen der
Hans-Böckler-Stiftung der Bedarf groß, Lücken in den
Regelungen zur SE und im deutschen Mitbestimmungsrecht zu
schließen.
Dabei seien der deutsche und der europäische Gesetzgeber
gefragt, betont Hay. Beispielsweise würden immer wieder
Firmen in eine SE umgewandelt, kurz bevor sie die deutschen
gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für eine
Drittelbeteiligung der Beschäftigten im Aufsichtsrat oder
von 2.000 für die paritätische Mitbestimmung erreichen. Da
dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo ohne
paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat also eingefroren
wird, können sich Unternehmen auf diese Weise unwiderruflich
aus dem System der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn
sie später deutlich mehr Beschäftigte haben.
Das hat längst drastische Folgen: Bei vier von fünf in
Deutschland ansässigen SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten
fehlt die für deutsche Rechtsformen vorgesehene paritätische
Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Darunter sind auch
DAX-Konzerne wie Zalando oder Vonovia. Das sei ein
Kernproblem für die Partizipation, weil das Nachwachsen
mitbestimmter Unternehmen so verhindert wird, sagt der
wissenschaftliche Direktor des I.M.U. Die Bundesregierung
hat in ihrem Koalitionsvertrag einige rechtliche
Verbesserungen angekündigt, unter anderem mit Blick auf SEs.
„Dass die Ampelkoalition die Unternehmensmitbestimmung als
wichtigen Faktor für eine erfolgreiche Wirtschaft anerkennt
und schützen will, ist ein Fortschritt. Aber die
Bundesregierung muss auch liefern“, sagt Jurist Hay.
„Darüber hinaus gibt es weitere Lücken in den Gesetzen.
Beispielsweise ist es für Unternehmen mit Sitz in
Deutschland möglich, Mitbestimmung durch Nutzung einer
ausländischen Unternehmensrechtsform zu vermeiden. Hier muss
die Bundesregierung ebenfalls aktiv werden. Ein
Mitbestimmungserstreckungsgesetz würde klarstellen, dass die
Mitbestimmungsgesetze für alle kapitalistisch strukturierten
Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland
gelten“, erklärt Hay. Zudem müsse sich die Bundesregierung
auf europäischer Ebene für Mindeststandards der
Unternehmensmitbestimmung einsetzen.
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