Neue Stellungnahme für die
Mindestlohnkommission
Düsseldorf, 29. März 2023 -
„Mit der strukturellen Anhebung des gesetzlichen
Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde ist Deutschland einen
großen Schritt in Richtung eines angemessenen
Mindestlohnniveaus im Sinne der Europäischen
Mindestlohnrichtlinie gegangen“ – es bleibt aber Luft nach
oben, wenn eine existenzsichernde Untergrenze erreicht und
gehalten werden soll.
Zu diesem Ergebnis kommen Arbeitsmarktexperten der
Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen Stellungnahme für die
Mindestlohnkommission. Die berät in den kommenden Monaten
über die nächste Anpassung des Mindestlohns zum 1. Januar
2024. Der jüngste Fortschritt sei kein Grund, sich
zurückzulehnen und mit dem Status quo zufriedenzugeben,
analysieren die Forschenden. Nach der jüngsten
außerordentlichen Erhöhung gelte es, den Mindestlohn
dauerhaft auf ein angemessenes Niveau zu bringen.
Außerdem dürfe es angesichts der aktuell hohen
Preissteigerungen keine Verschnaufpause geben. Und
schließlich sind trotz des jüngsten Anstiegs noch nicht die
in der EU-Mindestlohnrichtlinie genannten Referenzwerte
erreicht: 50 Prozent des durchschnittlichen oder 60 Prozent
des mittleren Lohns, des Medianlohns, würden aktuell 13,16
Euro beziehungsweise 13,53 Euro entsprechen, haben die
Fachleute des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
Instituts (WSI) und des Instituts für Makroökonomie und
Konjunkturforschung (IMK) berechnet (siehe auch Abbildung 8
in der Studie; Link unten).
Was der Mindestlohn bisher bewirkt hat
Die Arbeitsmarktexperten fassen in ihrer Analyse die
bisherigen Erfahrungen mit Einführung und Erhöhungen der
gesetzlichen Lohnuntergrenze zusammen. Dabei erinnern sie
auch daran, dass „die von vielen befürchteten negativen
Konsequenzen für den Arbeitsmarkt ausgeblieben“ sind,
nachdem der Mindestlohn 2015 eingeführt worden war. In den
Folgejahren beschloss die für Anpassungen zuständige
Mindestlohnkommission mäßige Erhöhungen, die zeitverzögert
die Entwicklung der Tariflöhne nachzeichneten. So stieg der
gesetzliche Mindestlohn von ursprünglich 8,50 Euro bis 2021
auf 9,60 Euro. Seitdem hat er mit zwei Zwischenstufen um 25
Prozent zugelegt und beträgt derzeit 12 Euro.
Damit kommt er zum ersten Mal „in die Nähe der
Niedriglohnschwelle“, die das Statistische Bundesamt für
2022 mit 12,50 Euro angibt. Die Anhebung verbesserte für
rund sechs Millionen Beschäftigte die Bezahlung – das waren
deutlich mehr als bei der Einführung 2015.
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im
Mindestlohnbereich haben durch die jüngste Erhöhung im
Schnitt 100 Euro mehr im Monat, Minijobberinnen und
Minijobber 50 Euro. Die Löhne und Gehälter in den unteren
Zehnteln der Verteilung stiegen überdurchschnittlich.
Der Mindestlohn habe statistischen Erhebungen zufolge „sehr
ausgeprägte Effekte“, was die Lohnentwicklung betrifft,
schreiben die Experten Prof. Dr. Alexander Herzog-Stein, Dr.
Malte Lübker, Dr. Toralf Pusch, Prof. Dr. Thorsten Schulten
und Dr. Andrew Watt. Dabei machte die gesetzliche
Untergrenze Tarifverhandlungen in Niedriglohnbranchen
keineswegs überflüssig, sondern sie habe im Gegenteil den
zumeist eher schwach organisierten Tarifvertragsparteien in
den Niedriglohnbranchen geholfen, „eine notwendige
Aufwertung des Tariflohnniveaus gegenüber anderen Branchen
voranzutreiben“.
Zudem wirke der Mindestlohn gesamtwirtschaftlich
stabilisierend, was etwa die Überwindung der Coronakrise
erleichtert habe. Die neue EU-Richtlinie zum Mindestlohn Im
Oktober 2022 ist eine neue EU-Richtlinie verabschiedet
worden, um „die Angemessenheit der Mindestlöhne der
Arbeitnehmer“ zu verbessern. Damit werden – auch für
Deutschland verbindliche – anspruchsvollere Ziele
formuliert. Während bei der Einführung 2015 hierzulande die
recht niedrige Pfändungsfreigrenze als Orientierungspunkt
galt, kommen nun weitere Kriterien ins Spiel: Der
Mindestlohn soll Armut trotz Arbeit möglichst verhindern,
den sozialen Zusammenhalt stärken, soziale Aufstiege
erleichtern und das geschlechtsspezifische Lohngefälle
verringern.
Zu beachten sind laut der Richtlinie bei der Festlegung:
– die Kaufkraft des Mindestlohns unter Berücksichtigung der
Preissteigerungen,
– das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung,
– die Wachstumsrate der Löhne,
– die langfristige Entwicklung der Produktivität. Explizit
werden zudem die „auf internationaler Ebene üblichen
Referenzwerte“ von 50 Prozent des Durchschnitts- oder 60
Prozent des Medianlohns genannt. Als besonders dringlich
erscheint den Fachleuten von WSI und IMK aktuell die
Berücksichtigung der Inflation
– die Beschäftigte mit niedrigem Entgelt häufig noch härter
trifft als Bessergestellte, wie der monatliche
„Inflationsmonitor“ des IMK zeigt. Eine entsprechende
Anpassung des Mindestlohns sollte mindestens einmal im Jahr
erfolgen. Und ein weiterer Aspekt könnte eine Rolle spielen:
nämlich inwieweit der Mindestlohn reicht, um Altersarmut zu
vermeiden.
Derzeit wären beispielsweise 13,37 Euro nötig, damit eine
Person, die 40 Jahre 38,5 Stunden in der Woche zum
Mindestlohn arbeitet, einen Rentenanspruch oberhalb der
Grundsicherung erwirbt. In jedem Fall ist es laut WSI und
IMK in Zukunft keine Option mehr, den Mindestlohn wie in der
Vergangenheit einfach mit gewissem Zeitverzug den
Tariflöhnen folgen zu lassen. Vielmehr sei der Auftrag der
Mindestlohnkommission, die sich aus Vertreterinnen und
Vertretern der Sozialpartner sowie wissenschaftlichen
Beratenden zusammensetzt, gesetzlich zu präzisieren. Dazu
sollten die in der EU-Richtlinie genannten Kriterien ins
deutsche Mindestlohngesetz übernommen werden.
Alexander Herzog-Stein, Malte Lübker, Toralf Pusch, Thorsten
Schulten, Andrew Watt Europäische Mindestlohnrichtlinie
schafft neue Spielräume für eine Weiterentwicklung des
deutschen Mindestlohngesetzes, WSI Policy Brief Nr. 75, März
2023
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