Neue
Analyse
Düseldorf/Duisburg, 8. Juni 2023 - Die Europäische
Zentralbank (EZB) fährt einen riskanten Kurs. Um die
Inflation einzudämmen, hat sie die Leitzinsen mehrfach
deutlich erhöht und weitere Zinsschritte in Aussicht
gestellt. Das gefährdet Konjunktur, Beschäftigung und
Klimaziele – und es ist aktuell angesichts der Trends bei
der Preisentwicklung unnötig, ergibt eine neue Studie des
Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK).
Spätestens im Laufe des nächsten Jahres dürfte die
Inflationsrate wieder nahe der EZB-Zielinflation von zwei
Prozent liegen.
Die Aufgabe ist äußerst schwierig: Einerseits muss die EZB
verhindern, dass sich die Inflation auf einem überhöhten
Niveau verfestigt. Andererseits besteht die Gefahr, dass die
Wirtschaft einbricht, wenn die Notenbank zu stark
gegensteuert. Eine besonnene Geldpolitik ist jetzt besonders
wichtig, heißt es in der Analyse von Dr. Silke Tober und Dr.
Thomas Theobald vom IMK. Nach dem Angriff Russlands auf die
Ukraine stiegen die Energie- und Lebensmittelpreise stark an
– in einer Situation, in der sich die europäische Wirtschaft
noch nicht vollständig von vorangegangenen Krisen erholt
hatte. Der Preisschock ließ die Inflationsrate im Euroraum
in die Höhe schnellen. Die EZB reagierte darauf zunächst mit
Bedacht, dann entschlossen mit mehreren Zinserhöhungen in
Folge.
Normalerweise wirken Preisschocks nur vorübergehend als
Inflationstreiber. Energie und Nahrungsmittel sind in
jüngster Zeit tatsächlich nicht mehr teurer geworden und
teilweise sogar billiger. Doch die sogenannte Kerninflation,
bei deren Berechnung die stark schwankenden Energie- und
Nahrungsmittelpreise ausgeklammert werden, ist bisher kaum
zurückgegangen. Hat sich die hohe Inflation in Europa also
bereits verfestigt?
Nein, analysieren Tober und Theobald: „Aktuell befinden wir
uns durch die Pandemie, den Ukrainekrieg und die einsetzende
neue Blockbildung in der Weltwirtschaft in einer sehr
außergewöhnlichen Situation.“ Die Kerninflation sei derzeit
infolge des historischen Ausmaßes der Preisschocks und der
Tatsache, dass teurere Energie die Preise nahezu aller Güter
und Dienstleistungen erhöht, als Maß für die mittelfristige
Inflationsentwicklung weniger aussagekräftig. Mehrere
Faktoren tragen dazu bei, dass die Inflation derzeit noch
sehr hoch ist.
Zum einen dauert es einige Zeit, bis sinkende Preise für
Rohstoffe über oft komplexe Herstellungsprozesse in
Endprodukten und bei Verbraucherinnen und Verbrauchern
ankommen. Zum zweiten verringern sich die Lieferengpässe in
einigen Bereichen nur langsam und erlauben es Unternehmen,
die Preise zu erhöhen und ihre Gewinnmargen zu steigern.
Auch die Preisschocks selbst haben Gewinnmitnahmen
ermöglicht.
Eine mögliche Gefahr stellen grundsätzlich sogenannte
Zweitrundeneffekte dar, die dazu führen, dass die Inflation
über einen längeren Zeitraum hoch bleibt. Gelingt es
beispielsweise den Beschäftigten, Lohnerhöhungen
durchzusetzen, die die starke Inflation zumindest in
wesentlichen Teilen ausgleichen, steigen die
Produktionskosten, was neuen Preisdruck schafft. Nach der
jüngsten Prognose der EZB dürften die Löhne im Euroraum in
diesem Jahr um 5,3 Prozent und im kommenden Jahr um 4,4
Prozent steigen. Das sei aber noch unproblematisch, so das
IMK.
Der „Lohndruck“ habe zwar zugenommen, dürfte sich aber nicht
fortsetzen, schreiben Tober und Theobald. Der Grund ist,
dass sinkende Energiepreise und schrumpfende Gewinne in
Bereichen, in denen sich Engpässe auflösten, das „leichte
Überschießen“ der Löhne im Euroraum ausgleichen dürften.
Zudem enthielten die Lohnabschlüsse häufig Einmalzahlungen,
die nicht dauerhaft wirken. In Deutschland sorgt zudem die
steuer- und abgabenfreie Ausgestaltung der
Inflationsausgleichsprämie dafür, dass der
Arbeitskostenanstieg unterhalb des Nettoeinkommensanstiegs
der Beschäftigten bleibt.
Für die EZB bestehe aktuell kein Handlungsdruck, analysieren
die Forschenden. „Sofern es im Euroraum keine
gesamtwirtschaftliche Überauslastung der Kapazitäten gibt,
die übermäßige Gewinn- und Lohnsteigerungen auch nach
Auflösung der Preisschocks und der Lieferengpässe erlauben,
ist eine geldpolitische Restriktion mit dem Ziel einer
Reduzierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und eine
dadurch induzierte Erhöhung der Arbeitslosigkeit nicht
erforderlich.“
Es sei ratsam, die Wirkung der bisherigen Zinserhöhungen
abzuwarten, da diese erst mit Verzögerung einsetze.
Spätestens im Laufe des nächsten Jahres dürfte die
Inflationsrate wieder nahe der Zwei-Prozent-Marke liegen.
Sollte es die Zentralbank hingegen mit einer weiteren
Straffung der Geldpolitik übertreiben, droht dem Euroraum
die nächste Krise: Die Turbulenzen an den Finanzmärkten nach
der Insolvenz der Silicon Valley Bank in den USA und der
Schieflage der Credit Suisse in der Schweiz hätten bereits
die Risiken für den internationalen Bankensektor aufgezeigt,
die zu einer Verknappung der Kreditvergabe führen könnten.
Das ohnehin schwache Wachstum würde zusätzlich gedämpft. Und
auch kapitalintensive Investitionen, die notwendig sind, um
die klimapolitischen Ziele der EU zu erreichen, würden
gebremst, schreiben Tober und Theobald. Auch dies müsse die
EZB im Auge behalten – als Institution der EU ist auch sie
dem Pariser Abkommen verpflichtet.
zum IMK Report Nr. 181 ›
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