Neue Befragungsergebnisse
Düsseldorf/Duisburg,
14. September 2023 - Die Sorgen um ein Auseinanderdriften
der Gesellschaft in Deutschland haben im Sommer 2023 einen
neuen Höchststand erreicht. Im Juli gaben 48 Prozent der
Erwerbspersonen an, sich große Sorgen um den sozialen
Zusammenhalt zu machen. Das waren mehr als zu jedem anderen
Zeitpunkt seit Beginn der durch den russischen Überfall auf
die Ukraine ausgelösten Krise oder während der
Corona-Pandemie (Details unten).
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Der Anteil der Erwerbspersonen, die sich große Sorgen machen
wegen steigender Preise, um die allgemeine wirtschaftliche
Situation, oder ihre persönliche finanzielle Lage, ist
gegenüber November 2022 leicht gesunken. Allerdings bleibt
insbesondere die wirtschaftliche Belastung weiter auf hohem
Niveau, und die Quote der Betroffenen wächst bei Personen
mit niedrigen Einkommen gegen den Gesamttrend leicht. So
berichteten zuletzt 52 Prozent der Erwerbspersonen mit einem
niedrigen bedarfsgewichteten Haushaltseinkommen unter 1500
Euro monatlich von starken oder gar äußersten finanziellen
Belastungen, während es im November 2022 noch 50 Prozent und
kurz vor Beginn des Ukraine-Krieges 41 Prozent waren.
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Das Vertrauen in die Bundesregierung ist zuletzt noch einmal
leicht gesunken: 14 Prozent der Erwerbspersonen gaben im
Juli an, großes oder sehr großes Vertrauen in die Regierung
zu haben, nach 15 Prozent im November. 53 Prozent gaben im
Juli an, sie hätten wenig oder überhaupt kein Vertrauen in
die Regierung, nach 48 Prozent im November 2022. Das ergibt
die neueste Welle der Erwerbspersonenbefragung der
Hans-Böckler-Stiftung, für die im Juli gut 5000
erwerbstätige und arbeitsuchende Personen befragt wurden.
Die Panel-Befragung läuft seit dem Frühjahr 2020, so dass
sich Entwicklungen im Zeitverlauf ablesen lassen (mehr zur
Methode unten).
„Wir sehen eine Stabilisierung der finanziellen und
wirtschaftlichen Sorgen und Belastungen auf hohem Niveau.
Diese sind bislang nicht auf das Niveau von vor der
Ukraine-Krise zurückgegangen. Der Anstieg in Folge des
Krieges war also nicht nur eine kurzfristige Reaktion,
sondern spiegelt eine reale und dauerhafte Belastung – vor
allem in den unteren und teilweise mittleren
Einkommensgruppen – wider“, ordnet Prof. Dr. Bettina
Kohlrausch die neuen Befunde ein. Die wissenschaftliche
Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung wertet die
Befragung zusammen mit den WSI-Forschern Dr. Andreas
Hövermann und Dr. Helge Emmler aus.
„Insofern ist es gut, dass das Bürgergeld nun entsprechend
der Inflation erhöht wird. Und es ist sicherlich ein Fehler,
dass es beim Mindestlohn Anfang kommenden Jahres nur eine
kleine Erhöhung geben wird“, sagt die WSI-Direktorin. Die
Daten sprächen auch dafür, „dass sich die finanziellen
Belastungen auch in Vertrauensverlusten niederschlagen“, so
Kohlrausch: Befragte, die sich etwa große Sorgen um die
allgemeine oder individuelle wirtschaftliche Lage oder um
ihren Arbeitsplatz machen, äußern weit überdurchschnittlich
häufig, sie hätten geringes oder kein Vertrauen in die
Bundesregierung.
Es sei zwar verkürzt, daraus
monokausale Erklärungen zu konstruieren, „denn die
Entfremdung zwischen einem Teil der Bürgerinnen und Bürger
und staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen hat
sicherlich nicht erst mit der Energiekrise und den
Preissprüngen begonnen. Dennoch haben die daraus
resultierenden Belastungen das Potenzial, diese Entfremdung
weiter zu verstärken und zu verfestigen“, warnt die
Wissenschaftlerin.
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Sorgen: Aktuell machen sich 48 Prozent der
Befragten große Sorgen um den sozialen Zusammenhalt der
Gesellschaft. Das ist ein Anstieg um vier Prozentpunkte
gegenüber dem November 2022. Besonders frappierend fällt die
Sorge um den sozialen Zusammenhalt in der längerfristigen
Perspektive aus: Im April 2020, auf dem ersten Höhepunkt der
Corona-Pandemie, lag der Anteil der stark Besorgten etwa
halb so hoch, bei 23 Prozent. „Das unterstreicht, dass ein
erheblicher Teil der Menschen die gut drei Jahre seit Beginn
der Pandemie als Dauerkrise wahrnimmt, die sie und die
Gesellschaft auslaugen“, sagt Bettina Kohlrausch. „Es gibt
zwischenzeitlich mal eine leichte Entspannung, aber bislang
kein Ende.“
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Dazu passt, dass sich die Sorgen um die allgemeine
wirtschaftliche Entwicklung, die Entwicklung der sozialen
Ungleichheit und die eigene finanzielle Lage in der
Befragung auf hohem Niveau zu stabilisieren scheinen: Knapp
ein Drittel der Befragten machte sich im Juli große Sorgen
darüber, dass sie ihren Lebensstandard nicht dauerhaft
werden halten können, knapp 40 Prozent sind sehr besorgt um
ihre Altersabsicherung
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Der Effekt der hohen Inflation ist zuletzt zwar leicht
rückläufig, aber immer noch sehr weit verbreitet: 51 Prozent
der Befragten machen sich deswegen große Sorgen, nach 56
Prozent im November. Auch die Quote, der um die eigene
wirtschaftliche Situation stark Besorgten, war zuletzt etwas
niedriger als im November (24 vs. 28 Prozent), ist aber
immer noch deutlich höher als vor Ausbruch des
Ukraine-Krieges.
Deutliche Unterschiede zeigen sich bei einer verfeinerten
Betrachtung nach Einkommen: Befragte mit
niedrigen Einkommen berichten nicht nur am häufigsten von
Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation, in dieser Gruppe
stiegen die meisten Sorgen mit finanziellem Bezug (steigende
Preise, allgemeine wirtschaftliche Situation) auch zuletzt
weiter an – gegen den allgemeinen Trend.
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Belastungen: Ähnlich sieht das Muster für die
wahrgenommene finanzielle Belastung aus. Schaut man auf alle
Befragten, ist der Anteil derer, die äußerst und stark
belastet sind, gegenüber dem Rekordhoch im November 2022
leicht zurückgegangen, liegt aber immer noch etwas über dem
Wert zu Pandemiebeginn.
(
Gegen diesen Trend sind die
finanziellen Belastungen insbesondere bei den
Einkommensärmsten zuletzt weiter angestiegen, während sie
bei den Befragten mit höheren Einkommen zurückgehen und in
der Mitte auf erhöhtem Niveau eher stagnieren (Abbildung 4).
Andere abgefragte Belastungen haben sich zuletzt auf
mittlerem bis niedrigerem Niveau stabilisiert (Abbildung 3).
Das gilt etwa für Belastungen durch
die familiäre Situation oder die Arbeitssituation. Auffällig
ist, dass die Belastungen der Frauen weiterhin teilweise
deutlich über denen der Männer liegen. Trotz teilweise
erheblicher Belastungsrückgänge geht dies, wie auch in den
Erhebungswellen zuvor, insbesondere auf die erhöhten
Belastungswerte von Müttern zurück.
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Vertrauen in Institutionen: Für viele staatliche oder
gesellschaftliche Institutionen wie Polizei, Justiz,
Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände oder
öffentlich-rechtliche Medien zeigen sich zwischen November
2022 und Juli 2023 eher unauffällige, stabilisierende
Entwicklungen (Abbildung 5 in der pdf-Version). Eine
Ausnahme stellt die Bundesregierung dar, die weiter an
Vertrauen einbüßt. Gegenüber November hat sich im Juli der
bereits geringe Anteil, der der Bundesregierung explizit
großes oder sehr großes Vertrauen entgegenbringt, noch
einmal geringfügig reduziert – von 15 auf 14 Prozent.
Gleichzeitig stieg der Anteil derjenigen, die wenig oder
überhaupt kein Vertrauen in die Bundesregierung äußern, auf
mittlerweile mehr als die Hälfte der Befragten an.
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Das Vertrauen in die Bundesregierung korreliert dabei mit der
Einkommenssituation und den wahrgenommenen Belastungen:
Während 62 Prozent der Befragten mit einem niedrigen
Nettoäquivalenzeinkommen von unter 1.500 Euro im Monat
angaben, wenig oder überhaupt kein Vertrauen in die
Bundesregierung zu haben, waren es 44 Prozent bei Personen
mit einem höheren gewichteten Nettoeinkommen von über 3.500
Euro. Besonders gering ist das Vertrauen in die
Bundesregierung unter Erwerbspersonen mit niedrigem
Einkommen im Osten Deutschlands. Von ihnen äußerten im Juli
70 Prozent wenig oder überhaupt kein Vertrauen in die
Bundesregierung – im Westen lag der Wert bei 61 Prozent.
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Generell zeigen sich deutliche Unterschiede im
Institutionenvertrauen zwischen Befragten in Ost- und
Westdeutschland (Abbildung 6): Ob in Gerichte, Polizei,
Bundeswehr, öffentlich-rechtliche Medien, Gewerkschaften
oder Arbeitgeberverbände – der Anteil der Befragten in
Ostdeutschland, der großes oder sehr großes Vertrauen
äußert, ist kleiner als in Westdeutschland. Besonders
deutlich wird dieser Vertrauensunterschied auch bezogen auf
die Bundesregierung: während im Juli in Westdeutschland 14
Prozent der Bundesregierung hohes oder sehr hohes Vertrauen
entgegenbrachten, waren es in Ostdeutschland nur 8 Prozent.
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Lediglich der „Partei, die ich wähle“ bringen Befragte im
Osten ähnlich großes oder sehr großes Vertrauen entgegen wie
Befragte im Westen (43 vs. 42 Prozent). Auch Wählerinnen und
Wähler der AfD äußern ein im Vergleich
unterdurchschnittliches Vertrauen in staatliche und
gesellschaftliche Institutionen. Das gilt für Polizei,
Gerichte, Bundeswehr, öffentlich-rechtliche Medien,
Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften.
Besonders gering verbreitet ist das Vertrauen unter
AfD-Wählenden in die Bundesregierung – gerade einmal 2,8
Prozent gaben an, sie hätten großes oder sehr großes
Vertrauen. Lediglich der „Partei, die ich wähle“ bringen
AfD-Wähler*innen etwas häufiger großes oder sehr großes
Vertrauen entgegen als der Durchschnitt der Wähler*innen.
Unter Wähler*innen der Grünen ist das Vertrauen in die
gewählte Partei noch deutlich größer, unter SPD-Wählenden
auf ähnlichem Niveau wie bei der AfD.
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Informationen zur Methode
Für die neue Welle der Erwerbspersonenbefragung wurden im
Juli 2023 insgesamt 5029 Erwerbstätige und Arbeitsuchende
von Kantar Deutschland online zu ihrer Lebenssituation
befragt. Der überwiegende Teil dieser Personen wurde bereits
im April, Juni und November 2020, im Januar, Juli und
Oktober 2021 sowie im Januar, April und November 2022
kontaktiert, um an der Panelstudie teilzunehmen.
Die Befragten bilden die Erwerbspersonen in Deutschland im
Hinblick auf die Merkmale Geschlecht, Alter, Bildung und
Bundesland repräsentativ ab. Durch die Panelstruktur lassen
sich Veränderungen im Zeitverlauf herausarbeiten.
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