Düsseldorf/Duisburg, 15. Juni 2021 - Gerade
in den Sommerferien werden junge Frauen und
Männer immer wieder Opfer von sogenannten
„Ferienverheiratungen“. Deshalb ist es Ziel
der Kampagne, die breite Öffentlichkeit
aufzuklären sowie über bestehende Hilfe- und
Unterstützungsangebote zu informieren. Mit
Plakaten und einem Spot im Fahrgast-TV in
Bussen und Bahnen des Öffentlichen
Personennahverkehrs, der Verteilung von
Informationsmaterialen in Schulen und
Veröffentlichungen in den Sozialen Medien
will das Ministerium für das Thema
sensibilisieren.
„Viele junge Frauen und Männer freuen sich
in diesen Tagen auf Sommer und Sonne. Bei
einigen endet der Urlaub allerdings in einer
Zwangsehe. Das ist zutiefst
menschenverachtend. Immer wieder kehren
junge Menschen nicht aus dem Sommerurlaub
nach Deutschland zurück, weil sie in den
Herkunftsländern ihrer Familien gegen ihren
Willen zu einer Ehe gezwungen werden. Der
Urlaub endet für einige in einer
Albtraumhochzeit mit unabsehbaren Folgen.
Die eigene Lebensplanung wird
zunichtegemacht. Vor allem jungen Frauen
wird häufig die Rückkehr nach Deutschland in
ihre Schule, den Beruf oder das Studium
verwehrt. Wir wollen deshalb aufklären und
Hilfe bieten“, erklärt Ina Scharrenbach,
Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und
Gleichstellung des Landes
Nordrhein-Westfalen, zum Start der Kampagne.
In
insgesamt 23 Städten werden fast 1.700
Plakate in Bussen und Bahnen des
Öffentlichen Personennahverkehrs zu sehen
sein. Zudem wird auf fast 1 000 Monitoren
ein Kampagnenspot im Fahrgast-TV zu sehen
sein.
Nordrhein-Westfalen fördert seit vielen
Jahren zwei landesweit tätige
Fachberatungsstellen gegen Zwangsheirat
(„Mädchenhaus Bielefeld“ und „agisra e.V.“
in Köln) mit einem eigenen Projekt.
Zusammen erhielten beide
Fachberatungsstellen bis 2020 jährlich einen
Betrag von rund 258.000 Euro. Seit 2021
beträgt die Landesförderung insgesamt rund
275.700 Euro. Zur finanziellen Unterstützung
für den mit der Corona-Pandemie verbundenen
Mehraufwand hat die Landesregierung im
ersten Halbjahr 2021 zusätzlich einen
Zuschuss von 3.000 Euro pro Einrichtung
bewilligt.
Sylvia Krenzel, Leitung
der Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat
in Bielefeld: „Im Namen der
Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat
begrüße ich die Initiative der
Landesregierung, eine landesweite Kampagne
zum Thema Zwangsverheiratung und
Ferienverschleppung für ganz
Nordrhein-Westfalen durchzuführen. Das Thema
Zwangsverheiratung ist auch 2021 in der
Bevölkerung immer noch nicht allen bekannt,
so dass dieser Form der
Menschenrechtsverletzung und Gewalt nicht
immer adäquat begegnet werden kann. Eine
vielseitige Öffentlichkeitsarbeit wie diese
Kampagne bietet die Chance, sowohl
Betroffenen als auch potentiellen
Unterstützungspersonen den Zugang zu Hilfe
und Unterstützung zu erleichtern, um
Zwangsverheiratung und das damit verbundene
immense Leid zu verhindern.“
"Insgesamt verzeichnen beide
Beratungsstellen pro Jahr rund 200 Fälle von
Zwangsheirat. Im Zeitraum von 2017 bis 2020
wurden insgesamt 1 000 Fälle bei
gleichbleibender Tendenz beraten. Im Jahr
2021 haben beide landesgeförderten
Beratungsstellen bereits rund 100 Fälle
beraten“, sagt Ministerin Ina Scharrenbach.
Die drei häufigsten Herkunftsländer der
Familien der Mädchen und Frauen und jungen
Männer, die Kontakt zur Fachberatungsstelle
in Bielefeld aufgenommen haben, sind Syrien,
die Türkei und der Irak. Darüber hinaus gibt
es jedoch zahlreiche weitere
Herkunftsländer, aus denen Anfragen
erfolgten.
Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2020
(Stand: 31. Dezember 2020) bildet für den
Straftatbestand der Zwangsheirat (§ 237
StGB) das sogenannte „Hellfeld“ ab. 2020
wurden in Nordrhein-Westfalen 26 Fälle
strafrechtlich erfasst. Insgesamt 27 Opfer
waren von Zwangsheirat betroffen, davon
waren zwei Opfer männlich und 25 Opfer
weiblich. In 22 Fällen war das Opfer unter
21 Jahre alt, davon war eine Person männlich
und 21 Personen weiblich. Insgesamt sechs
Opfer gehörten der Altersgruppe von 14 bis
unter 16 Jahren an, davon waren eine Person
männlich, fünf Personen weiblich.
Der Altersgruppe 16 bis unter 18 Jahre alt
gehörten insgesamt neun weibliche Opfer an.
Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Anzahl
der bekannt gewordenen Fälle von
Zwangsheirat um 85,71 % (2019: 14 Fälle;
2020: 26 Fälle).
Ministerin Scharrenbach: „Es muss davon
ausgegangen werden, dass das Dunkelfeld um
ein Vielfaches höher liegt. Hier leisten die
Beratungsstellen unverzichtbare Arbeit. Für
die Betroffenen würde eine Anzeige bei der
Polizei den endgültigen Bruch mit der
eigenen Familie bedeuten, deshalb schrecken
die meisten vor diesem Schritt zurück. Vor
allem junge Menschen gehören zu den Opfern.
Deshalb wollen wir gerade sie auf dem Weg
zur und in den Schulen erreichen.“
Informationsmaterialien in Form von Flyern
und Plakaten werden rund 1 900 Schulen, der
Frauenunterstützungsinfrastruktur mit
insgesamt 188 landesgeförderten
Beratungseinrichtungen sowie der
Männerhilfeinfrastruktur zur Verfügung
gestellt. Ein Teil des Informationsmaterials
ist mehrsprachig in Englisch, Französisch,
Türkisch, Arabisch und Kurdisch erhältlich.
„Gerade jetzt findet Schule mehr denn je
digital statt. Social-Media und digitale
Informationen werden deshalb ebenfalls
intensiv für die Kampagne genutzt. Für viele
Schülerinnen und Schüler ist das eigene
Handy die einzige Möglichkeit, um sich
unbeobachtet informieren und mit Dritten
Kontakt aufnehmen zu können. Deshalb werden
wir auch Informationen in den Sozialen
Medien bereitstellen“, so Ministerin
Scharrenbach.
Der Kampagnenzeitraum geht vom 15. Juni 2021
bis zum 14. Juli 2021. Alle Informationen
zur Kampagne sowie Materialien zum
kostenlosen Download stehen auch nach Ende
des einmonatigen Kampagnenzeitraums auf
www.exit.nrw
zur Verfügung. Bereits im vergangenen Jahr
hatte die Landesregierung
Nordrhein-Westfalen Landesregierung eine
landesweite Aktion gegen Menschenhandel und
Zwangsprostitution unter dem Motto exit.nrw
initiiert.
Hintergrund:
Zwangsheirat ist eine
Menschenrechtsverletzung und in Deutschland
strafbar (§ 237 StGB). Mädchen und
junge Frauen, vereinzelt auch junge Männer,
die zumeist aus patriarchalisch geprägten
Familien stammen, werden durch physische
oder psychische Gewalt dazu gezwungen, eine
ungewollte Ehe einzugehen. Die Abgrenzung
zur arrangierten Ehe, die legal ist und
Traditionen entspricht, ist in der Realität
nicht immer einfach.
Das Themenfeld ist
komplex. Zwangsheiraten können auf
vielfältige Weise und nahezu überall auf der
Welt zustande kommen und sind unabhängig von
der Religionszugehörigkeit zu betrachten.
Für die Opfer sind die Auswirkungen häufig
schwerwiegend und reichen von psychischen
Auffälligkeiten wie Depression, Angst und
Essstörungen bis hin zur Suizidgefährdung
und selbstverletzendem Verhalten.
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