Duisburg, April 2015 - An einem Tag im
November - im Gegensatz zu diesem oftmals als grau
bezeichneten Monat herrschte schönes Wetter, fast schon zu
warm für diese Jahreszeit - besuchten meine Frau und ich
einen Friedhof. Dieses taten wir allerdings nicht am ersten
Tag des Monats, wie man sofort geneigt wäre zu vermuten,
weil an solch einem Tag alle Normalbürger die Friedhöfe
aufsuchen, um den sterblichen Überresten ihrer lieben
Verwandten und Freunden einen Besuch abzustatten, nein, es
war ein ganz gewöhnlicher Samstag morgen, gegen zehn Uhr.
Der Vorteil, an so einem Tag den Friedhof aufzusuchen,
besteht darin, dass er nicht so übervölkert ist, mit
lebenden Personen, wie an Allerheiligen.
Auch hätte
sich das, was uns an jenem Tag dort widerfuhr, sicher nicht
am ersten November so zugetragen. Als wir den Hauptweg
betraten und uns gemächlichen Schrittes in Richtung der
Grabstätte, die wir aufsuchen wollten, bewegten, machten wir
eine Entdeckung, die uns arg in Erstaunen versetzte.
Was war das denn? Wir trauten unseren Augen kaum. Ein
Jogger! Ein Jogger, in entsprechendem Outfit, kurze
Hose, Turnschuhe und Leibchen, hastete über den Friedhof.
Wir waren dermaßen verdutzt über diese außergewöhnliche
Erscheinung an einem solchen Ort, dass wir erst spät, zu
spät, so dass er es nicht mehr hören konnte, reagierten.
»Wohin so eilig, guter Mann?« rief ich ihm hinterher,
aber der Zuruf erreichte ihn nicht mehr.
Nachdem sich
die erste Verwunderung gelegt hatte, stellten wir
Überlegungen an, was den Mann veranlasst haben könnte, in
dieser Art über den Friedhof zu jagen. Wir waren es gewohnt,
von unseren bisherigen Anlässen, dass die Besucher im
Bewusstsein angemessener Pietät die Stätte ewiger Ruhe
aufsuchen, gemessenen Schrittes die markierten Wege einher
schreiten und in würdevoller Haltung vor den Grabstätten
verweilen. An diesem Ort pflegt man grundsätzlich alles
in ruhiger, bedächtiger Form durchzuführen, Eile ist hier
vollkommen fehl am Platze; warum auch, man hat ja Zeit, den
Bewohnern hier fehlt es ja auch nicht an derselben.
Warum also diese Hast des Joggers? Hatte er Angst, einen
Termin zu verpassen? Auf dem Friedhof? Wollte er zu einer
Beerdigung? In diesem Aufzug? Wir fanden keine Antwort
auf unsere Fragen und wollten das Thema schon abhaken, als
aus einem Seitengang plötzlich der Jogger wieder
hervorschoss und in den Hauptweg einbog, direkt auf uns zu.
Jetzt hatte dieses merkwürdige Gebaren doch unser lebhaftes
Interesse geweckt.
Wir wollten dem Mann gerade in den
Weg treten, um ihn nach dem Grund für sein ungewöhnliches
Verhalten an diesem geweihten Ort zu befragen, als er
seinerseits den Lauf verlangsamte und keuchend vor
Erschöpfung näher kam. »Können Sie mir helfen?«, sprach
er uns an. »Ich kenne mich hier nicht so gut aus. Ich suche
eine bestimmte Grabstätte, in der Reihe C« . Diese Angabe
konnten wir nicht machen, aber wir versuchten, ihm
weiterzuhelfen. »Das wissen wir auch nicht«, gab ich
zurück, »aber dort an der Kapelle befindet sich ein
Übersichtsplan, auf dem alle Wege und alle Grabstätten
verzeichnet sind.« Die Augen des Joggers leuchteten vor
Freude auf. Erst jetzt fiel uns etwas auf, was wir vorher
nicht bemerkt hatten, als er beim ersten Mal an uns vorbei
geflitzt war. Es handelte sich nicht um einen jungen Mann,
wie wir zuerst vermutet hatten, sondern um einen älteren
Herrn, fast schon ein jung gebliebener sportlicher Greis.
Ich bewunderte seine Kondition.
»Eine Bitte hätte ich
noch«, sagte der greisenhafte Jogger, »könnten Sie mich
vielleicht begleiten, zu diesem Lageplan, ich habe meine
Brille nicht dabei. Sie müssen wissen, ich bin extrem
kurzsichtig.« Nun gut, dachten wir uns, machen wir dem
merkwürdigen Kauz das Vergnügen. Schon spurtete der Alte
los, in die Richtung, die wir ihm genannt hatten; auch wir
mussten in einen Trab schritt fallen, um mithalten zu
können. So joggten wir zu dritt bis zu der kleinen Kapelle.
Wenn mir jemand am Morgen desselben Tages gesagt hätte, dass
ich einmal im Laufschritt über einen Friedhof jagen würde,
mit meiner besseren Hälfte an meiner Seite, ich hätte ihn
für verrückt erklärt. Gemeinsam mit meiner Frau suchte
ich auf dem Plan nach der besagten Adresse, die sich
als gar nicht weit entfernt herausstellte, und beschrieb dem
Mann den direkten Weg. Er bedankte sich überschwänglich.
Eine Frage noch«, bat ich, als er sich in Bewegung
setzen wollte, »warum haben Sie es denn so eilig? Wollen Sie
zu einer Beerdigung?« »Und ob, mein Freund, und ob. Zu
einer Beerdigung, und ich bin dort die Hauptperson, ohne
mich läuft da nichts ab.« Schon düste er wieder los.
Nun aber waren wir mehr als wissbegierig geworden über
ein solch unglaubliches Verhalten, setzten unsererseits zum
Spurt an und verfolgten den Jogger. Wir kamen gerade
rechtzeitig, um zu sehen, wie der Mann zu einer größeren
Gruppe von Trauergästen stieß, die dort auf ihn zu warten
schien.
»Jetzt kommst du endlich«, hörten wir
vereinzelte Rufe, »das wurde aber auch Zeit.« Der Mann
murmelte halblaut eine Entschuldigung. Dann hüpfte er zu
unserem Entsetzen, aber unter lautem Beifall der anwesenden
Trauernden in einen bereitstehenden offenen Sarg. Bevor der
Deckel über ihm geschlossen wurde, rief er uns beiden,
meiner Frau und mir zu: »Vielen Dank noch einmal, und see
you later.«
Anschließend wurde der Sarg zu Grabe
gelassen; hierzu intonierte die Trauergemeinde das Lied
for he`s a jolly good fellow, welches dann in der
dritten Strophe umgewandelt wurde zu for he was a jolly
good fellow.
Mein Weib und ich, wir blickten uns
unsicher an. »Was meinte der mit later?« war
unser gemeinsamer Gedanke.
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