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'Licht im Dunkel'
Die Welt mit ‚Fingern sehen‘

Stephan Sadowski

Duisburg, 27. November 2014 - Es sind die Außenseiter im Leben, die Nicht-Normalen, die im Schauspiel das Publikum fesseln: Dustin Hofmann sahnte für die Rolle eines Autisten in „Rainman“ 1988 einen Oscar ab und Leonardo di Caprio wurde für die Nebenrolle des Arnie Grape, als geistig behinderter Bruder von Johnny Depp, in dem Familendrama „Irgendwo in Iowa“ zumindest für den höchsten Filmpreis nominiert. Es sind Charaktere, die die Herzen der Zuschauer eroberten.

Die Seele des Publikums traf Laia Sanmartin mit ihrem Auftritt in dem Theaterstück „Licht  im Dunkel“ von William Gibson, das unter der Regie von Volker Hesse in der Homberger Glückaufhalle aufgeführt wurde. Die junge Schauspielerin lebt die Rolle der Helen Keller, die weder hört noch sieht, natürlich nicht sprechen kann - also wie ein „Wolfskind“ in einer Welt völlig im Dunkeln lebt.

Die 300 Zuschauer sind überwältigt, wie Laia Sanmartin dieses junge Mädchen verkörpert: Mit flimmernden Wimpern und halb verdrehten Pupillen, weit ausgestreckten Armen, die Halt suchend in die Richtung schwenken, in die sich ihr ständig schwankender Körper bewegt – es ist einfach beeindruckend zu sehen, wie die Hauptdarstellerin die vollkommene Orientierungslosigkeit expressiv darstellt. Die Zuschauer rufen schon „Stopp“, wenn sich die Akteurin an den Rand der Bühne tastet – allein, sie hört es nicht.

Emotional aufgefangen wird Helen zwar von den Eltern Kate Keller (Übermutter: Magdalena Artelt) und Captain Keller (Patriarch: Uwe Zerwer) – nur die beiden haben dem hilflosen Mädchen rein gar keine Manieren beigebracht – und so räumt Helen in dem pittoresken Südstaaten-Landhaus so ziemlich alles ab, was auf der Bühne herumsteht: Tische und Stühle kippen, Essensreste fliegen ins Gesicht der Darsteller. Das vollkommene Chaos herrscht, als die neue Erzieherin Annie Sullivan  (gestreng: Birge Schade) ankommt und dem nur nach Emotionen agierendem Kind versucht die Taubblindensprache beizubringen.

Dabei setzt sie auf Abnabelung von den Eltern und „vollkommene Kontrolle über Helen“. Nach dem Try-and-Error-Prinzip gelingt das auch irgendwie, aber dabei entstehen so schöne emotionale Momente der Hass-Liebe zwischen den beiden, die schon fast  an Figuren des Tanztheaters erinnern, wenn sich Helen und Annie zu wilder Musik über den Boden wälzen, während Helens Halbbruder James (tolle Blues-Stimme: Daniel Heck) desinteressiert den Nirvana-Klassiker „My Girl“ mit der Klampfe dazu trällert.

Das Publikum kommt aus dem Staunen nicht heraus, als sich Laia Sanmartin in einem hohen Kleiderschrank nur mit  Schultern und Beine  gegen die Innenwand in die Höhe drückt und oben an der  Kleiderstange eine „Rolle rückwärts“ dreht und wie ein Klammeräffchen nach unten purzelt. Ergreifendster Moment sicherlich: Helen versteht, dass sie imstande ist zu lernen, als sie ihre Hand in die von Erzieherin Anne legt und die Taubblindensprache ertastet und von nun ab, die Welt mit anderen Fingern sieht...

Es gab drei Vorhänge für die Darsteller, die Zuschauer stampften mit den Beinen besonders für das Oscar-verdächtige Spiel von Laia Sanmartin  - und die Hauptakteurin öffnete endlich ihre Augen und hörte den Beifall. Nur schade, dass zeitgleich ein anderes Stück in der Rheinhausenhalle lief.

Das Stück spielt kurz nach den Sezessionskriegen in Alabama und beruht auf der wahren Geschichte von Helen Keller und Blindenlehrerin Annie Sullivan, die eine innige Beziehung verband. Annie Sullivan hatte  ihre Lebensaufgabe als Lehrerin gefunden: „Ich weiß, dass Helen erstaunliche Kräfte hat und ich glaube, dass ich diese freisetzen kann“, schrieb sie in einem  Brief. Helen feierte den 3. März, den Tag  als Annie 1887 zu den Kellers kam, als „Geburtstag meiner Seele“. Helen starb 1968.