Neue Branchenanalyse
Düssldorf/Duisburg, 11. Mai 2023 - Bei Medizinischen
Versorgungszentren steht häufig das Geldverdienen im
Vordergrund: Kosten müssen gesenkt, Erlöse gesteigert
werden. Das ist zum Teil in der bisherigen
Gesundheitspolitik angelegt, zugleich ist die wachsende
Branche geprägt durch starke Konzentrationstendenzen, bei
denen auch der Einstieg von Finanzinvestoren eine Rolle
spielt. Das erhöht den Druck auch auf die Beschäftigten, von
denen viele nicht nach Tarif bezahlt werden und eine
Arbeitsverdichtung mit vielen Überstunden erleben, zeigt
eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie.*
Eine Folge: Nichtärztliche Beschäftigte wandern ab,
insbesondere im medizinisch-technischen Dienst herrscht
Fachkräftemangel. Private Investoren breiten sich im
Gesundheitswesen aus. Besonders gerne übernehmen sie
Medizinische Versorgungszentren (MVZ), trimmen sie auf
maximalen Gewinn und verkaufen sie nach kurzer Zeit weiter.
Aber auch anderen Betreibern von MVZ wie etwa Kliniken geht
es um möglichst niedrige Kosten. Das hat nicht nur Folgen
für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für die
Beschäftigten.
„Der Kostendruck wirkt sich negativ auf die
Arbeitsbedingungen sowie die Vergütung der Beschäftigten in
MVZ aus“, erklären Katharina Schöneberg und Dr. Katrin
Vitols vom Beratungsunternehmen wmp consult. Die
Forscherinnen haben zum einen die Struktur und die
wirtschaftliche Entwicklung der Branche untersucht, zum
anderen, wie es den Beschäftigten in MVZ im Hinblick auf
Arbeitsbedingungen, Qualifizierung, Digitalisierung,
Mitbestimmung und Zukunftsaussichten ergeht. Sie haben
aktuelle Statistiken und Literatur ausgewertet, Interviews
mit Experten und Expertinnen geführt und Beschäftigte sowie
ihre Interessenvertretungen befragt, insgesamt knapp 100
Personen.
In einem MVZ sind Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher
Fachrichtungen unter einem Dach ambulant tätig. Ein Ziel ist
es, die fachliche Zusammenarbeit zu verbessern und
Synergieeffekte zu nutzen. Unabhängig von der Trägerschaft
spielen bei der Gründung wirtschaftliche Faktoren eine
entscheidende Rolle. MVZ gehören – anders als Arztpraxen
oder Praxisgemeinschaften – nicht zwangsläufig Ärztinnen und
Ärzten. Sie werden unter anderem von Krankenhäusern,
Praxisnetzwerken, gemeinnützigen Trägern oder Kommunen
gegründet.
Die Politik hat die Einrichtung von MVZ ermöglicht, um die
ambulante Versorgung in Deutschland auszubauen und Ausgaben
im Gesundheitswesen zu senken. Schließlich gilt in der
Gesundheitspolitik der Grundsatz „ambulant vor stationär“.
Nur wenn eine Therapie nicht ambulant durchgeführt werden
kann, soll eine Behandlung im Krankenhaus oder einer anderen
stationären Einrichtung erfolgen, was in der Regel höher
vergütet wird. Seit ihrer Einführung im Jahr 2004 ist die
Zahl der MVZ kontinuierlich gestiegen. Waren es im ersten
Jahr 70, so gab es Ende 2020 bereits über 3800.
Wie groß ihre Bedeutung für die ambulante Versorgung
geworden ist, zeigt sich auch an der Zahl der dort tätigen
Ärztinnen und Ärzte: Ende 2020 waren es knapp 24000. Zum
Vergleich: In Einzelpraxen waren mehr als 50000 und in
Gemeinschaftspraxen über 90000 Ärztinnen und Ärzte
beziehungsweise Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten
tätig.
Finanzinvestoren verkaufen oft nach vier bis fünf
Jahren wieder
In den vergangenen Jahren ist ein zunehmender
Konzentrationsprozess zu beobachten: Einzelne MVZ werden
aufgekauft und zu Ketten zusammengeschlossen. Wesentliche
Treiber dieser Entwicklung sind internationale
Finanzinvestoren wie Private-Equity-Gesellschaften, aber
auch private Kliniken und börsennotierte Gesundheitskonzerne
tragen dazu bei. Speziell die Finanzinvestoren zielen darauf
ab, mehrere MVZ aufzukaufen, zu verschmelzen und nach einer
relativ kurzen Haltedauer von vier bis fünf Jahren wieder zu
veräußern oder an die Börse zu bringen.
Um den Gewinn bis zum Zeitpunkt des Verkaufs zu steigern,
orientieren sie sich vor allem an betriebswirtschaftlichen
Kennzahlen: Kosten müssen gesenkt, Erlöse gesteigert werden.
Kritiker und Kritikerinnen warnen davor, dass medizinische
Entscheidungen übermäßig von Kapitalinteressen beeinflusst
werden. Zwar dürfen heute nur noch zugelassene Ärztinnen und
Ärzte, Krankenhäuser und andere anerkannte Träger ein MVZ
gründen. Finanzinvestoren umgingen dies jedoch, so die
Studie von Schöneberg und Vitols, indem sie – zum Teil über
verschachtelte Tochtergesellschaften – kleinere
Krankenhäuser aufkaufen, um Eigentümer von MVZ zu werden.
Die Investoren bevorzugen Fachrichtungen, die als besonders
lukrativ gelten. Das trifft zum Beispiel auf die Zahnmedizin
zu – wegen der regelmäßigen Patientenbesuche und der
Kombination von medizinisch Notwendigem mit
zahlungspflichtigen Zusatzangeboten. Beliebt sind auch
Radiologie, Kardiologie, Orthopädie und inzwischen die
Allgemeinmedizin. Die gesamte Anzahl der MVZ in
Private-Equity-Besitz kann aufgrund fehlender Daten zu den
Eigentümerstrukturen nur näherungsweise bestimmt werden.
Schätzungen gehen für das Jahr 2020 von knapp 1000
Standorten aus, davon etwa 200 für Zahnmedizin.
Beschäftigte stark belastet, insbesondere
nichtärztliche
Offizielle Angaben darüber, wie viele Beschäftigte insgesamt
in MVZ tätig sind, liegen nicht vor. Es gibt jedoch
Erhebungen, die zeigen, dass in einem MVZ im Mittel etwa 8
Medizinerinnen und Mediziner sowie 14 Beschäftigte des
nichtärztlichen medizinischen Bereichs arbeiten. Die
Situation der Beschäftigten ist laut Schöneberg und Vitols
vielfach angespannt. Bei den Arbeitsbedingungen und der
empfundenen Belastung gibt es aber große Unterschiede:
Angestellte Ärztinnen und Ärzte profitieren zum Teil davon,
dass sie im Vergleich zur Freiberuflichkeit weniger mit
Bürokratie zu tun haben, kein unternehmerisches Risiko
tragen und ihre Arbeitszeiten flexibler gestalten können.
Demgegenüber klagen Befragte aus dem nichtärztlichen Bereich
häufiger über eine schlechte Bezahlung, fassen die
Forscherinnen das Stimmungsbild von mehreren Dutzend
befragten Beschäftigten zusammen. Oft verdienten die
Beschäftigten weniger als bei einer vergleichbaren Tätigkeit
im Krankenhaus. Nur selten werde nach Tarif bezahlt – selbst
wenn das MVZ einem Krankenhaus gehört und dort ein
Tarifvertrag gilt. Zudem berichten Beschäftigte über hohe
emotionale und körperliche Belastungen, wachsenden
Zeitdruck, Arbeitsverdichtung und eine Zunahme der Arbeit
insgesamt. Hinzu kommt, dass sie häufig Überstunden leisten
müssen und der Wunsch nach Vereinbarkeit von Beruf und
Privatleben trotz Teilzeitarbeit nicht immer erfüllt wird.
Die Tätigkeiten im Beruf und die Anforderungen an die
Qualifikation haben sich aus Sicht der Befragten in den
vergangenen Jahren verändert und vielfach erweitert. So
würden Beschäftigte aufgrund von Personalmangel teilweise in
verschiedenen Fachbereichen eingesetzt, die unterschiedliche
Kenntnisse erfordern, ohne dass sie eine Fort- oder
Weiterbildung erhalten hätten. Vielfach sei eine verstärkte
Abwanderung von Fachkräften aus den MVZ zu beobachten,
schreiben die Forscherinnen. Insbesondere im
medizinisch-technischen Dienst herrsche Fachkräftemangel.
„Die hohe Fluktuation ist einerseits Resultat der geringen
Vergütung, andererseits wird sie auch durch fehlende
Entwicklungsmöglichkeiten und Karrierechancen in MVZ
verstärkt.“ Die zunehmende Digitalisierung im
Gesundheitswesen wird von den Beschäftigten häufig nicht als
Erleichterung empfunden. Vielmehr zeigt die Befragung, dass
sie eher negative Folgen wie die Zunahme der Komplexität der
Arbeit, die Entwertung von Erfahrungswissen und den Verlust
von Autonomie wahrnehmen.
Arbeitnehmervertretungen gibt es in den MVZ bislang
nur selten.
Für die im Rahmen der Studie befragten Vertreter und
Vertreterinnen spielen die Themen Arbeitszeit und
Dienstplanung, Entgelt, betriebliches
Eingliederungsmanagement und Gefährdungsbeurteilungen eine
wichtige Rolle. Die Einhaltung der Mitwirkungs- und
Mitbestimmungsrechte wird überwiegend als „mittelmäßig“
beschrieben. Die Interessenvertretungen geben an, häufig
keine ausreichenden oder rechtzeitigen Informationen von der
Unternehmensleitung zu erhalten. Die betriebliche und
überbetriebliche Mitbestimmung wird aus ihrer Sicht dadurch
erschwert, dass MVZ zunehmend in größere Konzerne
eingebunden sind. Auch wenn die Kommunikation mit der
lokalen Geschäftsführung positiv bewertet wird, fehlt es
häufig an Einflussmöglichkeiten auf höhere
Unternehmensebenen.
„In Anbetracht einer angestrebten Ambulantisierung der
medizinischen Versorgung in Deutschland werden MVZ als Teil
der ambulanten Versorgung von wachsender Bedeutung sein“,
schreiben Schöneberg und Vitols. Die Entwicklung hänge stark
von rechtlichen Rahmenbedingungen und gesundheitspolitischen
Entscheidungen ab. Insgesamt sei aber mit einem weiteren
Wachstum der MVZ und auch der Zahl der Beschäftigten zu
rechnen. Angesichts der zunehmenden Belastungen komme der
Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Vergütung eine
besondere Bedeutung zu, um neues Personal zu gewinnen und
der Abwanderung von Fachkräften entgegenzuwirken.
*Katharina Schöneberg, Katrin Vitols Working Paper der
Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 288, Mai
2023
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