Die Geschichte des Stadtteils Neudorf
Für die heutigen Neudorfer - erzählt von Franz Bültjes
Im Jahre 1970 kann Neudorf auf ein
zweihundertjähriges Bestehen zurückblicken. Neudorf ist also
erheblich jünger, als der benachbarte Stadtteil Duissern, der
überhaupt der älteste Teil der Stadt Duisburg ist, von ihm aus
ist die Stadt Duisburg erst geworden.
Und doch hat unser Stadtteil Neudorf
eine reiche Geschichte.
Noch vor
zweihundert Jahren lag hier innerhalb der Landwehr ein großes
Wald- und Heidegebiet. Die Landwehr zog sich ungefähr vom
Hochfelder Bahnhof über den Musfeldhof und den Grunewald, an der
Ostseite der Grabenstraße bis zur Mülheimer Straße hin. Das
Kuhtor war von Neudorf aus der Zugang in das Stadtinnere, das
von Stadtmauern umgeben war. Von der Mülheimer Straße lief die
Landwehr die Schweizer Straße entlang am Schnabelhuck vorbei zur
Ruhr.
Die Landwehr hatte den Zweck, die im
Wald lebenden wilden Tiere, namentlich auch die wilden Pferde,
aus der Feldmark fernzuhalten. So war auch die obere Aue, in der
der Kolkmanns- und Monningshof lagen, durch eine Landwehr vom
Walde abgetrennt.
In früheren Zeiten zog sich zwischen
dem Dickelsbach und dem Rhein durch Hochfeld eine Landwehr hin,
die nicht weit vom Musfeldhof beginnend bis in die Gegend der
jetzigen Rheinfront lag, um auch dort das mit Wald bedeckte
Rheinufer von dem Ackerland zu trennen.
Dieser Wald war so reich mit Bäumen
bewachsen, daß die Franzosen im siebenjährigen Krieg daraus
einige tausend Eichenbäume nach Düsseldorf holten. Diese Eichen
lieferten aber auch die Mast für 3000 bis 4000 Schweine.
Nach dem siebenjährigen Kriege war
Preußen fast an den Rand des Ruins. Der Krieg hatte in Preußen
unheilvolle Spuren hinterlassen, und Friedrich der Große ging
nun daran, seinem Land wieder Ruhe und Frieden zu schaffen! „Die
Ruhe des Friedens“, so schrieb der große König nach Beendigung
des siebenjährigen Krieges selbst, „war für Preußen nötiger als
für die übrigen kriegführenden Staaten, weil es fast allein die
Last des Krieges getragen. Es glich einem Menschen, der von
Wunden zerrissen, von Blutverlust erschöpft und in Gefahr war,
unter dem Druck seiner Leiden zu erliegen, der Staat bedurfte
einer Leitung, die ihm Erholung gab, stärkender Mittel, um ihm
eine Spannkraft wiederzugeben, Balsam, um seine Wunden zu
heilen. Der Adel war erschöpft, die kleinen Leute ruiniert, eine
Menge von Ortschaften verbrannt, viele Städte zerstört, eine
vollkommene Anarchie hatte die Ordnung der Polizei und Regierung
umgeworfen, die Finanzen waren in größter Verwirrung, mit einem
Worte: die allgemeine Verwüstung was groß.“
Was der große König hier ganz offen
schreibt, schildert mit wenigen Worten die allgemeine Situation
im alten Preußenland. Dabei hatte das platte Land am meisten
unter der Geißel des Krieges gelitten. Da der König sich
gezwungen sah, die Lücken in seinem Heer durch Knaben von 14 und
15 Jahren aufzufüllen, fehlte es an Arbeitskräften. Auf dem
Lande betrieben nur noch Frauen und Greise den Feld- und
Ackerbau. Mit 2½ Millionen Einwohnern hatte Friedrich seine
Regierung angetreten, ½ Million, also 1/5 davon, hatte der
siebenjährige Krieg verschlungen. Darum war es die größte Sorge
des Königs, sein Land wieder zu bevölkern.
Im Archiv der Stadt Duisburg befinden
sich viele Urkunden, die Auskunft darüber geben, wie Kolonisten
nach Duisburg kamen. Bei der Durchsicht dieser Urkunden fanden
wir ein Reskript vom 24. Dezember 1767, in dem der Magistrat der
Stadt Duisburg von der Königlichen Kriegs- und Domänenkammer in
Kleve daran erinnert wird, Unternehmen ausfindig zu machen, wie
das Gebiet von ca. 60 Morgen Land auf der Duisburger Heide urbar
gemacht werden kann.
Unter dem 21. August 1769
wird ein eingehender Bericht darüber angefordert, wie das
Unternehmen ausgeführt werden kann. Es sollten Unternehmer
gesucht werden, die das Unternehmen durchführen könnten.
„Bei weiterer Widerspenstigkeit (der
Waldbeerbten) solle höheren Orts Bestrafung beantragt werden. Es
solle unverzüglich an die Kolonisierung herangetreten werden.“
Unter dem 5. Oktober wird
angekündigt, daß vom Oberrhein die Kolonisten kommen würden. In
Duissern hatten sich um die gleiche Zeit der Schmied Heinrich
Portmann und der Böhme Peter Eter angesiedelt. In einer späteren
Schrift wird dann aber erklärt, daß Eter nicht aus Böhmen
stamme, sondern aus Bayern.
Im
Stadtarchiv befindet sich eine Urkunde, datiert.
Berlin, 26. Febr. 1770, und vom König
Friedrich II. selbst unterzeichnet, in der es u.a. heißt:
„So haben höchstderselbe Sr. Königl.
Majestät zu vörderst versichert, der Deputation, die sich in
hiesige Lande begeben wolle . . . ihnen höchst dieselbe
ihren insgesamt dieserhalben dero Huld und Königlichen Schutzes
mit dem Beyfügen, daß sie als getreue Unterthanen gut
aufgenommen werden und in allen billigen Dingen Hülfe und
Unterstützung finden sollen.“
Es hat aber der nachdrücklichen
Belehrung und Aufforderung der Königl. Kriegs- und
Domänen-Kammer in Kleve bedurft, um den Magistrat auf den
ernsten Willen des Königs aufmerksam zu machen, daß man die
Kolonisten gut aufnehmen und sie weitgehend unterstützen müsse.
So wird der Magistrat der Stadt Duisburg unter dem
15. April 1770 darauf hingewiesen, daß man solche
Kolonisten nicht gut behandelt und den Königlichen Willen nicht
respektiert habe. Der Magistrat wird daher angewiesen, die
Kolonisten sofort in Arbeit zu setzen, damit sie etwas
verdienen. Es waren nämlich drei Kolonisten nach kurzem
Aufenthalt in Duisburg wieder abgereist. Der damalige
Bürgermeister Wintgens bemerkt auf diesem Schreiben, daß den
drei abgegangenen Kolonisten es nicht an Arbeit gefehlt habe.
Man wolle künftig es aber an nichts ermangeln lassen, um die
Kolonisten in Duisburg zu behalten.
Am 30. Mai des Jahres 1770 kamen dann
14 Darmstädtische Familien in Duisburg an. Es wird hierbei
bemerkt, daß einer derselben, Johs. Roth, gleich gestorben sei.
Die Kolonisten wurden vorläufig im
Ratsdorf Duissern untergebracht, einige in der Stadt selbst. Die
„Mietsherren“ erhielten das Schlafgeld von dem Magistrat
erstattet. Sie wurden sogleich angewiesen, die Heide in Neudorf
urbar zu machen, mussten sich ein Haus bauen (wozu ihnen Holz
aus dem Duisburger Walde zur Verfügung gestellt wurde), sie
mussten ihr Alter nachweisen und ihre Vermögensverhältnisse
klarlegen. Es wird dann noch vermerkt, daß 66 Personen vom 1.
Juni 1770 bis Jakobi 1771 (d. i. 1. Mai) täglich 2 ggr. oder 5
stbr. Jahresgeld bzw. Baugeld erhalten sollen. „Den Fleißigen
wird Geld zu einer Kuh gegeben.“
Die Kolonisten mußten einen guten
Leumund haben. Müßiggänger und Trunkenbolde wurden abgewiesen.
Als im Jahre 1770 die Kolonisten sich
„op de Heid“ ansiedelten, war Duisburg noch eine kleine Stadt
mit noch nicht 4000 Einwohnern, die vorwiegend Ackerbau
betrieben. Daneben versprach die Börtschiffahrt einen
bescheidenen Wohlstand für die Stadt.
Aus den im Stadtarchiv befindlichen
Urkunden ergibt sich, daß es nicht leicht war, die Kolonisten
nach dem Willen des Königs auf der Heide in Duisburg
anzusiedeln. Es gab erhebliche Widerstände zu überwinden
gegenüber den Protesten der Waldbeerbten, die durch die
Kolonisierung sich in ihren alterworbenen Rechten geschmälert
fühlten. Aber von Wesel aus ergingen immer wieder die bestimmten
Anordnungen an den Magistrat der Stadt, und dieser tat dann das,
was ihm sehr klar befohlen wurde. Wie sich die Sache dann
entwickelte, das schildert in seiner Chronik „Versuch einer
Chronik der Stadt Duisburg am Rhein“ der Verfasser, Dr. August
Christian Vorheck, seines Amtes „ordentlicher Professor der
Geschichte und Beredsamkeit bei der Duisburger Universität“ im
Jahre 1800:
„Die Heide, die vor Duisburg bisher
wüste gelegen hatte, wurde ums Jahr 1770 durch eine Kolonie
urbar gemacht, welche die Königl. Kriegs- und Domänen-Kammer auf
königlichen Befehl darauf anlegen ließ. Die Anbauer kamen aus
dem Reiche, erhielten eine gewisse Morgenzahl Land angewiesen
und fünfzehn Freijahre, die nach ihrem Ablaufe erst auf fünf,
dann noch auf drei verlängert wurden. Zwölf Kolonistenfamilien
(die Urkunden selbst sprechen von 14 Kolonisten) wohnen seitdem
(1800!) noch auf dieser Heide in dem Dörfchen Neudorf, die ihre
Äcker noch zehntfrei besitzen, und seit Ablauf aller Freijahre
nur ein geringes Tobaks- und Werbegeld und eine kleine Abgabe
von ihrem Acker an die Stadt entrichten.“
35 Stüber je Morgen waren halb an die
Stadt, halb an die Waldkasse zu zahlen.
Wer waren nun diese
Kolonistenfamilien, die im Jahre 1770 nach Neudorf kamen? und
woher kamen sie?
Die Kolonisten kamen aus Hessen und
der Pfalz. Nach Professor Averdunk hatten mehrere von ihnen als
Lutheraner wegen ihrer Religions-Ausübung die bisherige Heimat
verlassen müssen. (Aus den Unterlagen im Archiv ergibt sich
aber, daß einige auch katholisch waren.) Das klingt auch aus den
Versen heraus, die der damalige Kandidat der Theologie, J. H. E.
Nonne (übrigens auch der Dichter des Liedes „Flamme empor“), in
seinen poetischen „Wanderungen durch Duisburgs Fluren“, die im
Jahre 1808 erschienen sind, niederschrieb:
„Da glänzt ein friedlich Dach; hier wieder eins.
Ich eil hinzu und sieh ein kleines Dorf
Begrüßet mich. Hier siedelte sich einst
Ein kleines Häuflein guter Menschen an.
Vertrieben aus der heimatlichen Flur
Fand hier ihr Herz ein zweites Vaterland.
(Des Rheinlands) Himmel lächelt ihnen zu
Und tröstet sie, wenn die Erinnerung
Ans Vaterland, den heimatlichen Herd,
Und alle Freuden ihrer Jugendzeit
Vor ihre Seele zaubert, wenn ihr Herz
In der Vergangenheit Gefilde blickt,
Und eine Träne in dem Auge bebt.
Gerührt nahm Preußens großer Friedrich
Sie unter seinem mächtigen Zepter auf,
Hier fanden sie den väterlichen Herd
Die süße Heimat wieder und die Flur,
Auf der sie einst der Kindheit Traum geträumt.
Sie siedelten sich an und nannten dann
Den kleinen Weiler, den sie sich erbaut,
Dem großen Mann zu Ehren Friedrichsdorf.
Das war also die Gründung von
Friedrichsdorf, wie der Stadtteil Neudorf zuerst genannt wurde.
Und wie hießen die ersten Kolonisten? Auch ihre Namen sind uns
erhalten geblieben, die am 30. Mai 1770 sich auf der Heide
ansiedelten. Es waren:
Valentin Fischer, Philipp Langen,
Niklas und Peter Kautzmann, Hermann Friedrichs, Johann
Müller, Johann Becker,
Barthel Ochs, Peter Träger (oder Dräger),
Joh. Georg Tilemann (Tillmann?), Christoph Schneider
und Philipp Delp.
Im Jahre 1778 kam aus der Grafschaft
Moers ein Kolonist mit Namen Bütefür hinzu, der den Anteil des
Kolonisten Träger übernommen hatte.
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holländische Morgen Heidegut wurden den Kolonisten zugewiesen (1
holl. Morgen gleich 600 holl. Ruten oder 625 rheinische Ruten.
Ein Morgen umfaßte ursprünglich soviel Ackerland, wie man mit
einem Gespann an einem Morgen umzupflügen vermochte), die sie
unter sich verteilten, so daß 6 je ungefähr 6 Morgen, 6 je drei
Morgen erhielten. Jeder Kolonist mußte auf seinem Land nun ein
Haus erbauen, den Acker mußte er urbar machen und der wilden
Pferde wegen mit Wall und Graben umgeben.
Die Kolonisten „op de Heid“ erwiesen
sich als fleißige und tüchtige Menschen, die der gesamten Stadt
zur Ehre gereichten. Schon nach drei Jahren hatten die Ansiedler
4 Pferde, 4 Ochsen, 25 Kühe und 16 Rinder. 58 Morgen waren schon
in Ackerland verwandelt und mit Roggen, Kartoffeln und
Buchweizen bestellt. Da auch später sich Einheimische zu den
fremden Siedlern gesellten, zählte die Siedlung im Jahre 1798
schon 146 Seelen. Im Jahre 1799 erhielt sie den Namen Neudorf.
Mit dem Wachsen der Stadt Duisburg
wuchs auch der Stadtteil Neudorf immer mit. Aus den 4.000
Einwohnern der Stadt Duisburg im Jahre 1770 wurden im Jahre 1828
schon über 7.000, 1863 waren es schon 20.150, 1870 bereits
28.685. Als in diesem Jahre die Kolonie Neudorf ihr
hundertjähriges Bestehen feierte – genau vier Wochen vor
Ausbruch des deutsch-französischen Krieges – da feierte die
ganze Stadt Duisburg mit. Solch hohes Ansehen hatten sich die
Ansiedler „Op de Heid“ bereits in der ganzen Stadt erworben.
Das ehemalige Bauerndorf Neudorf wuchs immer mehr und
immer näher an die Stadt Duisburg heran. Heute ist es mit rund
44.000 Einwohnern fast ein reines Wohngebiet der Gesamtstadt
Duisburg und diesseits der Ruhr der größte Stadtteil mit
bedeutsamen Bauten.
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