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Der Bücherwurm
Raniero Spahn

Duisburg, April 2015 - »Geschafft! Endlich! Er hat es geschafft!«
Gudruns Stimme hallte durch die kleine Seitenstraße. Sie stand am Ende dieser Sackgasse, vor ihrem Haus, und hielt triumphierend einen Arm gen Himmel. Die ersten Anwohner, durch die lauten Rufe von Gudrun Hüper neugierig geworden, traten vor ihre Haustüren, in dieser schmucken Siedlung.
»Morgen Abend wird gefeiert!« rief sie diesen überschwänglich zu, »alles Weitere folgt noch telefonisch! Betet mit uns und verhaltet Euch so, dass Petrus keinen Grund zur Klage hat. Wir wollen nämlich grillen.«

Nach diesen Worten trat Gudrun wieder ins Haus zurück. Die Anwohner der umliegenden Gebäude rieben sich verwundert die Augen. Was war geschehen? Hatten sie richtig gehört? Am kommenden Wochenende sollte gefeiert werden? Aus welchem Grunde denn? Man war es hier schon gewohnt, seitdem die ersten der kleinen Häuser in dieser Straße errichtet worden waren, dass es vornehmlich an den Wochenenden etwas zu feiern gab und man nie sehr lange nach einem Anlass zu suchen hatte; irgendeiner fand schon eine Begründung für ein lockeres Beisammensein unter Freunden. Im Normalfall jedoch wurden solche Einladungen zwar formlos, aber frühzeitig ausgesprochen und den Teilnehmern mündlich oder fernmündlich angekündigt und nicht wie in diesem Fall als Pauschaleinladung am Freitagnachmittag über die Straße gebrüllt. Na ja, Gudrun und ihr Mann Edgar galten als ausgesprochen gastfreundlich und waren auch für gewisse Schnellschüsse bekannt, doch diese Art überfallartiger Einladung hatte es zuvor noch nicht gegeben. Es musste irgendetwas geschehen sein, in ihrem persönlichen Umfeld, das eine derartig spontane Aktion ausgelöst hatte.

Ein Lottogewinn vielleicht, wurde gerätselt. Ein unvorhergesehener Karrieresprung in Form einer Beförderung von Edgar? Aber nein, man erinnerte sich, er war ja vor einigen Monaten in den Ruhestand getreten, in den vorzeitigen. War das eventuell der Grund für diese Fete, die Freude, nicht mehr die Hacke schwingen zu müssen? Aber dann wäre diese Einladung keine spontane Idee, und Gudrun hätte sie nicht in dieser Form über die Straße hinweg ausgesprochen resp. ausgerufen.

Am Abend des nächsten Tages fanden sie sich ein, die lieben Nachbarn, bei Gudrun und Edgar. Darüber hinaus hatten die Gastgeber noch einige Freunde und Verwandte geladen, die nicht in der kleinen Siedlung zu Hause waren. Petrus hatte in der Tat ein Einsehen gehabt, trotz der kurzfristigen Planung. Alle Gäste versammelten sich im Garten, wo Edgar am Grill hantierte, mit Unterstützung seiner beiden erwachsenen Kinder. Das Ehepaar hieß die Gäste willkommen und ließ alle an einer langen Tafel, die man unter einem Zeltdach errichtet hatte, Platz nehmen.

»Liebe Freunde«, begann Gudrun ihre kleine Ansprache, »wir danken Euch für das zahlreiche Erscheinen. Wie ich mit großem Vergnügen feststellen kann, haben alle, die wir geladen hatten, den Weg zu uns gefunden, ausnahmslos. Das ist natürlich ein Grund zur besonderen Freude. Doch einen noch größeren Grund zu einer, ich möchte fast sagen, hemmungslosen Freude hat mir mein Mann Edgar bereitet, vor einigen Tagen.«

Die Anwesenden blickten erstaunt zu Edgar hinüber. Das hörte sich ja gut an. Sie waren beide nicht mehr die Jüngsten, die Gastgeber; sie hatten die silberne Hochzeitsfeier bereits ein paar Jährchen hinter sich gebracht und sie hatten zwei erwachsene Kinder; wenn es da noch Grund zu hemmungsloser Freude gab, dachte sich manch einer der Gäste, Donnerwetter, so etwas sah man nicht alle Tage! Ist Gudrun gar schwanger? Der Gedanke wurde schnell verworfen, nein das konnte rein biologisch nicht sein.
»Mein lieber Mann hat mich derartig überrascht«, fuhr Gudrun fort, »dass ich einen Weinkrampf erlitt, einen Weinkrampf vor Freude!«

Einige der Männer blickten Edgar mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung an. Potzblitz, das hätten sie von ihm aber nicht vermutet, so bescheiden und zurückhaltend, wie er sich im Allgemeinen gab. Hatte er gar Viagra genommen, dieses bei den älteren Männern so beliebte Stimulanzmittel? Gudrun entgingen diese Blicke nicht.
»Nicht das, was ihr meint«, deutete sie richtig, »nein, nein. Darüber sind wir schon seit einiger Zeit hinaus. Nein, er hat mir eine solche Freude bereitet, dass ich es selbst heute, fünf Tage danach, noch nicht richtig fassen kann.«

Die Spannung unter den Geladenen erreichte den Höhepunkt. Was hatte er denn, verdammt noch einmal, dieser Kerl, so Außergewöhnliches veranstaltet, dass seine Frau derartig aus dem Häuschen war, und das noch fünf Tage danach?
»Nun sag uns doch endlich, was Dein Edgar mit Dir gemacht hat, Gudrun!« begehrte eine stattliche Mitfünfzigerin ungeduldig zu wissen.
»Ja, was hat er denn so Unmögliches fertiggebracht?« hallte es im Chor durch den Garten.
»Edgar«, rief seine Frau mit pathetischer Stimme, »Edgar hat ein Buch gelesen!«
»Was hat er?« riefen ein paar ungläubige Stimmen, »Wir hören wohl nicht recht?«
»Jawohl!« rief Gudrun triumphierend, »Er hat es getan, er hat ein Buch gelesen! Das erste komplette Buch in seinem bisherigen Leben, er hat es mir hoch und heilig geschworen. Und damit Ihr es wisst, Edgar hat nicht irgendein Fachbuch gelesen, nicht irgendeinen technischen Quatsch, nein er hat ein richtiges Buch gelesen, einen ganzen Roman, von Anfang bis zum Ende!«

Nach diesen letzten Worten brach unter den Gästen ein mittlerer Tumult aus. Alle redeten durcheinander. Vielen der männlichen Gäste wollte es nicht in den Sinn, dass Edgar für diese beachtliche Leistung, das Lesen eines einzigen Buches in fünfzig Jahren, eine derartige Ehrung widerfuhr.
»Verdammt noch mal!« entrüstete sich ein grau bärtiger Endfünfziger, »Ich habe schon drei Bücher gelesen, seit ich verheiratet bin, und mein Weib hat es noch nicht einmal gemerkt!«
Seine Frau, die neben ihm saß, sagte nichts dazu, sondern strafte ihn mit eisigen Blicken; ob sie das wegen des barschen Ausdruckes tat, oder weil ihr Mann ihr die drei Bücher verheimlicht hatte, war nicht auszumachen. Ein Zweiter verkündete lautstark, mit überlegenem Lächeln, gar vier Bücher schon gelesen zu haben, seit seiner Eheschließung vor knapp dreißig Jahren; wenn man so etwas nicht als wahres Bücher- verschlingen bezeichnen könnte?
Und so fuhren sie fort, die Herren der Schöpfung, in der darstellerischen Aufzählung ihrer Lesefreudigkeit, bis Edgar, der Gastgeber, der sich mittlerweile zu einer kleinen Bierzapfanlage im hinteren Teil des Gartens begeben hatte, dieser inflationsartigen Belesenheit ein Ende machte.

»Freibier für Alle!« rief er der Runde zu, und die männlichen Leser vor dem Herrn folgten dieser Aufforderung auf dem Fuße und umringten den Bierstand.

Nicht so die Damen! Sie blieben demonstrativ auf ihren Stühlen sitzen, an der langen Tischreihe, und geiferten weiter.
»Dein Robert«, schrie die stattliche Mittfünfzigerin mit hochrotem Kopf der ihr gegenüber sitzenden Blondine in den Vierzigern zu, »der kann doch gar nicht richtig lesen! Wenn überhaupt, dann nur Gebrauchsanweisungen!«
»Aha!« giftete die so Angesprochene zurück, »aber dein Norbert kommt immer zu meinem Mann, wenn er mal einen Nagel in die Wand schlagen soll!«

Während sich die Männer schnell wieder erholt hatten von diesem überraschenden Kulturschock und nicht mehr an ihre zahlreichen Bücher dachten, indem sie umso eifriger dem Alkohol zusprachen, fuhren die Vertreterinnen des schwachen Geschlechtes fort, die Leselüste der eigenen Ehemänner herauszustellen und die der anderen gering zu schätzen.

Gudrun, die Gastgeberin, entfernte sich unbemerkt von der Tafelrunde in Richtung Terrasse; im Vorübergehen warf sie ihrem Mann einen schmachtenden Blick zu und verschwand im Haus. Edgar folgte ihr unauffällig. Im Wohnzimmer fielen sie sich in die Arme.
»Schatz, mach mich glücklich, bitte!« strahlte Gudrun und legte sich auf die Couch.
Edgar nahm ein Buch aus dem Regal, sein zweites, und begann, seiner Frau daraus vorzulesen.