Neue Studie
Düsseldorf/Duisburg, 24. Juni 2023 - Nachdem die
Arbeitskosten im ersten und insbesondere dem zweiten
Corona-Jahr in Deutschland und den meisten EU-Ländern
lediglich langsam gestiegen waren, haben sie sich 2022
deutlich stärker erhöht. Im Zuge von Energiepreisschocks und
sehr starker Inflation waren europaweit die größten Zuwächse
seit Beginn der 2000er Jahre zu verzeichnen. So stiegen die
Arbeitskosten je Arbeitsstunde in der Privatwirtschaft in
Deutschland um jahresdurchschnittlich 6,4 Prozent. Dabei
fiel die Zunahme im Dienstleistungsbereich, der traditionell
vergleichsweise niedrige Arbeitskosten hat, deutlich stärker
aus als in der Industrie.
Dazu hat auch die Mindestlohnerhöhung beigetragen, durch die
gleichzeitig der Niedriglohnsektor in Deutschland
geschrumpft ist. In der EU legten die Arbeitskosten um 5,4
Prozent zu und im Euroraum um 5,0 Prozent. Gleichzeitig
erlitten die Beschäftigten europaweit im Durchschnitt
Reallohnverluste, während viele große Unternehmen mit hohen
Gewinnen abschlossen.
Mit Arbeitskosten von 40 Euro in der Privatwirtschaft
rangiert die Bundesrepublik weiterhin im oberen Mittelfeld
Westeuropas. 2022 erneut auf Position sechs unmittelbar vor
Österreich (detaillierte Daten unten und in einer Tabelle in
der pdf-Version dieser PM; Link unten). Das zeigt der neue
Report des Instituts für Makroökonomie und
Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung zu den
Arbeits- und Lohnstückkosten.*
„Wir durchlaufen eine Phase der wirtschaftlichen
Zuspitzungen, und die haben 2022 wie wenige andere Jahre
geprägt“, sagt Prof. Dr. Sebastian Dullien, der
wissenschaftliche Direktor des IMK. „Schmerzhafte
Reallohnverluste, deutlich höhere Arbeitskosten, brüchige
Lieferketten, wachsende Dividenden bei vielen Dax-Konzernen
und ein stabiler Arbeitsmarkt – alles in einem Jahr. So
verwirrend und teilweise beunruhigend das Bild wirkt, können
wir bislang ein relativ positives Zwischenfazit ziehen: Die
meisten europäischen Länder und insbesondere Deutschland
sind bislang recht stabil durch diese Krise gekommen und
außenwirtschaftlich weiterhin sehr wettbewerbsfähig.
Im laufenden Jahr müssen wir zwar mit einer leichten
Schrumpfung beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) rechnen. Aber
angesichts der großen Belastungen wäre viel Schlimmeres
möglich gewesen.“
Der Ökonom führt das neben einer funktionierenden
Sozialpartnerschaft auch auf die Anti-Krisen-Politik der
Bundesregierung zurück. „Sie hat die Energieversorgung
abgesichert und Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen
an wichtigen Stellen entlastet. Jetzt ist es wichtig, dass
sie diesen Kurs fortsetzt – mit einer Verlängerung der
Energiepreisbremsen bis ins nächste Frühjahr ebenso wie etwa
mit der Initiative für einen Industriestrompreis zur
Standortsicherung in der Transformation.“
Mittelfristige Stabilität bei kurzfristigen Ausschlägen hat
nach der neuen Analyse des IMK auch die Entwicklung der
Lohnstückkosten geprägt. Diese sind 2022 in Deutschland zwar
um 3,8 Prozent gestiegen und damit etwas stärker als im
Euroraum (3,3 Prozent). „Ein Grund zur Sorge ist das dennoch
nicht“, betonen Dr. Ulrike Stein und Prof. Dr Alexander
Herzog-Stein, die die neue Studie verfasst haben. „Die
deutsche Wettbewerbsposition ist weiter unverändert.“
So stiegen die deutschen Lohnstückkosten im Durchschnitt der
vergangenen drei Jahre um jährlich 2,4 Prozent, und damit
langsamer als im Euroraum insgesamt (2,5 Prozent). Auf die
längere Frist gesehen liegt die Lohnstückkostenentwicklung
der deutschen Wirtschaft sogar trotz der Beschleunigung 2022
weiterhin deutlich unterhalb der Zielinflation der
Europäischen Zentralbank (Details unten). Zudem hätten auch
viele außereuropäische Wettbewerber 2022 erhebliche
Steigerungen bei den Lohnstückkosten verzeichnet.
Ein weiteres Indiz ist für die Forschenden die
Leistungsbilanz der Bundesrepublik: Sie wies im vergangenen
Jahr trotz aller Preisschocks bei Energie- und anderen
Importen einen erheblichen Überschuss von vier Prozent des
BIP auf. In diesem und im kommenden Jahr dürfte der
Überschuss mit fallenden Energiepreisen wieder zunehmen. Die
EU-Kommission ordnet Leistungsbilanzüberschüsse ab sechs
Prozent als problematisch hoch ein.
Detaillierte Ergebnisse der neuen Studie
Arbeitskosten: Unverändert Position sechs in der EU Zu den
Arbeitskosten zählen neben dem Bruttolohn die
Arbeitgeberanteile an den Sozialbeiträgen, Aufwendungen für
Aus- und Weiterbildung sowie als Arbeitskosten geltende
Steuern. Das IMK nutzt für seine Studie die neuesten
verfügbaren Zahlen der europäischen Statistikbehörde
Eurostat. Diese hat ihre Statistik zuletzt auf eine neue
Berechnungsgrundlage umgestellt, was das Niveau der
EU-Arbeitskosten erhöht, aber nicht die Entwicklungsraten.
Da Eurostat auch für das Jahr 2021 revidiert hat, sind die
Daten aus dem IMK-Arbeitskostenreport 2021 nicht mehr
relevant. Die Arbeitskosten in der deutschen
Privatwirtschaft sind 2022 nominal um 6,4 Prozent gestiegen,
nach nur 1,3 Prozent 2021. Mit Arbeitskosten von 40,00 Euro
pro Stunde lag Deutschland 2022 an sechster Stelle unter den
EU-Ländern hinter Luxemburg, Dänemark, Belgien, Schweden und
Frankreich (Arbeitskosten dort zwischen 50,40 und 41,10
Euro; siehe auch Tabelle 1 in der Studie sowie im Anhang).
Mit nur geringfügig niedrigeren Arbeitskosten als
Deutschland folgen Österreich mit aktuell 39,30 Euro und die
Niederlande mit 39,10 Euro pro Stunde. Der Durchschnitt des
Euroraums beträgt 34,10 Euro. Italien weist mit 28,40 Euro
die höchsten Arbeitskosten in Südeuropa auf, liegt aber nach
wie vor im Jahr 2022 spürbar unter dem EU-Mittel von 30,20
Euro. In den übrigen südlichen EU-Staaten betragen die
Arbeitskosten zwischen 22,90 Euro (Spanien) und 15,20 Euro
(Griechenland). Die „alten“ EU-Länder Portugal und
Griechenland liegen mittlerweile zum Teil deutlich hinter
osteuropäischen EU-Staaten wie Slowenien (23,50 Euro),
Estland (16,60 Euro), der Tschechischen Republik (16,20
Euro) oder der Slowakei (15,70 Euro).
In den übrigen baltischen Staaten, Polen, Kroatien und
Ungarn betragen die Stundenwerte zwischen 13,20 und 11,10
Euro. Schlusslichter sind Rumänien und Bulgarien mit
Arbeitskosten von 9,30 bzw. 8,00 Euro pro Stunde, allerdings
bei überdurchschnittlichen Zuwächsen von 14,2 und 16,7
Prozent im vergangenen Jahr. Arbeitskosten bei Industrie und
Dienstleistungen Im Verarbeitenden Gewerbe betrugen 2022 die
Arbeitskosten in Deutschland 44,00 Euro pro Arbeitsstunde.
Im EU-Vergleich rangiert die Bundesrepublik damit wie im
Vorjahr auf Position vier als Teil einer größeren Gruppe von
Industrieländern, die deutlich über dem
Euroraum-Durchschnitt von 36,20 Euro liegen. Dazu zählen
auch Dänemark mit industriellen Arbeitskosten von 49,80
Euro, Belgien (46,30 Euro), Schweden (44,80 Euro) sowie
Österreich und Luxemburg (je 43,00 Euro), Frankreich (42,90
Euro), die Niederlande (42,80 Euro) und Finnland (40,10
Euro).
Dabei ist nicht berücksichtigt, dass das Verarbeitende
Gewerbe in der Bundesrepublik vergleichsweise stark von
günstigeren Vorleistungen aus dem Dienstleistungsbereich
profitiert – auch wenn es im vergangenen Jahr eine gewisse
Annäherung gab. 2022 stiegen die industriellen Arbeitskosten
in Deutschland um 4,5 Prozent. Das war etwas schwächer als
im Durchschnitt der EU (4,8 Prozent) und leicht stärker als
im Euroraum (4,3 Prozent). Im privaten Dienstleistungssektor
lagen die deutschen Arbeitskosten 2022 mit 38,00 Euro an
sechster Stelle nach Luxemburg, Dänemark Schweden, Belgien
und Frankreich, wo die Stundenwerte zwischen 55,30 Euro und
40,70 Euro lagen.
Auch bei den Dienstleistungen folgten die Niederlande (37,80
Euro) und Österreich (37,40 Euro) sehr nah auf die
Bundesrepublik, 2021 hatten sie leicht vor bzw. gleichauf
mit Deutschland gelegen. Der Durchschnitt im Euroraum betrug
33,30 Euro, in der gesamten EU 30,20 Euro. 2022 stiegen die
Arbeitskosten im deutschen Dienstleistungssektor um 7,2
Prozent. Damit lag der Zuwachs spürbar über dem Durchschnitt
in der EU (5,5 Prozent) und im Euroraum (5,2 Prozent).
Ein wichtiger Grund für die ungewöhnlich starke Zunahme
hierzulande dürfte die Mindestlohnanhebung auf 12 Euro
gewesen sein. „Das ist eine positive Entwicklung, da
Deutschland nach wie vor den höchsten Lohnabstand zwischen
Verarbeitendem Gewerbe und Dienstleistungssektor aufweist“,
schreiben Stein und Herzog-Stein. Durch die Erhöhung wurden
Beschäftigte mit niedrigen Entgelten nach einer IMK-Studie
vor Kaufkraftverlusten bewahrt, laut Daten des Statistischen
Bundesamtes ist der in Deutschland seit Jahren recht große
Niedriglohnsektor dadurch deutlich kleiner geworden.
Lohnstückkostenentwicklung
Langfristig 6,2 Prozentpunkte unter dem Mittel des Euroraums
Bei den Lohnstückkosten, die die Arbeitskosten ins
Verhältnis zum Produktivitätsfortschritt setzen, weist
Deutschland trotz der stärkeren Steigerung 2022
längerfristig weiterhin eine moderate Tendenz auf. Der Blick
auf den mehrjährigen Trend ist nach Analyse der
IMK-Ökonom*innen am aussagekräftigsten, um die Entwicklung
der gesamtwirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit zu
beurteilen.
Die deutschen Lohnstückkosten sind seit der
Jahrtausendwende, als die Bundesrepublik letztmalig eine
fast ausgeglichene Leistungsbilanz aufwies (seitdem immer
Überschüsse), im Jahresmittel um lediglich 1,4 Prozent
gewachsen. Das ist schwächer als in den anderen großen
Mitgliedsstaaten des Euroraums und weitaus weniger als mit
dem Inflationsziel der EZB von 2,0 Prozent vereinbar gewesen
wäre. Die langfristige deutsche Lohnstückkostenentwicklung
seit der Jahrtausendwende lag Ende 2022 laut IMK immer noch
um kumuliert 6,2 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt des
Euroraums.
Während man die in den letzten Jahren dynamischere
Entwicklung in Deutschland somit als Teil eines
Normalisierungsprozesses verstehen könne, raten Stein und
Herzog-Stein, die Lohnstückkostenentwicklungen in der
Eurozone im Auge zu behalten. So lägen sie beispielsweise in
den baltischen Staaten mit durchschnittlichen jährlichen
Anstiegen zwischen knapp sechs und gut acht Prozent über die
vergangenen drei Jahre weit über dem Inflationsziel der EZB.
Anhaltend divergierende Lohnstückkostenentwicklungen könnten
zu neuen Ungleichgewichten im Euroraum führen, wie sie vor
knapp zwei Jahrzehnten zur Eurokrise beigetragen haben,
warnen die Forschenden. Und es könnte weitere Zinserhöhungen
der Zentralbank provozieren, die auch die Konjunktur in den
übrigen Euroländern treffen würden.
*Alexander Herzog-Stein, Ulrike Stein Arbeits- und
Lohnstückkostenentwicklung 2022: Energiepreisschocks führen
zu steigenden Arbeitskosten bei fallenden Reallöhnen. IMK
Report Nr. 183, Juni 2023
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